Freitag, 10. Mai 2024

Konflikt mit Serbien
Warum die Lage im Kosovo wieder eskaliert

Schon lange ist der Norden des Kosovo an der Grenze zu Serbien eine unruhige Region. Nach jüngsten Ausschreitungen verstärkt die NATO nun ihre KFOR-Truppe im Kosovo. Worum geht es bei dem Konflikt zwischen Serbien und dem Kosovo?

02.06.2023
    Ein kosovarischer vermummter Polizist mit Helm und Maschinenpistole.
    Angespannte Lage: Im Kosovo kam es zu Unruhen zwischen Serben und Sicherheitskräften (picture alliance / AA / Erkin Keci)
    Die von Spannungen geprägte Lage im Nordkosovo spitzt sich wieder zu. Als nach einer Kommunalwahl Serben die Stadtverwaltung von Zvečan im Norden des Kosovo stürmten, kam es zu gewaltvollen Auseinandersetzungen mit der internationalen KFOR-Truppe. Die Sorge vor einer Eskalation auf dem Balkan wächst. Doch was steckt hinter den Ausschreitungen?

    Was passiert derzeit im Kosovo?

    Hintergrund der jüngsten Ausschreitungen sind die Kommunalwahlen, die Ende April im Kosovo stattgefunden haben. Im November 2022 hatten Hunderte Polizisten, Richter und Beamte aus dem Nordkosovo, aber auch Abgeordnete und Bürgermeister der serbischen Gemeinden im Norden ihren Dienst quittiert. Sie fordern seit Jahren mehr Autonomie in den Gemeinden, in denen sie mehrheitlich leben. Doch das ist bisher nicht vollständig umgesetzt worden. Dabei werden laut der kosovarischen Außenministerin Donika Gervalla-Schwarz den Serben im Kosovo bereits Minderheitenrechte zugesichert. "Die Minderheit der Serben hat per Verfassung auch das Recht an der Regierung beteiligt zu sein, unabhängig vom Wahlausgang. Das ist einmalig", sagt sie im Dlf.
    Die mehrheitlich ethnisch serbische Bevölkerung im Norden hatte die Kommunalwahlen größtenteils boykottiert. Das hatte zur Folge, dass Kosovo-Albaner mit sehr wenigen Stimmen zu Bürgermeistern gewählt wurden in Gegenden, die mehrheitlich von Serben bewohnt werden.
    Diese Bürgermeister wollten nun ihre Ämter antreten — ungeachtet der Kritik, die auch von der US-Botschaft in Pristina kam. Spezialkräfte der kosovarischen Polizei und die NATO-Truppe KFOR mussten die neugewählten Bürgermeister vor serbischen Demonstranten schützen.
    Im Ort Zvečan war es zu schweren Zusammenstößen zwischen Serben und KFOR-Soldaten mit zahlreichen Verletzten gekommen. Die KFOR-Truppe soll jetzt verstärkt werden. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg zufolge sollen 700 zusätzliche Soldaten eingesetzt werden. Josip Juratovic (SPD), Vorsitzender der Parlamentariergruppe Südosteuropa, begrüßte dieses Vorhaben der NATO. Eine Lösung der angespannten Lage ist vorerst nicht in Sicht: "Der Balkan sei nach wie vor anfällig für Unruhen", so Juratovic. Das hätten die jüngsten Gewaltausbrüche im Kosovo deutlich gezeigt.
    Kosovarische Serben versammeln sich vor einem öffentlichen gebäude in Zvecan und halten serbische Fahnen hoch.
    Nach der Kommunalwahl im Kosovo haben Serben gegen die albanischen Bürgermeister protestiert. (picture alliance / AA / Erkin Keci)
    Auf Seiten der Serben wird derweil der Rücktritt der Bürgermeister und der Abzug der kosovarischen Spezialpolizei aus dem Norden des Kosovos gefordert. Es sieht gerade nicht danach aus, dass die kosovarische Regierung unter Albin Kurti darauf eingeht. Solange Belgrad weiterhin zum Boykott der Wahlen aufrufe, würden auch Neuwahlen nichts bringen, sagte die kosovarische Außenministerin Gervalla-Schwarz. Derweil machen sich Politiker aus Serbien und dem Kosovo gegenseitige Vorwürfe wegen der gewaltvollen Eskalation.

    Was war der Eskalation vorausgegangen?

    Tatsächlich geht es bei den Ausschreitungen auch um die Frage, ob es Serben und Albaner im Kosovo schaffen, dauerhaft friedlich zusammenzuleben: Serbien hat die Unabhängigkeit des Kosovos bis heute nicht anerkannt. Ein Streitpunkt ist dabei der Status der mehrheitlich von Serben bewohnten Gemeinden im Kosovo.
    Seit Jahren wollen die serbischen Gemeinden im Norden – und serbische Dörfer im Süden – einen "Gemeindeverbund", bestehend aus zehn Gemeinden, mit Parlament und eigener Exekutive bilden. Der Gemeindeverbund ist Teil der Brüsseler Übereinkunft zwischen Belgrad und Pristina aus dem Jahr 2013. Rund 120.000 Serben leben im Kosovo. Für den serbischen Präsidenten Aleksandar Vučić ist die Frage der serbischen Gemeindeverwaltung eine der größten Hürden bei den weiteren Verhandlungen um eine Annäherung an den Kosovo.
    Die albanisch dominierte Regierung in Pristina hatte dem Vorhaben eines "Gemeindeverbundes" 2013 eigentlich zugestimmt. Doch der jetzige Premier Albin Kurti will dies nicht vollständig umsetzen. Er fürchtet eine Parallelregierung, die die Mehrheitsverhältnisse im Land möglicherweise ausblenden könnte. Pristina wirft Belgrad zudem vor, die eigene serbische Minderheit zu manipulieren und die Lage absichtlich zu destabilisieren.
    „Das Problem ist, dass dieses Abkommen nicht spezifisch beschreibt, wie das gestaltet werden soll. Auf kosovarischer Seite sagt man immer: Das kann man ja als eine Art Verband machen, der ganz informell funktioniert, quasi als NGO, während man auf serbischer Seite sagt, das muss eine verfassungsrechtlich verankerte Institution sein", sagt Florian Bieber, Professor für Geschichte und Politik Südosteuropas von der Universität Graz. Es gehe darum, wie mächtig so ein serbischer Gemeindeverband werden darf.
    Marie-Janine Calic, Professorin für Ost- und Südosteuropäische Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, bezeichnet Serbiens Wunsch, sich im Nordkosovo selbst zu verwalten, zwar als legitim. "Es ist ist auf der anderen Seite aber auch sehr verständlich, das die Kosovo-Regierung sehr große Sorgen hat, dass diese Rechte missbraucht werden könnten und im Kosovo eine Art Bosnien-Szenario entstehen könnte, sodass sich diese Nordregion dann verselbstständigt und zum Zerfall dieses ohnehin sehr kleinen Staates Kosovo führen könnte", sagt sie.
    Serbiens Präsident Aleksandar Vučić hat großen Einfluss auf die Serben im Kosovo. In Serbien jedoch steht er derzeit innenpolitisch unter Druck. Nach zwei Amokläufen mit zahlreichen Toten demonstrieren Zehntausende gegen den autoritär regierenden Präsidenten. Gleichzeitig kann Vučić sich der Loyalität der im Kosovo lebenden Serben sicher sein.

    Wie ist das Verhältnis zwischen Kosovo und Serbien?

    Das Kosovo hat eine mehrheitlich ethnisch-albanischen Bevölkerung. Das 1,8-Millionen-Einwohner-Land Kosovo hatte "sich 2008 unilateral für unabhängig erklärt, was Serbien bis heute nicht anerkennt", sagt Historikerin Calic. Das hat auch historische Gründe, denn das Kosovo spielt eine wichtige Rolle in der Gründungserzählung der serbischen Nation.
    In den Jahren 1998 und 1999 spitzte sich die Auseinandersetzung zwischen der albanischen Mehrheitsbevölkerung im Kosovo und der Regierung in Belgrad zu. Am 24. März 1999 griff die NATO die Bundesrepublik Jugoslawien mit dem Ziel an, die Kämpfe zu beenden. Laut UN-Angaben wurden mehr als 10.000 Kosovo-Albaner getötet und bis zu 3.000 Serben. Dass Kriegsverbrechen bis heute nur unzureichend aufgearbeitet wurden, belaste das Verhältnis beider Länder zusätzlich, so Calic.
    Die von der NATO geführte KFOR wurde 1999 von den UN schließlich damit beauftragt, für die Sicherheit in Kosovo zu sorgen. Derzeit leisten etwa 3.800 Soldatinnen und Soldaten, davon rund 70 aus Deutschland, dort ihren Dienst. 700 weitere Soldaten aus verschiedenen Ländern sollen die Truppe jetzt verstärken.
    Mehr als 100 Länder, auch Deutschland, haben die Unabhängigkeit des Kosovo mittlerweile anerkannt. Andere, darunter Russland und China, aber auch fünf EU-Länder wie Spanien, Griechenland, Zypern, die Slowakei und Rumänien, machen das bis heute nicht.

    Wie reagieren die EU, die USA, China und Russland?

    Erst kürzlich hatten sich Kosovo und Serbien unter Vermittlung der EU darauf verständigt, ihre Beziehungen zu normalisieren. Davon scheinen sie aktuell allerdings weit entfernt zu sein. Die EU verurteilte die Ausschreitungen, zudem kritisierten Vertreter von Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien und der USA, dass die kosovarische Regierung unter Kurti darauf besteht, die Bürgermeister in die Ämter zu lassen.
    "Gewalttaten gegen Bürger, gegen Medien, gegen Strafverfolgungsbehörden und die KFOR-Truppen sind absolut inakzeptabel", sagte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell. Sie führten "zu einer sehr gefährlichen Situation". Beide Parteien müssten unverzüglich alles dafür tun, um zu deeskalieren und wieder für Ruhe zu sorgen. Borrell forderte die kosovarischen Behörden auf, die Polizeieinsätze einzustellen. Von den Serben forderte er, sich zurückzuziehen. "Wir haben schon jetzt zu viel Gewalt in Europa. Wir können uns keinen weiteren Konflikt leisten", sagte er.
    Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron wollen im Konflikt im Kosovo vermitteln. Macron hatte zuvor den kosovarischen Behörden die Schuld an der Eskalation gegeben, da sie die Kommunalwahlen abgehalten hatten, obwohl klar gewesen sei, dass die serbische Mehrheit nicht teilnehmen würde. US-Außenminister Antony Blinken rief alle Seiten zur Mäßigung auf, nachdem die USA das Vorgehen Pristinas ebenfalls kritisiert hatten.
    China und Russland haben derweil einseitig Partei für Serbien ergriffen. China unterstütze Serbiens Bemühungen, die "Souveränität und territoriale Integrität" zu schützen, teilte die Sprecherin des Außenministeriums in Peking, Mao Ning, laut der Nachrichtenagentur AP mit. „Wir unterstützen Serbien und die Serben bedingungslos“, sagte der Sprecher des russischen Präsidialamtes Dmitri Peskow.

    dh/Silke Hahne/Oliver Soos/Clemens Verenskotte/, dpa, AP, AFP