«Ich kenne Leute, die weinen, wenn sie einen neuen Kühlschrank bekommen»: Für Elisabeth Bronfen ist Eindeutigkeit eine Fiktion, der man nicht vertrauen darf

Dreissig Jahre lang hat die Anglistin Elisabeth Bronfen an der Universität Zürich gelehrt. Jetzt hält sie ihre Abschiedsvorlesung. Ein Gespräch über Kleopatra, Computer und darüber, dass Pasta und Parmesan so etwas wie Heimat sind.

Thomas Ribi 5 min
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«Wir alle leben zwischen verschiedenen Kulturen»: Elisabeth Bronfen sucht die Brüche, wo andere Einheit beschwören.

«Wir alle leben zwischen verschiedenen Kulturen»: Elisabeth Bronfen sucht die Brüche, wo andere Einheit beschwören.

Ayşe Yavaş

Ich bin zu früh, ganz offensichtlich habe ich mich geirrt, wir sind erst eine Stunde später verabredet. Ein Fauxpas, aber Elisabeth Bronfen ist es gerade recht so. Sie bittet mich herein in ihre Wohnung: «Kommen Sie, kommen Sie!» Ein Jugendstilhaus im Zürcher Universitätsquartier. Stuckdecken, gepflegte Parkettböden, im Gang und im Arbeitszimmer stapeln sich Bücher. Natürlich störe ich, sie war gerade am Schreiben (über Shakespeare), in der Küche ist eine Handwerkerin zugange. Sie darf auf keinen Fall den Zug verpassen, am Nachmittag hat sie noch einen Termin in Bern. Und am Abend kocht sie für Freunde.

Keine freie Minute, eigentlich. Elisabeth Bronfen steckt mitten im Semester, die Agenda ist voll, in ein paar Tagen hält sie ihre Abschiedsvorlesung an der Universität (natürlich über Shakespeare). Aber sie nimmt sich Zeit. Wir setzen uns an den Tisch in ihrem Esszimmer, und schon bevor wir sitzen, sind wir in einer Diskussion. Über Kleopatra, eine von Bronfens Lieblingsgestalten, die seit ein paar Wochen wieder einmal in den Schlagzeilen ist.

Wie ist das nun, Frau Bronfen, war die antike Königin so schwarz, wie die Netflix-Serie behauptet, die gerade angelaufen ist? Elisabeth Bronfen zuckt mit den Schultern: «Wer Kleopatra ist, wissen wir nicht. Natürlich ist sie eine historische Gestalt. Aber sie ist auch zu einer mythischen Figur geworden.» Schon im 19. Jahrhundert sei sie von Malern als Schwarze dargestellt worden. «Und sie hat als Schwarze ein interessantes kulturelles Nachleben. Das ist das Entscheidende.»

Wem gehört die Geschichte?

Am Ende gehe es um die Frage, wem die Geschichte gehöre, sagt Bronfen. Und zu welcher Geschichte Kleopatra gehöre: zur römischen, zur ägyptischen oder zur Geschichte Afrikas. Europäische und afrikanische Historikerinnen und Historiker projizierten ihr Geschichtsbild in die Figur hinein. Ein Geflecht von Fakten, Interpretationen und Thesen. Vermutlich hätten alle ein bisschen recht.

«Wir dürfen die Komplexität und Widersprüchlichkeit historischer Phänomene nicht unterschätzen.» Elisabeth Bronfen sagt das fast nebenhin, aber es ist das, was den Kern ihrer Arbeit ausmacht. Als Literaturwissenschafterin, die sich nicht nur für die klassischen Texte interessiert (zum Beispiel Shakespeare), als Kulturwissenschafterin, die Bücher genauso in ihre Analysen einbezieht wie Filme, Comics oder Werbeplakate. Und als Mensch, der sich regelmässig zu politischen und gesellschaftlichen Fragen äussert, von der US-Präsidentenwahl bis zu den britischen Royals.

Als Bronfen vor dreissig Jahren an die Universität Zürich berufen wurde, als Professorin für englische und amerikanische Literaturwissenschaft, war das neu. Und unerhört. Da gab es auf einmal eine junge Dozentin, die sich wenig darum kümmerte, ob sie gerade ein Gärtchen betrat, auf das irgendjemand Anspruch zu haben glaubte, und konsequent das tat, was sie interessierte. Seither habe sich viel geändert, sagt sie. Interdisziplinäres Arbeiten sei selbstverständlich geworden. Die Themen, über die sie bereits damals arbeitete, haben heute Konjunktur: Gender, Identität, Sexualität und Macht, die Frage, wie Begriffe wie Weiblichkeit, Männlichkeit, Heldentum oder Opferbereitschaft kulturell definiert werden.

Kultur besteht aus Brüchen

Weniger kontrovers sind sie dadurch nicht geworden, im Gegenteil. Sie werden zusehends in einem Klima verhandelt, das von Hass geprägt ist, auch im akademischen Milieu. Cancel-Culture breitet sich aus, fast im Wochentakt werden aus den USA und Deutschland Beispiele von Redeverboten an Hochschulen publik, Studierende fordern «safe spaces», in denen nicht mehr Fakten und Argumente zählen, sondern die Rücksicht auf allfällige Empfindlichkeiten von Minderheiten. Ist die akademische Freiheit in Gefahr?

Sie selbst erlebe das nicht so, sagt Elisabeth Bronfen. Vielleicht weil in ihrem Fachgebiet, der angloamerikanischen Literaturwissenschaft, schon immer eine offene, plurale Diskussionskultur geherrscht habe. Dass es keine «reinen» Kulturen gebe, dass Kultur immer ein Konglomerat verschiedenster Einflüsse sei, sei in der Kulturanalyse bereits in den neunziger Jahren ein Thema gewesen. Das spiegle sich in jedem einzelnen Menschen (und in Shakespeares Stücken), sagt Elisabeth Bronfen. «Wir alle leben zwischen verschiedenen Kulturen, Ländern, Sprachen und Traditionen, ein Teil von uns gehört dahin, ein anderer Teil dorthin.»

Als Tochter eines amerikanischen Vaters und einer deutschen Mutter, die in Deutschland aufgewachsen ist, in den USA studiert hat und seit dreissig Jahren in der Schweiz lebt, hat Elisabeth Bronfen das besonders stark empfunden. Die Kriege des 20. Jahrhunderts und die Globalisierung hätten die Sensibilität für kulturelle Brüche gesteigert, ist sie überzeugt. Aber auch Verunsicherung geschaffen. Das erschwere es vielen Menschen, zu akzeptieren, dass es keine Eindeutigkeiten gebe. Vor allem heute, wo in Europa wieder Krieg herrsche, ein Klimawandel mit unbekannten Auswirkungen stattfinde und eine Wirtschaftskrise die andere ablöse.

«Aber wir sind widersprüchliche Wesen», sagt Elisabeth Bronfen. Und vielleicht kreist ihre ganze Arbeit darum. Sie will aufzeigen, dass Eindeutigkeit immer eine Fiktion ist. Dass alles viel komplizierter ist, als es aussieht. Dass man Phänomene hinterfragen muss, gerade wenn man das Gefühl hat, mit ihnen vertraut zu sein. Und dass man nie aufhören darf, weiter zu fragen, weil jede Antwort neue Fragen aufwirft. Die Art, wie wir die Welt sehen, beruht immer auf Interpretationen: So könnte Elisabeth Bronfens Credo lauten. Wenn es nicht ihr Credo wäre, keines zu haben. Oder besser: Wenn sie nicht davon überzeugt wäre, dass wir die Voraussetzungen, nach denen wir die Welt und uns selbst beurteilen, immer wieder infrage stellen müssen.

Der Duft einer Zitrone

Das klingt sehr abgeklärt. Aber kennt sie selbst es nicht, das Bedürfnis nach Gewissheit, nach einer Umgebung, in der alles so ist, wie es immer war? Nach Heimat im weitesten Sinn? «Natürlich», sagt Elisabeth Bronfen. Sie weiss, dass es oft kleine Dinge sind, die Vertrautheit schaffen. Ihre Wohnung ist voll von liebevoll ausgesuchten Stücken, die Geschichten erzählen: Karaffen, Gläser, Lampen, Tafelsilber, Beistelltischchen. «Wenn sich die Benutzeroberfläche meines Computers nach einem Programm-Update ändert, finde ich das furchtbar. Ich kenne Leute, die weinen, wenn sie einen neuen Kühlschrank bekommen, weil sie sich an eine neue Inneneinteilung gewöhnen müssen.»

Dass man sich laufend auf Neues einstellen müsse, dass Traditionen schwänden und Bindungen sich auflösten oder nur noch auf Zeit angelegt seien, sei das zentrale Problem unserer Zeit, sagt Bronfen. Vielleicht ist es auch als Akt der Selbstvergewisserung zu verstehen, dass sie jetzt einen Roman geschrieben hat. Das Buch, das im Herbst erscheint, beschreibt die Suche eines Geschwisterpaars nach der Vergangenheit ihres Vaters, eines jüdisch-amerikanischen Veteranen, der nach dem Zweiten Weltkrieg nach Deutschland zurückkehrt. Eine Recherche zu einer Biografie, die sich im dumpfen Schweigen der Nachkriegszeit verliert.

Verlässlichkeit, Verbindlichkeit seien essenziell wichtig für die Menschen, betont Bronfen. Sie selbst findet sie bei ihren Freunden, in ihrer Arbeit, in Büchern, die sie durchs Leben begleiten (vor allem Shakespeare). Und im Kochen. Ein Tag, an dem sie nicht koche, sei für sie ein trauriger Tag, hat sie einmal gesagt. Und sie kocht nicht nur, sondern schreibt auch darüber. An ihrem zweiten Kochbuch denkt sie herum. Das erste ist vor einigen Jahren erschienen. Es erzählt auf jeder Seite davon, dass Essen mehr ist als Essen. Dass das Glück im Duft einer Zitrone liegen kann und ein Teller Pasta mit Parmesan so etwas wie Heimat ist.