Rasende Wanderniere

Vor zehn Jahren zeigte ein Versuch: Eine Fahrt auf der «Big Thunder Mountain»-Achterbahn hilft bei Nierensteinen.

Reto U. Schneider
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Billiger als eine Operation: Eine ruppige Achterbahnfahrt in Disneys Magic Kingdom.

Billiger als eine Operation: Eine ruppige Achterbahnfahrt in Disneys Magic Kingdom.

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Den Verdacht hegte David Wartinger schon lange, doch erst als ihm ein Patient erzählte, dass er auf drei Fahrten mit der «Big Thunder Mountain Railroad» drei Nierensteine verloren habe, ging er der Sache auf den Grund. Wartinger war Urologe an der Michigan State University in East Lansing im Westen der USA. Wie üblich in dieser Gegend, machten sich auch seine Patienten in den Frühlingsferien regelmässig nach ­Florida auf, in Disneys Magic Kingdom. Und immer wieder vernahm er, dass sie dort Nierensteine ausschieden.

Nierensteine sind kristalline Ablagerungen des Harns in der Niere. Solange sie klein sind, können sie den Körper problemlos mit dem Urin verlassen. Grössere Steine führen hingegen zu schmerzhaften Koliken und erfordern oft eine Operation.

Als Wartinger die Geschichte des Mannes mit den drei Steinen hörte, begann er seine anderen Patienten nach den genaueren Umständen ihres Nierensteinabgangs zu befragen. Und siehe da: Sie waren alle mit der «Big Thunder Mountain Railroad» gefahren. Konnte es sein, dass das Ruckeln der Bahn die Steine in den Harnleiter schüttelte?

Um das herauszufinden, wollte Wartinger mit einer Niere Achterbahn fahren, die er beobachten konnte. Organe von Rindern oder Schweinen kamen nicht in Frage, wegen der Temperaturen in Florida und des «unangebrachten Zurschaustellens solchen Materials in einem familienfreundlichen Vergnügungspark», wie Wartinger schrieb. Stattdessen bildete Wartinger die Nierenkammern des dreimaligen Achterbahnfahrers aus durchsichtigem Silikon nach, füllte sie mit seinem Urin, gab die drei Nierensteine hinzu und versiegelte das Ganze. Mit diesem taschenbuchgrossen Imitat aus Silikon und seinem Kollegen Marc Mitchell machte er sich auf nach Orlando.

Weil Wartinger befürchtete, zwei ältere Herren mit einem Rucksack, die immer wieder dieselbe Bahn fuhren, würden Aufsehen erregen, informierte er den Gästeservice des Vergnügungsparks. Sein Glück war, dass der zuständige Leiter vor kurzem einen Nierenstein hatte entfernen müssen. Er erteilte die Bewilligung.

Die Forscher unternahmen zwanzig Fahrten, den Rucksack mit dem Silikonmodell auf Nierenhöhe zwischen ihren Sitzen placiert. Vor jeder Runde stellten sie sicher, dass die Steine in bestimmten Kammern der simulierten Niere steckten. Nachdem sie ausgestiegen waren, zeichneten sie die neue Position der Steine auf. Das Ergebnis: In den vorderen Reihen des Zuges wanderten die Steine in 16 Prozent der Fälle in Richtung Blase, in den hinteren, wo es stärker ruckelte, waren es über 60 Prozent.

Fahrten auf grösseren Bahnen wie «Space Mountain» blieben ohne Wirkung. Wartinger vermutet, dass zu starke Kräfte die Steine fixieren. «Die ideale Bahn ist ruppig und kurz, mit Windungen und Drehungen», sagt er und empfiehlt die jährliche Achterbahnfahrt als günstige Vorsorge, was angesichts der wenigen Daten ein gewagter Vorschlag ist.

Gerne hätte er Patienten auf Achterbahnfahrten geschickt und vorher und nachher ein Ultraschallbild ihrer Nierensteine gemacht. Doch bei diesem Wunsch stiess die Kooperationsbereitschaft der Vergnügungsparks an ihre Grenzen. Im Moment arbeitet Wartinger mit der University of Alberta in Kanada zusammen, die über einen Simulator verfügt, der das Rütteln auf der «Big Thunder» nachbilden kann. Die Fahrt nach Orlando wird damit hinfällig. Schade.

Dieser Artikel stammt aus dem Magazin NZZ Folio vom Juli 2018 zum Thema "Eisenbahn". Sie können diese Ausgabe bestellen oder NZZ Folio abonnieren.