Sechs Tage lang ist Frankreichs Präsident durch den Norden des Landes gereist. Damit wollte er alles in einem: des Ersten Weltkriegs gedenken, Wertschätzung zeigen für abgehängte Regionen sowie ein bisschen Europawahlkampf machen. Kann das gutgehen?
Unter den unzähligen Denkmälern, die in Frankreich an die Greuel des Ersten Weltkriegs erinnern, fristet der Stein von Haudroy ein Schattendasein. Das Denkmal steht unscheinbar an einer Überlandstrasse. Seit 1925 erinnert es an den Anfang vom Ende des vier Jahre langen, verlustreichen Konfliktes, dessen starre Westfront zum grossen Teil auf französischem Territorium lag. Zwar versammeln sich dort jeweils am ersten Novembersonntag Fahnenträger aus den umliegenden Gemeinden zu einer Zeremonie. Doch weder britische noch australische oder deutsche Reisegruppen verlieren sich je nach La Flamengrie, in dieses 1000-Einwohner-Dorf in der weiten, hügeligen Landschaft der Thiérache.
Das Denkmal wurde an der Stelle errichtet, an der am regnerischen Abend des 7. November 1918 eine deutsche Delegation von französischen Truppen in Empfang genommen wurde. Die Deutschen kamen mit vier Fahrzeugen, am ersten hatten sie eine weisse Flagge montiert. Ihr Anführer, der Staatssekretär Matthias Erzberger, wollte im Namen des Kaiserreichs über einen Waffenstillstand verhandeln. Um 20 Uhr 20 blies ein französischer Soldat das Signalhorn, und die Waffen ruhten zum ersten Mal seit vier Jahren – vorerst für einige Stunden.
Emmanuel Macron ist der erste französische Präsident, der das Denkmal besucht. La Flamengrie ist ein idealer Ort für die Mission, die er sich in der vergangenen Woche auferlegt hat: die Vergangenheit mit der Gegenwart zu verbinden. Sechs Tage lang ist er durch den Norden des Landes gereist, durch zwei Regionen, elf Départements und siebzehn Kommunen.
Zum Ende einer Serie von Gedenkfeierlichkeiten rund um die «grande guerre» besucht er einerseits Soldatenfriedhöfe, Gedenkstätten und Kriegsschauplätze. Dazu hat er auch ausländische Staatschefs eingeladen: den deutschen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier nach Strassburg, die britische Premierministerin Theresa May an die Somme, den malischen Präsidenten Ibrahim Boubacar Keita nach Reims. Angela Merkel ist das erste Oberhaupt einer deutschen Regierung, das Compiègne nach 1945 besucht. Dort wurde der für das deutsche Kaiserreich demütigende Waffenstillstand am 11. November 1918 schliesslich unterzeichnet.
Doch Macron will auch das Gespräch mit Lokalpolitikern und «gewöhnlichen» Franzosen suchen. Seine Umfragewerte sind nach wie vor schlecht, und in einem halben Jahr findet eine Europawahl statt. Der Präsident wolle zuhören, heisst es aus dem Elysée-Palast, in Altersheimen, einem Renault-Werk, in Schulen, oder anscheinend spontan, in einer Bar für Pferdewetten oder einfach auf der Strasse.
Die Unzufriedenheit in den Regionen im Norden Frankreichs ist besonders gross. Sie alle haben unter der Deindustrialisierung gelitten. Das Département Aisne, in dem La Flamengrie liegt, gehört zu den ärmsten im Land, die Arbeitslosigkeit ist hoch. Es ist landwirtschaftlich geprägt und dünn besiedelt. Die Region hat laut dem Lokalhistoriker Olivier Dirson nie mehr zu der Prosperität zurückgefunden, die sie vor dem Ersten Weltkrieg erreicht hatte; damals war sie bekannt für ihre Textilindustrie. Durch durch Orte wie Flamengrie fahren an Wochentagen Hunderte von Schwertransportern; sie vermeiden damit Autobahngebühren zwischen Paris und Brüssel.
Als Macron Mitte der Woche auf dem Weg nach La Flamengrie ist, hat er von dem Unmut einiges mitbekommen. Besonders die Empörung über die geplante Steuererhöhung auf Treibstoffe wird dem Präsidenten unter die Nase gerieben, aber auch die sinkende Kaufkraft und die Umschichtung der Sozialabgaben. Vereinzelt kommt es zu kleinen Demonstrationen, und immer wieder hört er den Vorwurf, er sei ein Präsident der Reichen und der Städte. «Ich weiss, dass nicht alles perfekt ist», hört man ihn, begleitet von Fernsehkameras, zu aufgebrachten Bürgern sagen.
Im Gegensatz zu den Strassenszenen geht es in La Flamengrie ruhig zu und her. Allein die über dem Ort kreisenden Polizeihelikopter locken ein paar Anwohner aus dem Haus. Zur Zeremonie dürfen die meisten nicht. Genau tausend Gäste wurden eingeladen, vor allem Lokalpolitiker aus der Region und Bürger, deren Bewerbung um einen Platz erfolgreich war. Beinahe stoisch ertragen sie Wind und Regen des kalten Novemberabends, bis der Präsident mit eineinhalb Stunden Verspätung eintrifft. Als er zu seinem Platz auf der Tribüne geht, erheben sie sich artig.
Der Präsident enthüllt eine neue Gedenkplatte am Denkmal und verharrt danach kurz in Stille. Er hört den deutschen und französischen Gymnasiasten zu, die erst aus Soldatenbriefen von den letzten Tages des Krieges vorlesen und sich dann umarmen. Ein junger Mann in der Uniform der französischen Frontsoldaten bläst schliesslich das Signalhorn, wie es vor hundert Jahren Pierre Sellier tat. Eine Sopranistin singt die Marseillaise. Die Symbolik der Zeremonie ist eindeutig.
Doch die Geschichte ist ein Minenfeld. Nur wenige Stunden zuvor hat Macron eine Polemik ausgelöst, weil er Marschall Philippe Pétain vor Journalisten als grossen Soldaten des Ersten Weltkriegs bezeichnete, auch wenn er im Zweiten eine unheilvolle Wahl getroffen habe. Pétain hatte die französischen Truppen bei der Schlacht von Verdun befehligt und wurde nach Kriegsende zum Marschall ernannt, die höchste militärische Ehre in Frankreich. Im Zweiten Weltkrieg kollaborierte er als Staatschef des Vichy-Regimes allerdings mit Nazi-Deutschland. Nur in rechtsextremen Kreisen gilt er bis heute als Held.
Macron ist nicht der erste Präsident, der auf die Widersprüchlichkeit Pétains hinweist. Aber die Medien wollen seine Aussage fast unisono so verstanden haben, dass Pétain zu den Marschalls gehöre, die am Samstag in einer Zeremonie im Invalidendom in Paris geehrt werden. Historiker werden befragt, Oppositionspolitiker stänkern, in den sozialen Netzwerken ergiesst sich ein Shitstorm über Macron. Seine Sprecher und Anhänger haben alle Hände voll zu tun, die Empörung einzudämmen und immer wieder zu betonen, dass Pétain weder geehrt noch ins Panthéon einziehen werde.
Die Medien sind für Macron, der sich die Presse sonst vom Leib zu halten versucht, in dieser Woche ein wichtiges Begleitinstrument. Nicht nur hat er zugelassen, dass eine grosse Gruppe von Journalisten ihn auf dem ganzen Weg begleitet. Er gibt auch mehrere Interviews, unter anderem in Regionalblättern. Dort geht es nicht nur um die Massnahmen, mit denen die Regierung den armen Regionen auf die Beine helfen möchte – vor allem mit Geld und Investitionen.
Mit seinen besorgten Aussagen über die Rückkehr des Nationalismus, der überall mit der Angst spiele, steht er auch mitten im Europawahlkampf. Macron versucht jüngst immer öfter, den Graben zwischen dem progressiven Lager und den Nationalisten zu verdeutlichen. Das Rassemblement National, wie die Partei von Marine Le Pen seit dem Frühjahr heisst, hat bei der letzten Europawahl nicht nur das beste Ergebnis erzieht. Es kann im ganzen Nordosten Frankreichs auf grosse Unterstützung zählen.
In La Flamengrie sind solche Themen allerdings weit weg. Hier geht es um Wertschätzung, und sie kommt an. Macron schüttelt nach der Zeremonie jedem einzelnen der ehrenamtlichen Fahnenträger die Hand und bedankt sich. Einer von ihnen wird danach sagen, er mache dies seit mehr als 30 Jahren, doch noch nie habe ein Präsident einer Gedenkzeremonie beigewohnt. Es sei wirklich eine sehr grosse Ehre.
Macron entscheidet sich schliesslich spontan für einen Austausch mit Besuchern auf der Tribüne, lacht, grüsst und posiert für Fotos. Dann entschwindet er, durch das offene Fenster eines Renault winkend, in die dunkle Nacht. Ein Abend ohne Protest und ohne Vorwürfe und damit einer, der es nicht in die grossen nationalen Schlagzeilen schafft. Diese sind dominiert von dem Unmut, der dem Präsidenten begegnet, es ist von «Unwetter» die Rede, von «Konfrontation» und «Wut».
Macrons Entourage kontert, es sei genau Zweck der Reise gewesen, den Zorn und die Ängste der Franzosen zu hören. Es gebe ein Bedürfnis, sich gegenüber den Leuten zu erklären, aber fast auch eines, sie zu berühren, sagt der Präsident gegenüber der begleitenden Presse. Ende der Woche verspricht er, die Kosten für die Autoprüfung zu senken. Das Versprechen bezieht sich auf jene Klage, die ihn von Anfang bis am Ende seiner Reise begleitete: die steigende finanzielle Belastung der Autofahrer. Ob er damit die Protestbewegung besänftigt hat, die angesichts der steigenden Benzinpreise für eine nationale Blockade kommende Woche mobilisiert?
Im Tourismusbüro der Thiérache hofft man derweil, dass der Präsidentenbesuch die Aufmerksamkeit der geschichtlich interessierten Touristen auf den Stein von Haudroy gelenkt hat. Anders als Verdun oder Orte an der Somme kennt die Gegend diese Art des Tourismus kaum. Die Reisenden – vor allem Franzosen und Belgier – kommen eher wegen der Natur in die Region. Und es dürften nach dem Geschmack der Touristiker durchaus noch mehr sein.