Gastkommentar

Das EU-Verhandlungspaket und die Debatte über die Streitschlichtung

Die vorgeschlagene Streitschlichtung im Verhandlungspaket der Schweiz und der EU ist umstritten. Hilfreich ist hier ein Blick auf andere Beispiele der Streitbeilegung in Handelsabkommen.

Richard Senti 18 Kommentare 5 min
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Ein Delegierter betritt die Räumlichkeiten der Welthandelsorganisation (WTO), die mit Sitz in Genf um den Abbau internationaler Handelshemmnisse bemüht ist.

Ein Delegierter betritt die Räumlichkeiten der Welthandelsorganisation (WTO), die mit Sitz in Genf um den Abbau internationaler Handelshemmnisse bemüht ist.

Salvatore Di Nolfi / Keystone

Am 15. Dezember 2023 hat der schweizerische Bundesrat neue Verhandlungen mit der EU angekündigt, mit dem Ziel, «die umfassende Partnerschaft zwischen der EU und der Schweiz zu festigen, weiterzuentwickeln und deren Potenzial voll auszuschöpfen».

Der bundesrätliche Vorschlag hat innert weniger Wochen landauf, landab eine breite Diskussion über die geplante Streitschlichtung zwischen der Schweiz und der EU ausgelöst. Der vorliegende Beitrag vergleicht das vom schweizerischen Bundesrat angedachte Schlichtungsverfahren mit der Streitbeilegung in Handelsabkommen von Drittstaaten.

Der Schweizer Vorschlag

In den Abschnitten 8 bis 12 der «Gemeinsamen Verständigung» («Common Understanding») hält der schweizerische Bundesrat fest, wie in der vorgesehenen Schweiz-EU-Integration aufkommende Streitigkeiten angegangen werden.

Bestimmungen, deren Anwendung EU-Rechtsbegriffe beinhalten, sollen «im Einklang» mit der bisherigen und künftigen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union ausgelegt werden. Die Schweiz wird zur «dynamischen Rechtsübernahme» verpflichtet. Alle relevanten EU-Rechtsakte sind «so rasch als möglich» nach ihrer Verabschiedung in die Binnenmarktabkommen aufzunehmen. Bei allfälligen Differenzen haben beide Parteien die Möglichkeit, das Schiedsgericht anzurufen. Berührt ein Streitfall EU-Recht, hat das Schiedsgericht diese Frage dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) vorzulegen, «dessen Entscheid für das Schiedsgericht bindend» ist.

In der Diskussion über die Streitschlichtungsordnung einer künftigen Schweiz-EU-Partnerschaft stellt sich unwillkürlich die Frage, wie die Streitbeilegung in Handelsverträgen von Drittländern angegangen wird. Als Beispiele dienen die Abkommen zwischen der EU und Kanada (Ceta) sowie zwischen den USA, Mexiko und Kanada (USMCA).

Das EU-Kanada-Abkommen

Die Verhandlungen über die Schaffung eines «Umfassenden Wirtschafts- und Handelsabkommens EU - Kanada» (Ceta) sind im Jahr 2009 aufgenommen worden. Der Vertrag ist seit September 2017 «vorläufig» in Kraft. «Endgültig» in Kraft treten wird das Abkommen nach der Ratifizierung durch die kanadische Regierung, den EU-Rat sowie noch einige ausstehende EU-Mitgliedstaaten wie Belgien, Frankreich und Polen.

Können Differenzen zwischen Kanada und der EU in Konsultationen nicht beigelegt werden, haben die Ceta-Partner das Recht, sich an die WTO oder an eine andere Organisation, der beide Partner angehören, zu wenden oder die Schlichtung im Rahmen des Ceta zu beantragen.

Die im Ceta gewählte Streitschlichtung läuft nach folgendem Muster ab: Der gemischte Ceta-Ausschuss erstellt eine Liste von fünfzehn Schiedsrichtern, je fünf Richtern aus der EU, aus Kanada und einem Drittstaat. Zur Beurteilung eines Streitfalls wählen die beiden Parteien je einen staatseigenen Richter und in gemeinsamer Wahl den Vorsitzenden, der nicht Staatsangehöriger der beiden Parteien ist. Das aus drei Panelisten bestehende Gremium hat fünf Monate nach Eröffnung des Verfahrens einen Zwischenbericht vorzulegen und – nach erfolgter Stellungnahme der Parteien – nach einem weiteren Monat den Schlussentscheid zu fällen.

Gleichzeitig haben die EU und Kanada im Rahmen des Ceta ein unabhängiges Investitionsgericht samt Berufungsinstanz geschaffen. Die fünfzehn Mitglieder dieser Gremien werden vom Ceta-Ausschuss ernannt, je fünf Staatsangehörige aus der EU und Kanada und fünf Mitglieder aus Drittstaaten. Für die Beurteilung eines Streitfalls werden innerhalb des Gerichts Kammern gebildet, denen drei Mitglieder angehören, je ein Mitglied der EU und Kanadas sowie ein Mitglied eines Drittstaates. Die zwischen der EU und Kanada vereinbarte Investitions-Streitschlichtung ist in den letzten Jahren auch in die Freihandelsverträge der EU mit Vietnam, Singapur und Mexiko eingegangen.

Die im Rahmen des Ceta ausgehandelte Streitschlichtungsordnung veranlasste den EuGH, die Frage zu klären, ob das mit Kanada ausgehandelte Ceta nicht gegen das europäische Recht verstosse. Dabei kam der EuGH zum Schluss, «dass eine internationale Übereinkunft, welche die Einrichtung eines mit der Auslegung ihrer Bestimmungen betrauten Gerichts vorsieht, dessen Entscheidungen für die Union bindend sind, grundsätzlich mit dem Unionsrecht vereinbar ist», vorausgesetzt, «die Autonomie der Unionsrechtsordnung [wird] nicht beeinträchtigt». Unter Autonomie der Unionsrechtsordnung sind «die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte» zu verstehen.

USA-Mexiko-Kanada-Abkommen

Die im USA-Mexiko-Kanada-Abkommen (USMCA) von 2020 vereinbarte Streitschlichtung kommt jener des Ceta sehr nahe. Das USMCA hält fest, dass allfällige Differenzen zwischen den Vertragspartnerstaaten im Rahmen der WTO oder der abkommensinternen Schlichtungsstelle beizulegen sind. Bei der WTO haben die USA, Mexiko und Kanada in den letzten drei Jahren an die zwanzig Mal geklagt. Im Rahmen des USMCA sind bis heute vier Streitfälle behandelt worden. In zwei Fällen beschwerten sich die USA über die kanadischen Importrestriktionen bei Milchprodukten. In einem Fall wehrte sich Kanada gegen die amerikanischen Dumping-Zölle auf Solarzellen-Importen (CSPV-Produkten). Ein vierter Fall handelte von den amerikanischen Praktiken im grenzüberschreitenden Autohandel (Verhandlungen abgebrochen).

Verlangt ein USMCA-Partner eine abkommensinterne Streitschlichtung, erfolgt die Beurteilung in einem abkommenseigenen fünfköpfigen Panel. Die drei Vertragspartner USA, Mexiko und Kanada unterhalten eine gemeinsame Panel-Liste von dreissig Personen, je zehn Personen pro Partner. Zur Beurteilung eines Streitfalls zwischen zwei USMCA-Partnern wählt jede Partei zwei Personen aus der zehnköpfigen Panel-Liste der Gegenpartei. Den Vorsitz der Verhandlungen übernimmt ein weiterer Panelist, der von der durch das Los bestimmten Partei aus der Liste der Gegenpartei ernannt wird.

Das Panel erarbeitet in den ersten zwei bis drei Monaten nach Einreichen der Klage einen Zwischenbericht, befasst sich anschliessend mit allfälligen Stellungnahmen der Parteien und ist gehalten, nach insgesamt fünf Monaten die Beratungen abzuschliessen. Der Schlussentscheid des Panels ist für die Abkommenspartner endgültig und verbindlich. Verweigert eine Partei die Anerkennung des Urteils, ist die Gegenpartei berechtigt, Vergeltungsmassnahmen zu ergreifen.

Mit welchen Vorbehalten und welcher Vorsicht die Kanadier dem Handelsabkommen mit den USA gegenüberstehen, verdeutlichte Pierre Trudeau, kanadischer Premierminister während der Jahre 1968 bis 1984, mit den Worten, neben den USA zu leben, sei, wie neben einem Elefanten zu schlafen. So friedlich und verträglich der Elefant auch sein möge, jedes Zucken und Lautgeben des Elefanten erschrecke den neben ihm liegenden Menschen.

Das Schweiz-EU-Abkommen

Die beiden Handelsabkommen Ceta und USMCA zeigen, wie Länder ganz unterschiedlicher Marktmacht miteinander Verträge abschliessen, ohne deren politische und wirtschaftliche Unabhängigkeit und Eigenständigkeit einzuschränken. Die Bilateralen sind indes mehr als ein Freihandelsabkommen. In den Verhandlungen mit der Schweiz dürfte die EU denn auch darauf beharren, dass diese Frage, wenn die Auslegung von EU-Recht für die Beilegung von Differenzen zwischen der Schweiz und der EU relevant ist, dem EuGH zur Entscheidung vorzulegen ist. Der Entscheid des EuGH ist dann für das Schiedsgericht beziehungsweise die Abkommenspartner bindend – also auch für die Schweiz.

Kritiker des gescheiterten Rahmenabkommens bzw. des neuen Verhandlungspakets diskutieren deshalb seit längerem darüber, ob ein modernes Handelsabkommen mit der EU nicht eine bessere Lösung wäre als das geplante Vertragswerk. Das hier diskutierte umfassende Handelsabkommen der EU mit Kanada (Ceta) dient dabei oftmals als Referenz. Es geht dabei um die Forderung nach einer Streitschlichtung zwischen der Schweiz und der EU auf Augenhöhe.

Richard Senti ist emeritierter Professor für Volkswirtschaftslehre und war während mehrerer Jahre Leiter des Instituts für Wirtschaftsforschung der ETH. Im Rahmen der Streitschlichtung des Gatt bzw. der WTO war er als Panelist tätig.

18 Kommentare
Urs Keiser

Das "neue" Verhandlungspaket der EU und der Schweiz ist ein Politischer Vertrag welcher tief in die Souveränität unseres Staates eingreifen würde. Mit der automatischen Rechtsübernahme und der letztlichen Auslegung des EuGH, wird die Direkte Demokratie unseres Landes mit Einschränkungen belegt. Es ist nicht absehbar was alles für Verpflichtungen auf unser Land zukommen werden, durch die automatische Rechtsübernahme. Der EuGH ist das Gericht des einen Vertragspartners, nämlich der EU. Da ist das Gewicht der Rechtsprechung klar einseitig! Ein Freihandelsabkommen wäre ein Vertrag zu Handel und Dienstleistungen. Hier ist das Feld klar eingegrenzt. Bezüglich Differenzen in der Rechtsprechung kann genau das Vorbild des Freihandelsabkommens über die WTO oder an eine andere Organisation, der beide Partner angehören, geregelt werden. Das ist Streitbeilegung auf Augenhöhe. Wer hier den Unterschied nicht sieht und für das "neue" Verhandlungspaket ist, will ganz einfach Zwänge schaffen eines EU-Beitrittes für die Schweiz! Ein Freihandelsabkommen analog CAN-EU (Ceta) ist der richtige Weg für unser Land!

B. S.

Also, geht doch. Die Schweiz als WTO Sitz sollte eine Affinität zur Organisation haben.  Es wird anders kommen: Nach InstA sel. wird der Bundesrat InstA sel. Reloaded auflegen. Alter Wein in neuen Schläuchen. Jeder vernünftig denkende Bürger sieht sofort: Ein Abkommen, das wieder gleich aufgelegt wird, wie welches, das vor drei Jahren als unzumutbar abgebrochen wurde, gleicht einem Schüler, der die Prüfung versaute, die Lösung analysiert und beim zweiten antreten wieder die exakt gleichen Fehler hindchreibt und vorher noch gute Lösungen zusätzlich fehlerhaft abgibt. Nicht mehr zu helfen!

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