Soll die Schweiz Subventionen an die Wirtschaft zahlen, nur weil es andere Länder auch tun?

Staatshilfen für Unternehmen sind weltweit in Mode. Das liefert Futter für Lobbyisten in der Schweiz, zwecks «gleich langer Spiesse» im internationalen Wettbewerb ebenfalls Unterstützung zu verlangen. Was ist von diesem Argument zu halten?

Hansueli Schöchli 7 min
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Wenn das Ausland den Strompreis künstlich verbilligt, ist dies noch kein zwingendes Argument für die Schweiz, das Gleiche zu tun.

Wenn das Ausland den Strompreis künstlich verbilligt, ist dies noch kein zwingendes Argument für die Schweiz, das Gleiche zu tun.

Gaëtan Bally / Keystone

Ist das fair? Industriefirmen in Deutschland und Frankreich hatten gegen Ende 2022 dank staatlicher Verbilligung Stromkosten von einem Drittel bis zur Hälfte des Niveaus in der Schweiz, wie hiesige Industrievertreter vorrechneten. Das sei für energieintensive Schweizer Firmen ein massiver Wettbewerbsnachteil, erklärte im Dezember der Präsident der Interessengemeinschaft der energieintensiven Branchen: «Wenn die Staaten unserer Konkurrenten mit einem Preisdeckel eingreifen, sollte die Schweiz auch etwas Ähnliches machen, um Konkurrenznachteile der hiesigen Unternehmen zu vermeiden.»

Der Bund soll noch etwas anderes machen, um Schweizer Nachteile zu vermeiden: einen staatlichen Innovationsfonds zur Finanzierung von Jungfirmen schaffen. Das will Wirtschaftsminister Guy Parmelin. Definitiv ist die Sache noch nicht. Die vom Bund bestellte Studie hatte kein Marktversagen in der Finanzierung von Jungfirmen geortet, aber die Befürworter eines Staatsfonds haben ein Allzweckargument: Viele andere Länder machen es auch.

Vor allem mit dem Verweis auf ähnliche Praktiken in anderen Ländern hat der Bundesrat auch vorgeschlagen, ein skurriles Steuerprivileg für die in der Schweiz beheimateten Firmen im Sektor Hochseeschifffahrt einzuführen. Ähnliche Praktiken im Ausland sind auch der Hauptgrund, weshalb der Bundesrat bei Rüstungskäufen wie etwa dem neuen Kampfflugzeug Gegengeschäfte zugunsten der Schweizer Industrie verlangt – obwohl dies die vom Bund bezahlten Rüstungspreise erhöht.

Wie das Dopingproblem?

Die Sache erinnert an das Dopingproblem im Radsport: Betreibt die Konkurrenz Doping, ist der Anreiz gross, dies selber auch zu tun, wenn man nicht abgehängt werden will. Das Wirtschaftsleben ist allerdings im Unterschied zum Spitzensport kein Nullsummenspiel. Es ist überdies viel komplexer und kaum berechenbar, da es laufenden Veränderungen unterworfen ist. Der Erfolg von Subventionsdoping ist somit viel schwieriger vorauszusagen.

Will die Schweiz einfach das Ausland kopieren, müsste sie zum Beispiel auch die Löhne massiv senken, die Mehrwertsteuer verdoppeln, die Arbeitslosigkeit erhöhen, den Euro übernehmen und die Berufslehre entwerten. Dies illustriert bereits, dass der von Lobbyisten gerne verwendete Begriff der «gleich langen Spiesse» irreführend ist: Solange sich die Länder voneinander unterscheiden, wird es nie «gleich lange Spiesse» geben.

Trotzdem: Wenn andere Länder die Wirtschaft subventionieren, sollte die Schweiz dies auch tun, um Nachteile zu vermeiden? Solche Wünsche betroffener Sektoren sind verständlich. Doch die gesamtwirtschaftliche Optik kann anders sein. «Eine Massnahme wie zum Beispiel eine Subvention muss in sich selber Sinn ergeben, weil ein klares Marktversagen besteht», sagt der Berner Volkswirtschaftsprofessor Aymo Brunetti, der früher Chefökonom des Bundes war. Der Hinweis auf Nachteile wegen ausländischer Subventionen überzeugt ihn nicht: Dafür hätten Schweizer Firmen «sonst sehr viele Standortvorteile». Und: «Das Beste, was der Staat für die Unternehmen tun kann, sind allgemein günstige, vorhersehbare und faire Rahmenbedingungen wie etwa ein liberaler Arbeitsmarkt, relativ tiefe Steuern, ein gutes Bildungssystem und effektive Regulierung.»

Im Grundsatz «sehr skeptisch» gegenüber dem Argument der gleich langen Spiesse zeigt sich auch der Volkswirtschaftsprofessor Reto Föllmi von der Universität St. Gallen: «Die Subventionierung bestimmter Branchen hat Kosten und bringt damit Nachteile für andere Sektoren und Konsumenten.» Und: «Wenn andere Länder gewisse Industrien subventionieren, können wir davon profitieren und uns günstiger eindecken.»

Gründe für Eingriffe

Aber Subventionen können sinnvoll sein, wenn sie ein Marktversagen korrigieren und so einen gesellschaftlichen Nutzen bringen, der die Kosten überwiegt. So ist etwa im Grundsatz die staatliche Subventionierung von Grundlagenforschung nicht stark umstritten; Firmen haben tendenziell «zu wenig» Anreize für Investitionen in Grundlagenforschung, weil ein Grossteil des Nutzens auch anderen zugutekommt.

Schwieriger wird es bei branchenspezifischen Subventionen in Form von Direktzahlungen, künstlichen Verbilligungen oder Importbehinderungen im Namen einer «Industriepolitik». Auch dort gibt es Argumente für Staatskrücken. Diese lauten etwa so: Informations- und Koordinationsprobleme behindern den Aufbau eines (politisch gewünschten) Wirtschaftssektors im eigenen Land, deshalb braucht es einen staatlichen Anstoss, bis ein tragfähiges Ökosystem entstanden ist. In Sektoren mit hohen Fixkosten soll der staatliche Anschub überdies dazu dienen, dass die Firmen die kritische Grösse erreichen und die Produktionskosten auch dank Lerneffekten herunterbringen, bis sie international konkurrenzfähig sind.

Solche Argumente sind theoretisch nachvollziehbar, doch über deren praktische Bedeutung wird seit vielen Jahrzehnten kontrovers diskutiert. Für einen liberalen Ökonomen wie Aymo Brunetti sind die genannten Überlegungen für sektorspezifische Staatskrücken «sehr zweifelhaft». Erfolgreiche Entwicklung beruhe auf einem komplexen Zusammenspiel zahlreicher Rahmenbedingungen. Deren relative Bedeutung lasse sich allenfalls im Nachhinein herausschälen, aber man könne dies nicht voraussehen und zielführend steuern.

Entzaubertes Japan

Doch was zeigen die praktischen Erfahrungen mit sektorspezifischen Staatskrücken? Ein Überblick von 2020 über die internationale Forschungsliteratur der letzten Jahrzehnte ortete erhebliche Skepsis, lieferte aber kein eindeutiges Bild. Reto Föllmi fasst die Literatur wie folgt zusammen: «Es gibt Erfolgsbeispiele, aber in den meisten Fällen sind gute Rahmenbedingungen für alle den sektorspezifischen Unterstützungen vorzuziehen.»

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts galt vor allem die Industriepolitik von Japan als Erfolgsbeispiel. Selbst während der Hochkonjunktur der Debatte über das Japan-Modell in den 1980er Jahren lieferte die Forschungsliteratur allerdings kein einheitliches Bild. Seither hat Japan viel von seinem damaligen Nimbus verloren. Jüngere Studien und eine lange Phase mit schwacher Wirtschaftslage haben Japans Industriepolitik entzaubert, wie drei Forscher aus den USA und China im vergangenen Herbst schrieben. Der Hauptfokus dieser Analyse war Chinas Industriepolitik. Die Forscher fanden kaum Hinweise darauf, dass China konstant «Gewinner» subventioniere.

Es gibt auch Staatsversagen

Es gibt Marktversagen, aber es gibt auch Staatsversagen. Beamte kennen die Zukunft nicht, sie haben eigene Interessen, und als Folge des politischen Lobbyings werden nicht unbedingt die «zukunftsträchtigsten» Sektoren am stärksten unterstützt werden, sondern die einflussreichsten. Selbst wenn also der Staat die «Gewinnerbranchen» von morgen voraussehen könnte, subventioniert er auch «Verliererbranchen», wenn diese einflussreich genug sind. Für Länder, die nicht wie das frühere Japan am «Aufholen» sind, sondern technologisch vorne mitmischen, sind die «Gewinner» von morgen noch viel schwieriger vorauszusehen. Und weshalb der Staat die bessere Voraussicht haben soll als private Akteure, die ihr eigenes Geld einsetzen und damit starke Anreize haben, aufs richtige Pferd zu setzen, bleibt eine grosse Frage.

Da sich mit Einzelbeispielen fast alles belegen lässt und ein schlüssiger systematischer Überblick auch aus methodischen Gründen kaum machbar ist, hat die Debatte oft theologische Züge. Eine Bibel für Staatsinterventionisten lieferte etwa das Buch «The Entrepreneurial State» (2013) der in London lehrenden Ökonomin Mariana Mazzucato. Für sie wiegt Marktversagen schwerer als Staatsversagen. Eine Gegenthese lieferten zwei Autoren 2020 mit dem Buch «The Myth of the Entrepreneurial State».

In der Schweiz solle man auf das gängige Argument der gleich langen Spiesse möglichst nicht eingehen, sagt Rudolf Minsch, Chefökonom des Wirtschaftsdachverbands Economiesuisse: «Die Schweiz ist in den letzten Jahrzehnten mit ihrer Zurückhaltung in der Industriepolitik gut gefahren.» Als negatives Beispiel verweist er auf den deutschen Aktivismus in der jüngsten Energiekrise: «Deutschland hat Milliarden Staatsgelder zur Abfederung des Preisschubs verschwendet und dadurch die Staatsschulden erhöht. Das verschlechtert langfristig die Standortqualität für die Wirtschaft.» Minsch verweist auch auf einen zweiten grossen Nachbarn: «Frankreich hat seit langem eine aktive Industriepolitik, doch der Industrieanteil an der Volkswirtschaft ist viel geringer als in der Schweiz.» Auch in Sachen Innovation steht die Schweiz gemessen an jüngsten Barometern wie dem «Global Innovation Index 2022» und dem «European Innovation Scoreboard 2022» relativ gut da (vgl. Grafik).

Spitzenplatz für die Schweiz

Innovationskraft ausgewählter Länder im Jahr 2022, indexiert (100 = EU-Durchschnitt)

Aber staatliche Unterstützung für «zukunftsträchtige» Sektoren hat wieder Hochkonjunktur – in der EU, in den USA und in Asien. Auch in der Schweiz gibt es Druck in diese Richtung. Der Bund bereitet derzeit ein Grundlagenpapier dazu vor. Für den Westen gilt zwar Japan nicht mehr als Bedrohung, aber an dessen Stelle ist mit China ein mutmasslich grösseres «Problem» getreten. Der neue kalte Krieg zwischen dem Westen und China, Russlands Krieg in der Ukraine, die Corona-Pandemie und das Klimaproblem haben den Wunsch nach staatlicher Förderung von spezifischen Industrien verstärkt. Nebst der Wettbewerbsfähigkeit geht es deshalb vermehrt auch um Stichworte wie «mehr Selbstversorgung» und «weniger Abhängigkeit».

Verantwortung der Firmen

Vor allem für kleinere Volkswirtschaften wäre aber der Verzicht auf Importe sündhaft teuer bis unmöglich. Und im Subventionswettlauf der Grossen für «strategische» Sektoren wie etwa Halbleiter könnte die Schweiz ohnehin nicht mithalten. Für kleine Länder geht es viel eher darum, möglichst nicht von einzelnen Staaten und Lieferanten abhängig zu sein. Ein Bericht des Bundesrats vom August 2022 unterschied zwischen «essenziellen» (lebenswichtigen) und «kritischen/strategischen» Gütern. Zu den lebenswichtigen Gütern zählen etwa Nahrungsmittel, Energieträger und Heilmittel. Hier spielt der Staat für die Versorgungssicherheit subsidiär zur Wirtschaft eine Rolle. Bei den «strategischen» Gütern sieht der Bundesrat die Wirtschaft stärker im Vordergrund. Als strategisch gelten Güter, die nicht lebenswichtig sind, aber trotzdem besondere Bedeutung haben.

Ein Postulat der SP von 2022 verlangt vom Bundesrat einen Bericht zu den Abhängigkeiten der Schweiz auch bei strategischen Gütern. Die Begründung verwies auch auf die EU. Die EU-Kommission identifizierte 137 Produkte von strategischer Bedeutung mit erheblicher Abhängigkeit von aussereuropäischen Lieferanten; die Liste der Produkte reicht von Batterien über Halbleiter bis zu Cloud-Technologien. Produkt- oder branchenspezifische Massnahmen bei nicht lebenswichtigen Gütern lägen «in der Eigenverantwortung der Unternehmen», sagte der Bundesrat zum SP-Postulat: Sie seien selber am besten in der Lage, ihre Abhängigkeiten zu erkennen und zielgerichtete Massnahmen zu treffen. Dies sagt auch Rudolf Minsch von der Economiesuisse: In den Geschäftsleitungen der Firmen sei die Reduktion der Abhängigkeiten von einzelnen Quellen «ein bedeutendes Thema».

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