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„Kinder müssen wütend sein dürfen“

Schlechtes Verhalten ist bei Kleinkindern kein Vorsatz, sagt eine Bestsellerautorin und erklärt, wie Eltern reagieren sollen.

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Ich will aber jetzt was Süßes! Eltern sollten Trotzreaktionen aushalten, fordert Buchautorin Danielle Graf.
Ich will aber jetzt was Süßes! Eltern sollten Trotzreaktionen aushalten, fordert Buchautorin Danielle Graf. © Getty Images

Kommen Kleinkinder ab einem Jahr in die Trotzphase, können sie ihre Eltern bis zur Weißglut reizen. Die Familienbloggerinnen Danielle Graf und Katja Seide haben darüber den Bestseller „Das gewünschteste Wunschkind aller Zeiten treibt mich in den Wahnsinn“ geschrieben. Die SZ wollte von Danielle Graf wissen, was Eltern am besten machen, wenn sich der Trotzkopf mal wieder auf den Boden wirft.

Frau Graf, wollen Eltern Trotzreaktionen vermeiden oder warum wird so viel schon mit kleinen Kindern diskutiert?

Weil Erziehung am besten mit Kompromissen und Kooperation funktioniert. Wenn Kinder das Gefühl haben, dass die Eltern ihnen entgegenkommen, sind sie eher bereit, einen Schritt von ihrem eigenen Wunsch zurückzutreten. Dabei setzen sie Kompromisse, die sie selbst anbieten, am zuverlässigsten um. Eltern sollten ruhig fragen, ob das Kind eine Idee hat, um ein bestimmtes Problem zu lösen. Kinder kommen kooperativ auf die Welt. Schon Zweijährige fangen an, spielerisch die Wäsche aufhängen zu wollen. Das ist ihr Beitrag zum Familienleben. Das Problem ist nur, dass Eltern dazu neigen, das aus Bequemlichkeitsgründen abzuerziehen.

Wie meinen Sie das?

Wenn das Kind Wäsche im Bad waschen will, wird es nass. Alles dauert länger und macht den Erwachsenen Umstände. Aber gerade dann ist es kritisch zu sagen: Ich mache es selber. Denn dann erzieht man die Kooperation wieder ab. Es ist wichtig, darauf zu achten, dass die Kleinen einen festen Platz im Gefüge bekommen und man die Unterstützung wertschätzt. Ich empfehle, die Kinder so oft es geht einfach machen zu lassen. Wann immer ich die Möglichkeit habe, sollte ich jedes Nein überdenken, ob es nicht doch ein Ja ist.

Jetzt haben Sie es eilig, das Nein bleibt ein Nein. Sie müssen das Spiel unterbrechen und lösen einen Wutanfall aus.

Dann muss ich mir klarmachen, dass Wütendsein ein ganz normaler Entwicklungsschritt ist, der wichtig für die Entwicklung der Persönlichkeit und des Gehirns ist. Meine Aufgabe als Erwachsener ist es nicht, die Wut zu vermeiden, sondern die Anfälle zu begleiten. Meine Generation hat das nicht gelernt. Von uns wurde erwartet, dass wir unsere Gefühle beherrschen. Aber Kinder können einen Umgang damit nur lernen, wenn sie wütend sein dürfen. Das ist am Anfang schwierig, wird aber immer leichter, immer kürzer, immer besser.

Und das macht besonders an der Supermarktkasse Spaß, wenn das Zweijährige ausrastet, weil es nichts Süßes bekommt.

Das ist der Klassiker. Unser Problem ist, dass wir in dem Moment Angst haben, vor anderen Erwachsenen als unfähig dazustehen. Das ist der Kernpunkt. Wenn man sich dessen bewusst ist, kann man eigentlich cool bleiben: Denn wenn Eltern das passiert, dann haben sie mindestens 20 Mütter um sich herum, die das auch schon erlebt haben und sich sagen: Gott sei Dank ist das jetzt nicht mein Kind.

Trotzdem brodelt es in einem. Wie gelingt es dann, verständnisvoll zu sein?

Indem man sich bewusst macht, dass Kinder bis zu einem bestimmten Alter kognitiv gar nicht in der Lage sind, Wutausbrüche willentlich zu steuern. Da fehlen ihnen noch die neuronalen Verknüpfungen. Wenn man das weiß, fühlt man sich viel weniger provoziert. Das funktioniert total gut. Schlechtes Verhalten ist kein Vorsatz, es steckt immer ein Grund dahinter, eine innere Not. Die Kinder wollen uns nicht ärgern. Sie sind ja auf uns angewiesen. Aber man wird immer auf eine ältere Dame treffen, die findet, dass das Kind unerzogen ist und sich unmöglich benimmt.

Ab wann können Kinder ihre Emotionen denn beherrschen?

Das gelingt den meisten Kindern im Alter von vier bis fünf Jahren schon ganz gut.

Und ab wann provozieren sie bewusst ?

Das schafft ein Kind erst, wenn es die Perspektive eines anderen übernehmen und sich in ihn hineinversetzen kann – also auch ungefähr mit vier bis fünf Jahren. Das ist ein Entwicklungsschritt, bei dem ein Kind versteht, dass ein anderer etwas anderes denkt und fühlt als es selbst. Ein Zweijähriges wird seine Eltern daher niemals absichtlich ärgern.

Wie gehen Eltern am besten mit einem bockigen Kind um?

Indem sie es aushalten. Das fällt leichter, wenn man weiß, dass das Kind es gar nicht anders kann. Sie sollten daran denken, dass der Anfall nicht lange dauern wird. Es hilft, wenn sie dem Kind Verständnis signalisieren: „Ich verstehe, dass du wütend bist, weil du jetzt die Wäsche nicht aufhängen durftest. Wir machen das heute Abend zusammen.“ Ganz wichtig ist, Trost anzubieten, das Kind in den Arm zu nehmen. Denn Körperkontakt reguliert die Stresshormone, das Kuschelhormon Oxytocin wird ausgeschüttet und dem Kind geht es besser. Es hilft auch, beruhigend auf das Kind einzureden und dafür immer die gleichen, einfachen Worte zu verwenden. Denn wenn das Gefühlszentrum im Gehirn quasi explodiert, ist das Sprachzentrum ausgeschaltet, und dann kommen Worte nur ganz schwer bei dem wütenden Kind an.

Oft ordnen Eltern ihre Bedürfnisse den Kindern unter. Wie kriegen sie das anders hin?

Erst einmal sollten sie abwägen und überlegen, wessen Bedürfnisse gerade wichtiger sind. Sie müssen erfüllt werden, Wünsche nicht unbedingt. Das verwechseln viele Eltern leider häufig. Ein dreimonatiges Baby darf man nicht schreien lassen. Wenn das Kind aber älter wird, muss es lernen, dass andere Menschen eigene Bedürfnisse haben. Damit ist es vor allem in der Trotzphase nicht einverstanden, aber es muss verstehen, dass manches trotzdem durchgesetzt wird. Das führt im Zweifel zu einem Wutanfall. Eltern können durchaus vermitteln, dass sie selber auch einmal dran sind. Wenn etwa der Papa das Kind ins Bett bringt, weil Mama sich mal ausruhen möchte, das Kind aber die Mutter verlangt, dann ist es okay, zu sagen, dass der Vater jetzt beim Kind bleibt. Das wird an drei Tagen für Ärger sorgen, aber das Kind wird es verstehen, denn es ist ja trotzdem versorgt.

Was raten Sie bei beißenden Kindern?

Das ist in der Tat ein Balanceakt. Auch das passiert normalerweise nicht böswillig. Beißen ist bei Kleinkindern eine Art sich auszudrücken, wenn sie es mit Worten noch nicht sagen können. Es bedeutet: „Halte Abstand!“, „Das ist meins!“, „Willst du mit mir spielen?“ oder sogar „Ich liebe dich so doll!“ Je nachdem, was der Grund ist, müssen die Erwachsenen dann entsprechend reagieren. Wenn das Kind beißt, weil es mit dem anderen Kind spielen will, sollte man das in Worte fassen: „Du willst mit Emil spielen? Schau, so fragt man das freundlich.“ Wenn es aus Wut beißt, dann verbalisiert man die Wut und begleitet den Streit. Wenn es die Mama aus Liebe beißt, muss sie sich schützen und dem Kind zeigen, was sie lieber mag, Streicheln oder Küssen. Manchmal ist es günstig, nicht zu viel Bohei um das Beißen zu machen.

Aber das Kind tut einem anderen weh. Da muss man doch einschreiten.

Oh ja! Wenn das Kind ein anderes beißen will, muss man sehr schnell eingreifen. Das ist in jedem Fall der Job der Eltern, ohne Wenn und Aber! Doch man sollte nicht vergessen, dass kleine Kinder Emotionssammler sind. Sie beobachten ihr Umfeld und schauen, was sie mit ihrer Aktion auslösen. Sie studieren Ursache und Wirkung. Wenn sie beißen, entsteht eine starke Emotion bei den Erwachsenen, weil das ein Tabu ist. Für die Kinder ist das interessant. Wenn man wenig Aufhebens darum macht und es keine Wirkung auf die Ursache „Beißen“ gibt, wird es schnell uninteressant.

Das Gespräch führte Susanne Plecher.

Danielle Graf (40) ist Rechtsökonomin, Buchautorin und Bloggerin. Sie lebt mit ihrer Familie in Wandlitz.

Co-Autorin Katja Seide spricht am 16. März, 16 Uhr, und am 17. März, 11 Uhr, auf der Messe Baby-Welt in Dresden.