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Interview mit Günther Verheugen "Putin ist kein Wiedergänger von Stalin"

Günther Verheugen war Vizechef der EU-Kommission und kennt Russland seit Jahrzehnten. Im Interview mit SPIEGEL ONLINE spricht er über die Ukrainekrise und den Kalten Krieg - und fordert eine rhetorische Abrüstung.
Militärparade auf dem Roten Platz in Moskau: "Deutsche sind oberlehrerhaft"

Militärparade auf dem Roten Platz in Moskau: "Deutsche sind oberlehrerhaft"

Foto: IVAN SEKRETAREV/ AP
Zur Person
Foto: Grzegorz Momot/ picture alliance / dpa

Günter Verheugen, Jahrgang 1944, war von 1999 an zunächst EU-Erweiterungskommissar in Brüssel. Von 2004 bis 2010 war der SPD-Politiker (und ehemaliges FDP-Mitglied) dann einer der fünf Stellvertreter des EU-Kommissionspräsidenten José Manuel Barroso.

SPIEGEL ONLINE: Sie reisen seit fünf Jahrzehnten nach Moskau. Wie haben sich das Land und seine Hauptstadt verändert?

Verheugen: Im Oktober 1965 kam ich mit einer Studentengruppe der Universität Köln nach Moskau. Danach war ich endgültig immun gegen irgendwelche sozialistischen Verheißungen. Die Hauptstadt der östlichen Supermacht war grau und depressiv und ich war froh, dass ich wieder weg war. Über dem Land lag eine Tristesse, die auch seine Schönheit nicht aufwiegen konnte, die ich zwei Jahre später bei einer Reise mit der Jugendorganisation der FDP nach Sibirien entdeckte. Heute wirkt Russland auf mich europäischer als jemals in diesen fünfzig Jahren.

SPIEGEL ONLINE: Präsident Putin hat aber in den vergangenen Jahren die Bürgerrechte immer mehr eingeschränkt, bei Wahlen wird die Opposition massiv behindert.

Verheugen: Das alles stimmt und der politische Annäherungsprozess an Europa geriet schon vor zehn Jahren ins Stocken. Trotz aller anders lautenden Rhetorik und der vom Kreml proklamierten Hinwendung nach Asien ist die russische Elite letztlich nach Europa und zum Westen hin ausgerichtet. Wirtschaftlich bleibt Russland auf eine Zusammenarbeit mit der EU angewiesen. Und schauen Sie sich doch nur einmal Moskau an! Hier sieht man, welch rasanten Wirtschaftsaufschwung das Land seit 2000 erreicht hat.

SPIEGEL ONLINE: Futuristische Wolkenkratzer sind noch nicht Europa.

Verheugen: Sicher nicht. Ich meine das Lebensgefühl. Moskau ist heute eine moderne, europäische Stadt mit einer großen Dynamik. Die Geschäfte, das Internet überall, die alte und neue Architektur, die Autos, die Kontakte der Menschen ins Ausland. Russland ist kein abgeschottetes Land. In den Siebzigerjahren unter Leonid Breschnew war das ganze System erstarrt und sklerotisch. Es hatte den Kontakt zu den Menschen und zur Realität verloren. Ich war ein enger Mitarbeiter des damaligen Außenministers Hans Dietrich Genscher. Damals gelang es trotz aller Differenzen mit der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa 1975 eine Entspannung einzuleiten.

SPIEGEL ONLINE: Können Erfahrungen von damals helfen, die Ukrainekrise zu lösen und einen neuen, dauerhaften Kalten Krieg zu verhindern?

Verheugen: Alle müssen zunächst einmal rhetorisch abrüsten. Der Ton macht eben doch die Musik. Beide Seiten schränken ihren Handlungsspielraum durch einseitige und plumpe Schuldzuweisungen ein. Das vertieft den Konflikt erheblich.

SPIEGEL ONLINE: Was konkret meinen Sie?

Verheugen: Russland wird gerne nur als Land beschrieben, das auf dem Weg zurück in die Barbarei ist. Das stimmt aber nicht. Putin ist kein Wiedergänger von Zar Iwan dem Schrecklichen oder Josef Stalin. Russland seinerseits sollte mit seiner antiwestlichen Propaganda und Informationspolitik aufhören und sich von der Unterstellung verabschieden, dass der Westen in Moskau einen regime change anstrebt, einen Sturz Putins. Wir sollten anfangen, wieder in vernünftiger Lautstärke und mit vernünftigen Argumenten übereinander zu reden, besser aber noch miteinander. Und wir sollten anerkennen, dass auch Russland, und nicht nur wir legitime Interessen hat. Da hat der Papst völlig recht.

SPIEGEL ONLINE: Über was müsste vordringlich geredet werden?

Verheugen: Über eine Sicherheitsstruktur, die allen Ländern in Europa Frieden und Sicherheit gewährt. Über die alte, aber nach wie vor richtige Idee eines Wirtschaftsraums von Lissabon bis nach Wladiwostok an der russischen Pazifikküste. Über Flüchtlingsströme, den Kampf gegen Terrorismus und Umweltzerstörung. Über Syrien.

SPIEGEL ONLINE: Und nicht über unser unterschiedliches Verständnis von Menschen- und Bürgerrechten?

Verheugen: Unbedingt auch darüber. Ich möchte aber in aller Vorsicht Zweifel äußern, ob wir wirklich so weitermachen können wie bisher. Wir tun oft so, als ob nur wir Deutsche, Europäer oder Amerikaner ganz genau wissen, wie eine menschenwürdige politische und gesellschaftliche Ordnung überall in der Welt auszusehen hat. Viele andere Völker, ihre Regierungen, Intellektuelle, aber auch einfache Menschen finden diese Attitüde schlicht oberlehrerhaft. Ich meine nicht, dass wir unsere eigenen Werte aufgeben sollen. Wir sollten aber mehr zuhören, statt belehren zu wollen.

SPIEGEL ONLINE: Ist die EU mit ihrer östlichen Partnerschaftspolitik und dem Angebot eines Assoziierungsabkommens schuld an der Ukrainekrise?

Verheugen: Die östliche Partnerschaft zielt auf Länder, die früher zur Sowjetunion gehörten, auf die Ukraine, Moldau, Weißrussland und die Kaukasusstaaten. Ich frage mich schon, worüber die hohen Herren bei den jährlichen Russland-EU-Gipfeln geredet haben, wenn nicht darüber. Entweder haben wir es mit vollkommener Dialogunfähigkeit zu tun. Oder in Brüssel war man der Auffassung, dass es Russland schlicht nichts angehe, wenn die EU beispielsweise mit der Ukraine ein Assoziierungsabkommen abschließt, obwohl Russland damals der größte Handelspartner der Ukraine war. Nicht die östliche Partnerschaft war der Fehler. Der Irrtum war, darüber nicht genug mit Russland zu reden.

SPIEGEL ONLINE: Putin dürfte es nicht nur um Wirtschaft, sondern auch um Einflusszonen gehen.

Verheugen: Die Lehre aus der Entspannungspolitik und dem KSZE-Prozess der Siebzigerjahre ist, dass Frieden nur möglich ist, wenn keiner den anderen dominieren will und keiner imperiale Ansprüche erhebt. Das gilt für Russland, das gilt für die USA. Und auch die EU sollte größtmöglichen Abstand zu solchen Gelüsten wahren.