Die Anatomie von Schädeln steckt für Paläontologen voller Rätsel. Warum hatte Homo erectus so einen breiten Hinterkopf, warum hat der Neandertaler so ausgeprägte Oberaugenwülste und Homo sapiens einen frech vorspringenden Kinnknochen?
Zufall? Eine Laune der Natur? Oder ist es ein wichtiges Merkmal der Evolution?
Paul O’Higgins, Anatom an der University of York, interessiert sich seit Jahren dafür, was man aus der Anatomie von Schädeln über Menschen lernen kann. Nun hat er sich mit seinem Team ein besonders markantes Merkmal vorgenommen: die ausgeprägten Oberaugenwülste verschiedener Menschenarten. Homo erectus und Neandertaler haben sie, beim modernen Menschen sind sie hingegen kaum ausgeprägt.
Eine Theorie geht davon aus, dass der Oberaugenwulst nur eine Art Lückenfüller zwischen der Hirnschale und den Augenhöhlen ist. Diese beiden Schädelteile haben sich im Laufe der Evolution durch die Veränderung der Hirnanatomie und die Ausprägung des modernen Gesichts aufeinander zubewegt. Dadurch soll sich der Wulst praktisch hochgeschoben und den Schädel zusätzlich stabilisiert haben.
Eine zweite Theorie geht davon aus, dass der Oberaugenwulst etwas mit der Beißfähigkeit zu tun hat. Knochenhöcker sind häufig Ansatzstellen für Muskeln und Sehnen – und werden von Anatomen als Hinweis für die Funktionsweise von Körperteilen genutzt.
Der ausgebildete Mediziner O’Higgins wollte nun das Rätsel der Brauenwulste endgültig lösen. Er ging in die Sammlung des National History Museum in London und vermaß dort einen besonders markanten Schädel, den von Kabwe 1. Kabwe 1 war 1921 von dem Minenarbeiter Tom Zwiglaar in Kabwe, Sambia, gefunden worden. Heute zählt man ihn zu Homo heidelbergensis, eine Menschenart, die vor 600.000 bis 200.000 Jahren lebte. Bei diesem Schädel sind die Oberaugenwülste besonders stark ausgeprägt.
O’Higgins vermaß den Schädel, fertigte davon ein Modell im Computer an – und testete dann, welche Kräfte Muskeln entwickeln könnten, wenn der Knochen größer oder kleiner war. Das ernüchternde Ergebnis: Es war völlig egal, ob der Wulst mehr oder weniger wulstig war.
Auch die erste Theorie, nach der die Wülste die Verbindung zwischen Hirnschale und Augenhöhle bilden, konnte O’Higgins nicht bestätigen: Als Lückenfüller ist die Knochenstruktur viel zu prominent.
Wenn es keine biomechanischen Gründe gibt – warum hatten unsere Vorfahren und frühen Verwandten dann trotzdem fast alle diese Wülste über den Augen? Und warum hat der moderne Mensch sie nicht?
„Wenn man sich andere Tiere ansieht“, so O’Higgins, „dann kann man interessante Hinweise darauf finden, welche Funktion prominente Brauenbögen gehabt haben könnten.“ Die Seiten der Nase wären beispielsweise bei dominanten Mandrillmännchen auffällig bunt gefärbt. Dadurch würden sie anderen Affen ihren Status demonstrieren.
Je nach Hormonstatus würden diese farbigen Flächen größer, und an den darunterliegenden Knochen würden sich zudem feine kraterartige Strukturen bilden. „Diese Krater kennen wir auch von den Augenwülsten archaischer Menschenschädel“, sagt der Anatomieprofessor.
Zeichen für sozialen Status?
Paul O’Higgins sucht eine Erklärung jenseits der Anatomie. „Ein Geschlechtsdimorphismus und soziale Signale könnten eine wichtige Rolle unter unseren Vorfahren gespielt haben“, sagt er. Bei den frühen Hominiden hätten die Brauenwülste also eher dazu gedient, Dominanz und Attraktivität zu zeigen.
Im Laufe der Evolution sei es dann von Vorteil gewesen, freundliche Emotionen zu zeigen. „Das war wichtig, um soziale Bindungen zwischen Individuen aufzubauen.“ Die Augenbrauen hätten sich also immer stärker von einem reinen Signal zu einem echten Kommunikationsmittel gewandelt – wie sie es heute noch zwischen Menschen sind. Die Sprache der Augenbrauen entstand.
Im Journal „Nature Ecology & Evolution“ schreibt der Forscher: „Unsere haarigen Augenbrauen spielen bei uns heute eine wichtige Rolle in der sozialen Kommunikation.“ Sie sind sehr beweglich, können unter anderem Erstaunen, Zorn und Interesse signalisieren.
„Es ist beispielsweise über alle Kulturen hinweg zu beobachten, dass Menschen, die andere Menschen erkennen und bereit sind, in Kontakt mit ihnen zu treten, für etwa eine Sechstelsekunde die Augenbrauen heben. Wenn die Brauen aber auf knochigen Wülsten säßen, wären sie wesentlich weniger mobil“, so O’Higgins.
Wie wichtig bewegliche Augenbrauen heutzutage seien, so die Forscher, lasse sich auch gut durch den Trend zum Botoxen beobachten: „Menschen, deren Muskelaktivität in dieser Region vermindert ist, können anderen gegenüber weniger gut Mitgefühl zeigen und die Emotionen anderer auch schlechter lesen.“