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SFP 1-1

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Heft 1 2015<br />

Studentische Fachzeitschrift für<br />

Politikwissenschaft Jena<br />

Artikel<br />

The NPD, Democracy, and the Importance of Defending<br />

the Freedom of Speech<br />

Darius Taefi-Schandiz – Das politische System der Bundesrepublik<br />

Deutschland<br />

Der kulturlose Kontinent. Von der Persistenz eines<br />

deutschen Ressentiments<br />

Markus Wegewitz – Politische Theorie und Ideengeschichte<br />

Zum Einfluss nationaler Machtverhältnisse auf das<br />

Mandat von Wahrheitskommissionen. Ein Vergleich<br />

zwischen Südafrika und Chile<br />

Annegret Gräfe – Internationale Organisation und Globalisierung<br />

Die Frage nach der Anerkennung Somalilands. Zwischen<br />

Legalität, Legitimität und Opportunismus<br />

Simon Niehus – Internationale Beziehungen<br />

Konfliktanalyse zwischen Krieg und Frieden im 21.<br />

Jahrhundert - Sicherheitspolitik als Gegenstand des<br />

Sozialkundeunterrichts unter besonderer Berücksichtigung<br />

des Brückenproblems<br />

Florian Häckel – Didaktik der Politik<br />

(Regionale) Innovation und die Bedeutung von Sozialkapital<br />

in NUTS-I Regionen Europas<br />

Reinhold Melcher – Vergleichende Regierungslehre<br />

Russische Demokratie à la Putin. Hoch lebe der Wille<br />

des Volkes?<br />

Simon Döring – Außerplanmäßige Professur für Politikwissenschaft<br />

(Europäische Studien)<br />

Die Wahlrechtsreform von 2013. Problem des negativen<br />

Stimmgewichts behoben oder nur verschoben?<br />

Philipp Saxer – Außerplanmäßige Professur für Politikwissenschaft<br />

(Das politische System der Bundesrepublik Deutschland)<br />

Kontakt<br />

E-mail:<br />

sfp.uni.jena@gmail.com<br />

Homepage:<br />

www.sfp-jena.de<br />

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Team der <strong>SFP</strong> Jena. Wir möchten die Fachzeitschrift für Politikwissenschaft von Student/-<br />

innen für Student/-innen etablieren: helfende Köpfe und Hände werden hierfür dringend<br />

benötigt.<br />

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Ihr habt eine Arbeit mit politikwissenschaftlicher Relevanz geschrieben und wollt nicht,<br />

dass das Ergebnis Eurer Mühen in Archiven versauert? Ihr möchtet Eure Arbeit einem<br />

breiteren Publikum vorstellen und Euch im Wettbewerb mit anderen Studenten messen?<br />

Dann reicht Eure Arbeit unter: sfp.uni.jena@gmail.com ein. Folgende Kriterien müssen<br />

erfüllt sein:<br />

1. Ihr habt Eure Arbeit an einem Institut für Politikwissenschaft der in Deutsch oder<br />

Englisch verfasst,<br />

2. Beim Schreiben habt Ihr Euch streng an die Formalia des Instituts gehalten<br />

(siehe Leitfaden, wir verwenden die amerikanische Zitierweise),<br />

3. Ihr seit mindestens im vierten Semester eines Grundstudiengangs,<br />

4. Die Arbeit ist nicht älter als zwei Jahre,<br />

5. Die Arbeit wurde mit 1,0 bis 1,7 bewertet.<br />

Die Auswahl der zu veröffentlichenden Arbeiten erfolgt durch ein Doppelblindgutachten.<br />

Hierbei werden die Arbeiten von zwei anonymen unabhängigen Gutachtern begutachtet<br />

und anhand unseres Review-Sheets bewertet.<br />

Gutachter/-in werden:<br />

Du bist politikwissenschaftlich interessiert und möchtest Dich kritisch mit den studentischen<br />

Arbeiten auseinandersetzen? Dann unterstütze uns als Gutachter/-in, Deine Meinung<br />

zählt! Die Voraussetzungen, um Gutachterin bzw. Gutachter zu werden sind:<br />

1. Ihr studiert am Institut für Politikwissenschaft,<br />

2. Ihr befindet Euch mindestens im vierten Semester eines Grundstudiengangs,<br />

3. Ihr habt Euch bei den Herausgebern mit einer Hausarbeit beworben, die zuvor mit<br />

1,0 bis 1,7 bewertet wurde.<br />

Nutzungsbedingungen:<br />

Die Zeitschrift sowie alle in ihr enthaltenen Beiträge und Abbildungen können unter den<br />

Bestimmungen der 4.0 International Creative Commons Lizenz genutzt werden. Diese<br />

umfassen: (1) Namensnennung: Die Autoren übernommener Inhalte müssen kenntlich<br />

gemacht, inhaltliche Veränderungen angezeigt und ein Link zu den Lizenzbestimmungen<br />

(http://creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/4.0) angeben werden, (2) Nicht-kommerziell:<br />

Das Material in dieser Zeitschrift darf nicht für kommerzielle Zwecke verwendet werden<br />

und (3) Weitergabe unter gleichen Bedingungen: Änderungen der Inhalte dürfen nur unter<br />

den gleichen Lizenzbestimmungen weitergeben werden.<br />

ISSN: 2366-0821


Inhalt<br />

Grußwort des Institutsdirektors……………………………………………………………..I<br />

Vorwort zur ersten Ausgabe………………………………………………………………….II<br />

Editorial…………………………………………………………………………………………..…III<br />

The NPD, Democracy, and the Importance of Defending the Freedom of<br />

Speech<br />

Darius Taefi – Das politische System der Bundesrepublik Deutschland………………………..1<br />

Der kulturlose Kontinent. Von der Persistenz eines deutschen Ressentiments<br />

Markus Wegewitz – Politische Theorie und Ideengeschichte…………………………………..12<br />

Zum Einfluss nationaler Machtverhältnisse auf das Mandat von Wahrheitskommissionen.<br />

Ein Vergleich zwischen Südafrika und Chile<br />

Annegret Gräfe – Internationale Organisation und Globalisierung……………..…………..….21<br />

Die Frage nach der Anerkennung Somalilands. Zwischen Legalität, Legitimität<br />

und Opportunismus<br />

Simon Niehus – Internationale Beziehungen…………………………………………….……….43<br />

Konfliktanalyse zwischen Krieg und Frieden im 21. Jahrhundert – Sicherheitspolitik<br />

als Gegenstand des Sozialkundeunterrichts unter besonderer<br />

Berücksichtigung des Brückenproblems<br />

Florian Häckel – Didaktik der Politik………………………………………………………….……62<br />

(Regionale) Innovation und die Bedeutung von Sozialkapital in NUTS-I Regionen<br />

Europas<br />

Reinhold Melcher – Vergleichende Regierungslehre……………………………………...…….81<br />

Russische Demokratie à la Putin. Hoch lebe der Wille des Volkes?<br />

Simon Döring – Außerplanmäßige Professur für Politikwissenschaft (Europäische Studien)……………………………………………………….………………………………………..…98<br />

Die Wahlrechtsreform von 2013. Problem des negativen Stimmgewichts behoben<br />

oder nur verschoben?<br />

Philipp Saxer – Außerplanmäßige Professur für Politikwissenschaft (Das politische System<br />

der Bundesrepublik Deutschland)…………………………………………...……………...……118


Grußwort des Institutsdirektors<br />

__________________________________________<br />

Wie jede formale Organisationseinheit ist auch das Institut für Politikwissenschaft der Friedrich-Schiller-Universität<br />

Jena vom Engagement der darin Handelnden abhängig. Damit sind<br />

auch, aber nicht nur, die am Institut arbeitenden Professoren und Mitarbeiter(innen) angesprochen.<br />

Die Arbeit des Instituts ist zudem im besonderen Maße auf die Bereitschaft der Studierenden<br />

angewiesen, sich in den Seminaren oder etwa der universitären Selbstverwaltung einzubringen.<br />

Die Erfahrungen der letzten Jahre zeigen, dass sich die Studierenden engagiert für ihre<br />

eigenen Interessen und auch die Interessen des Institutes einsetzen und hierzu eng mit den Professoren<br />

und Mitarbeiter(inne)n zusammenarbeiten. Es ist unter anderem diese vertrauensvolle<br />

Kooperation, die dem Institut für Politikwissenschaft jüngst einen Spitzenplatz im CHE-Hochschulranking<br />

und vor allem hohe Werte bei der Zufriedenheit der Studierenden mit der Betreuungssituation<br />

verschaffte.<br />

Aus diesem kooperativen Klima heraus ist nun auch die erste studentische Fachzeitschrift<br />

des Instituts entstanden, in der besonders gelungene Seminararbeiten veröffentlicht werden. Die<br />

in den Seminaren und Seminararbeiten unternommenen Anstrengungen erfahren hierdurch über<br />

die Note hinaus eine besondere Anerkennung. Studierende können erste Publikationserfahrungen<br />

sammeln und dadurch mit einem weiteren Bereich wissenschaftlichen Arbeitens in Berührung<br />

kommen: Seminararbeiten verschwinden nicht lediglich im Aktenschrank, sondern werden<br />

einem breiteren Publikum zugänglich gemacht und damit der wissenschaftlichen Gemeinschaft<br />

zur Verfügung gestellt. Dadurch leistet die Zeitschrift auch einen wertvollen Beitrag für<br />

das Institut und dokumentiert Aspekte der hier geleisteten Arbeit über Seminar- und Institutsgrenzen<br />

hinweg. Die Breite der in der vorliegenden ersten Ausgabe bearbeiteten Themen zeigt<br />

dabei die Vielfalt der inhaltlichen Arbeit am Institut.<br />

Ich bedanke mich für das vom Herausgeberkreis und von den ersten studentischen<br />

Auor(inn)en gezeigte Engagement und wünsche der Zeitschrift viel Erfolg!<br />

Prof. Dr. Michael May<br />

Institutsdirektor<br />

I


Vorwort zur ersten Ausgabe<br />

______________________________________<br />

Liebe Leserschaft,<br />

liebe Interessentinnen und Interessenten,<br />

liebe Kommilitoninnen und Kommilitonen,<br />

habt Ihr es nicht auch satt, dass die mühsam von Euch angefertigten Hausarbeiten nach<br />

der Notenvergabe in der Versenkung verschwinden?<br />

Falls ja, seid Ihr hier genau richtig! Auch studentische Arbeiten können einen akademischen<br />

Wert besitzen und Impulse setzen. Daher möchten wir Euch die eine Plattform bieten,<br />

um Eure Arbeiten zu veröffentlichen und damit den wissenschaftlichen Austausch an unserem<br />

Institut anzuregen. Wir freuen uns, Euch endlich die erste Ausgabe der Studentischen Fachzeitschrift<br />

für Politikwissenschaft Jena (<strong>SFP</strong>) präsentieren zu können. Die <strong>SFP</strong> ist ein Projekt, mit<br />

dem wir als Herausgeber den Dialog zwischen der Studendierendenschaft und den Mitgliedern<br />

des Instituts für Politikwissenschaft der Friedrich-Schiller-Universität Jena fördern wollen.<br />

Gleichzeitig soll die Zeitschrift eine Plattform für den wissenschaftlichen Austausch unter Studentinnen<br />

und Studenten bieten.<br />

Auch wenn die Grundidee der <strong>SFP</strong> recht simpel erscheinen mag, bietet eine studentische<br />

Fachzeitschrift weitreichende Möglichkeiten. Erstens gibt sie Euch die Chance, Eure Hausarbeiten<br />

sinnvoll weiter zu verwerten und Erfahrung im Bereich des Publizierens zu sammeln.<br />

Schließlich müsst Ihr Euch unserem Gutachterprozess stellen, dessen Überwindung eine gewisse<br />

Referenz darstellt. Zweitens stellt die <strong>SFP</strong> eine Informationsmöglichkeit dar, dank der<br />

Ihr Einblicke und wissenschaftlich fundierte Informationen über diverse Themen erhaltet. Drittens<br />

bietet sie Euch eine Orientierungshilfe, denn es können nur Hausarbeiten veröffentlicht<br />

werden, die mit 1,0, 1,3 oder 1,7 bewertet wurden. Somit dienen die Aufsätze der <strong>SFP</strong> als Orientierung<br />

dafür, was eine überdurchschnittlich gute Hausarbeit ausmacht. Darüber hinaus zeigen<br />

Euch die Aufsätze, welche Themenvielfalt die Politikwissenschaft bietet. Folglich habt Ihr<br />

die Möglichkeit, über den Tellerrand Eurer jeweiligen Teildisziplin zu schauen und Euch mit<br />

Themen anderer Teilbereiche der Politikwissenschaft zu beschäftigen.<br />

Der Erfolg der <strong>SFP</strong> hängt entscheidend von Eurer Mitarbeit ab! Eine Fachzeitschrift kann<br />

ohne interessierte Leserinnen und Lesern sowie eine gut organisierte Autoren- und Gutachterschaft<br />

nicht bestehen. Deswegen fordern wir Euch auf, mutig zu sein und Euch zu engagieren.<br />

Die Möglichkeiten hierfür sind vielfältig und beginnen beim bloßen Lesen der Zeitschrift. Darüber<br />

hinaus könnt Ihr Eure Arbeiten einreichen, am Gutachterprozess teilnehmen oder uns als<br />

Herausgeber unterstützen.<br />

Wir hoffen die <strong>SFP</strong> gefällt Euch und sind auf Eure Meinung gespannt.<br />

Steve, Florian, Joscha und Jonas<br />

II


Editorial<br />

_________________<br />

Mit der ersten Ausgabe der <strong>SFP</strong> möchten wir Euch die thematische Vielfalt der Politikwissenschaft<br />

vor Augen führen und zur Beteiligung an diesem Projekt aufrufen. In diesem Heft findet<br />

Ihr Aufsätze von allen Lehrstühlen und Professuren des Instituts für Politikwissenschaft der<br />

FSU Jena.<br />

Aus dem Bereich des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland erörtert Darius<br />

Taefi-Schandiz in seinem Beitrag „The NPD, Democracy, and the Importance of Defending the<br />

Freedom of Speech” den Widerstreit zwischen Meinungsfreiheit und der Bedrohung der deutschen<br />

Demokratie am Beispiel des durch den Bundesrat angestrengten NPD-Verbotsfahrens.<br />

Markus Wegewitz analysiert den grassierenden Antiamerikanismus und zeigt mit seinem<br />

Aufsatz „Der kulturlose Kontinent. Von der Persistenz eines deutschen Ressentiments“ aus dem<br />

Bereich der Politischen Theorie und Ideengeschichte dass, der Versuch einer kulturellen Abgrenzung<br />

mehr über die Protagonisten aussagt als über das angegriffene Objekt selbst.<br />

Über die Problematik gruppenspezifischer Einflussnahme auf das Wirken von Wahrheitskommissionen<br />

schreibt Annegret Gräfe an der Professur für Internationale Organisationen und<br />

Globalisierung. Dabei stützt Sie ihre Argumentation auf eine vergleichende Analyse zwischen<br />

den getätigten Aufarbeitungsprozessen in Südafrika und Chile.<br />

Das Entstehen von Staaten oder staatenähnlichen Gebilden ist keine Seltenheit. Simon Niehus<br />

betrachtet in seiner in der Teildisziplin der Internationalen Beziehungen verfassten Arbeit<br />

„Die Frage nach der Anerkennung Somalilands. Zwischen Legalität, Legitimität und Opportunismus“<br />

eine dieser komplexen Situationen genauer.<br />

Wie Sicherheitspolitik sinnvoll in den Schulunterricht integriert und das Brückenproblem<br />

gelöst werden kann, zeigt Florian Häckel mit seinem Aufsatz „Konfliktanalyse zwischen Krieg<br />

und Frieden im 21. Jahrhundert“ in der Didaktik der Politik.<br />

Ein gutes Beispiel für einen Literaturbericht sowie einen Forschungsdesign stellt der Beitrag<br />

„(Regionale) Innovation und die Bedeutung von Sozialkapital in NUTS-I Regionen Europas“<br />

von Reinhold Melcher aus der Vergleichenden Regierungslehre dar.<br />

Mit dem provokanten Titel „Russische Demokratie à la Putin. Hoch lebe der Wille des<br />

Volkes?“ zeichnet Simon Döring im Bereich der Europäischen Studien die seit Wladimir Putins<br />

Amtsantritt vorgenommenen einschneidenden Veränderungen im politischen System des russischen<br />

Staates nach.<br />

Ebenfalls mit einer interessanten Frage nähert sich Philipp Saxer in seinem für den Bereich<br />

des politischen Systems in der BRD verfassten Beitrag „Die Wahlrechtsreform von 2013. Problem<br />

des negativen Stimmgewichts behoben oder nur verschoben?“ und kommt dabei zu dem<br />

Schluss, dass ein gänzlich stabiles Wahlsystem wohl nie existieren wird.<br />

III


The NPD, Democracy, and the Importance of Defending the Freedom<br />

of Speech<br />

Darius Taefi-Schandiz<br />

Introduction<br />

Süleyman Taşköprü, Mehmet Turgut and Mehmet Kubaşık. Those are three names out of a list<br />

totaling ten “Döner murder” victims, which were murdered by a radical neo-nazi group called<br />

the National Socialist Underground (NSU) in Germany between the years 2000 and 2006. The<br />

NSU was alleged to have been affiliated with a German right wing political party, the Nationaldemokratische<br />

Partei Deutschlands (NPD), sparking a debate about whether the NPD should<br />

be banned in Germany. A ban was previously attempted in the years 2000 to 2003, but consequently<br />

failed due to procedural inaccuracies. However as more details of the NSU's murder<br />

spree has come to light, due to the public trial of the sole NSU survivor Beate Zschäpe, a renewed<br />

attempt to ban the NPD has been made in December 2013. The rationale being that the<br />

NPD is engaging in acts that threaten German democracy and the constitution. The case has<br />

flared up a lively debate on whether the NPD should be banned or not, with literally all of<br />

Germany's mainstream political parties, the CSU, SPD, Bündnis 90 Die Grünen and Die Linke<br />

in favor of a ban (Aicher 2013; Kühne 2013; Lötzsch; 2011; o.V. 2011)<br />

However, this paper will argue against a NPD ban, by showing that the case for a ban is<br />

largely based on words and not actions of the NPD, and that therefore German democracy in<br />

effect does not protect free speech. In order to do this it is necessary to first exhibit some of the<br />

evidence presented in the Government's case on which the NPD is supposed to be banned in<br />

order to prove that the case is largely built on NPD Speech. Second, to illustrate why that is a<br />

problem, this paper will set out to define sensible principles and limits of free speech. Then we<br />

will analyze how these principles are not valued in dictatorships compared to democracies and<br />

how a democracy that values free speech therefore would apply them, in order to prove that<br />

Germany's free speech protections in principle do not differ from that of a dictatorship.<br />

Finally, the paper will seek to illustrate where the real danger to German democracy and<br />

free speech lies, by using the framework of political debate on the NPD-Ban issue as an exemplary<br />

case. Through analyzing the media led political debate and by highlighting its flaws and<br />

dangers, it will argue why banning the NPD on grounds of 'only speech crimes' is not possible,<br />

if German democracy seeks to still uphold free speech principles. In addition, it will demonstrate<br />

how the arguments presented by the respective advocates for and against a ban, are ignoring<br />

democratic and free speech values, and how they as a result, work to promote the same<br />

totalitarian mindset which they claim to combat.<br />

1


The Government's Case<br />

To begin with, it is important to demonstrate that a substantial, if not most of the Government's<br />

case is based on collections of NPD speeches, declarations or other such materials. This serves<br />

to prove that Government's attempt to the NPD is in effect, if a charge is based on nothing else,<br />

an attempt to curtail the NPD's right to free expression.<br />

On the 3 rd of December 2013 Germany's Union Assembly (Bundesrat) officially submitted<br />

it's lawsuit of the NPD to Germany's Constitutional Court (Bundesverfassungsgericht (BVG))<br />

(Balk 2014). The following is a sample of charges brought by the Bundesrat's officially submitted,<br />

265 page document, Antrag nach Art. 21 Abs. 2 GG i.V.m §§ 13 Nr. 2, 43 ff. BverGG.<br />

As an initial confirmation of this paper's thesis, that the charges are largely based on public<br />

statements, we read on pages eighteen to nineteen,<br />

„Der Antrag ist maßgeblich aus allgemein zugänglichen Materialien informiert. [...]<br />

Von besonderem dokumentarischem Wert sind zahlreiche programmatische Äußerungen,<br />

[...]” (Möllers/Waldhoff 2013: 18-19).<br />

Included is evidence from police investigations, described as,<br />

„[...] von der Polizei vorgenommene [...] Beobachtung öffentlicher Veranstaltungen<br />

der Antragsgegnerin (NPD), die es der Polizei gestatten, mit Hilfe von Notizen oder<br />

anderen Formen der Aufzeichnung Aktivitäten der Partei zu dokumentieren” (Möllers/Waldhoff<br />

2013: 19-20).<br />

In addition the charge sheet cites, “[...] Erkenntnisse aus der empirischen sozialwissenschaftlichen<br />

Forschung [...]” (Empirical Social Studies), as well as, „Sachverständigergutachten”<br />

(Expert testimony) (Möllers/Waldhoff 2013: 20, 22). As a result we conclude, that the<br />

Government's case rests on three Pillars of evidence. One, NPD statements and speeches, two,<br />

Police records of speeches, three social studies and expert testimony. Next, we examine three<br />

examples given in the paper, to evaluate the nature of NPD speech and activities.<br />

One: Anti-Semitism<br />

In the section A. Sachverhalt/III Ideologie/5. Insbesondere Antisemitismus, the following evidence<br />

is presented. The paper list's „[...] offen antisemitische Äußerungen, auch wenn einzelne<br />

Begriffe entsprechend konnotiert sind”. Such as „fremdreligiösen Bauten”, „Zinswucher”,<br />

„Weltdiktatur des Großkapitals”, or „Bundesrepublik als ‚Judenrepublik‘”, „jüdisch-amerikanische<br />

Interessen” and „Krummnasen für Juden“ (Möllers/Waldhoff 2013: 52).<br />

Two: Parlamentary Statements<br />

The following are exerts from the section A. Sachverhalt/IV. Politische Aktivität, in 1. Parlamentische<br />

Aktivität (Landtage). In evidence is the „Verachtung des demokratisch-parlamentischen<br />

Systems” (Möllers/Waldhoff 2013: 60), by quoting the NPD's Tino Müller, who stated:<br />

2


„Seit Jahrzehnten zeichnen Sie (die „Damen und Herren der Blockparteien”) sich als<br />

besonders dienstbeflissen gegenüber fremden Herren aus, ganz so, wie es unter den<br />

US-amerikanischen oder sowjetischen Besatzern eingeübt wurde. Diese Dressur<br />

wurde verinnerlicht und gelangt heute zur Perfektion.” (Müller 2008: 109)<br />

In addition further antisemitism is exhibited by quoting NPD party chief Holger Apfel, who<br />

called Israel a „Schurkenstaat“, „jüdische[r] Terrorstaat” „und spricht von blühende[r] Holocaust-Industrie”<br />

(Apfel 2010: 60). Furthermore, during a parlamentary debate he stated the<br />

following: „Mit diesem miesen Spiel der jüdischen und islamischen Lobby in diesem Land<br />

muss endlich Schluss sein. [...] Hängen sie sich nicht länger am Rockzipfel der jüdischen und<br />

islamischen Lobby!” (Apfel 2012: 6564).<br />

Three: Solidarity with Criminal Convicts & the NSU<br />

The next exhibits are also from the afore mentioned section of IV. Politische Aktivität/5.<br />

Rechtswidriges Handeln, einschließlich Straftaten. One charge is the alleged visit of a<br />

convicted arsoner to the NPD's cabinetminister (Fraktionsvorsitzender) Udo Pastörs (Möllers/Waldhoff<br />

2013: 90). Another is an article by former NPD functionary Hans Püschel called<br />

„Sind die 'Dönermörder' verfassungsmäßige Widerständler?”: „[...] jedoch besteht nach Meinung<br />

einiger Staatsrechtler das Recht, Anschläge und Morde zu begehen! [...]” (Möllers/Waldhoff<br />

2013: 90).<br />

One may strongly disagree with the listed statements, reasonably question their content and<br />

moral character, as well as point out the fact that under German Criminal law (Strafgesetzbuch<br />

(StGB)) it is a crime to insult or call for violence against ethnic groups or populations (§ 130<br />

Abs. 1 Satz 2, StGB). Some of the listed statements could be judged to be of a character that<br />

applies to §130. However criminal justice is not at issue here, as this paper focuses on the right<br />

to free speech of the NPD in regard to the constitutional case against it by the government.<br />

What is important in this case is that the three listed examples support the assertion that<br />

even though already conceded by the Authors in advance, the charges against the NPD are<br />

indeed based to a substantial extend on Statements, Speeches and Pronouncements of NPD<br />

functionaries and personnel. Also of note is that none of the statements cited caused any harm<br />

or danger at the time when they were made.<br />

Minor cases of direct NPD involvement in crimes and attacks are also listed which may<br />

play a part in a constitutional ruling against the Party, but this possibility is not relevant to this<br />

paper, as in those cases of actual criminal actions, the issue of having the freedom to speak<br />

does not airse. However the main thrust of evidence against the NPD is based on speech, which<br />

is an important conclusion to keep in mind as we proceed.<br />

In the concluding statement of the Antrag nach Art. 21 document, the authors concede that<br />

„Rechtsextremistische fremdenfeindliche Äußerungen mögen verwerflich sein, aber sie bedrohen<br />

die Ordnung des Grundgesetzes nicht notwendig unmittelbar.” (Möllers/Waldhoff 2013:<br />

242)<br />

3


However, as the prosecution knows, in order to have a chance at a ruling against the NPD,<br />

it has to be proven that the NPD has an actively hostile demeanor against the existing order<br />

(„aktiv kämpferische, aggressive Haltung gegenüber der bestehenden Ordnung” (Bundesverfassungsgericht<br />

1956: 3)). This is the wording used to justify the ban of the KPD party in 1956<br />

by the German Constitutional Court. However, in the NPD case what exactly this actively hostile<br />

demeanor against the existing order looks like is not clear as it is not defined in unambiguous<br />

terms.<br />

What is clear however is that the government seeks to prove that an actively hostile demeanor<br />

against the existing order is evident, by citing mainly NPD speech. Therefore drawing<br />

the conclusion that words essentially amount to weapons which are used as such against the<br />

state.<br />

However according to the German constitution the right to freedom of speech is guaranteed.<br />

As a result the question arises in what sense and how far is the right to freedom expression<br />

protected in Germany? Does that 'German' protection of speech even have a moral value in the<br />

way it is applied? In other words on what principles is free speech protected in Germany?<br />

The Concept and Limits of Freedom of Speech<br />

So far we have established that the German government seeks to ban the NPD party by presenting<br />

evidence which is largely based on speech. The government argues that to a substantial part,<br />

words alone are enough to prove that a party ought to be banned from political participation.<br />

Presumably because in the examples cited, words are weapons and have the effect of actions as<br />

defined by the BVG. Next we seek to investigate if German democracy really does value freedom<br />

of expression based on principles that go beyond what dictatorships would accept.<br />

To do that it is necessary to lay out the concept and limits of freedom of expression. We<br />

then use this formula to explore how these principles are upheld in non-democratic regimes in<br />

order to compare them to the German principles of free speech protections, to establish that<br />

German democracy does not value freedom of expression based on principles that go beyond<br />

those of a totalitarian doctrine.<br />

The Concept of Free Speech<br />

„I do not agree with what you have to say, but I'll defend to the death your right to say it.”<br />

(Voltaire in Boller 1989: 124–126)<br />

The famous quote often attributed to Voltaire many would agree in essence captures the basic<br />

principles on which Free Speech is based. 19 th Century philosopher John Stuart Mill offers a<br />

similar interpretation: “[...] there ought to exist the fullest liberty of professing and discussing,<br />

as a matter of ethical conviction, any doctrine, however immoral it may be considered” Mill<br />

1859: 102). Another alternative comes from MIT's Noam Chomsky, who stated in defence of<br />

the rights of holocaust denier Robert Faurisson: „that it is precisely in the case of horrendous<br />

ideas that the right of free expression must be most vigorously defended; it is easy enough to<br />

defend free expression for those who require no such defense” (Chomsky 1980).<br />

4


However one exactly defines it agreement has to at least exist on the fact that the issue of<br />

defending speech only surfaces in cases where conditions exist that seek to prevent the expression<br />

of certain opinions. In short there is no moral value to defend the right to express an opinion<br />

if everyone agrees on that opinion.<br />

As a result it follows that the more the rights of someone to express an opinion is threatened,<br />

the more important it is to defend the rights of the individuals to express that opinion.<br />

The defence of speech matters particularly in these cases, and only then does their defence<br />

have a moral value. However defending the right to express an opinion does not mean that one<br />

agrees with the opinion. One can thoroughly disagree with the opinion expressed but still call<br />

for the rights of the individual who expresses them to be upheld. In principle this should apply<br />

to any opinion whether expressed by liberal or conservative, NPD or CDU.<br />

So far this Author would expect most readers – with the exception of fascists and stalinists<br />

- to agree on this definition of freedom of speech. In addition most would agree that the NPD's<br />

right to express their views to a certain extend has to be defended, however reprehensible these<br />

may seem to one's ear. Though how far one can defend the right to speech is contested, as the<br />

consensus is pretty thin when it comes to determining where the limits of freedom of speech<br />

are. Opinions vary, however in a liberal democracy such as Germany, one can and should expect<br />

that freedom of expression is permitted in a very broad framework. A Framework that allows<br />

for the basic principles of free speech to be upheld while only limiting certain speech which<br />

goes beyond mere speech in its immediate effect.<br />

The Limits of Free Speech<br />

The right to free speech cannot be absolute. Therefore limits to freedom of expression should<br />

be set. However where these limits are set determines if the basic principles of free speech are<br />

upheld in a way that they still have a moral value. Judged by that moral value, one can clearly<br />

set democracies apart from dictatorships.<br />

To explain where a democracy should set the limits of expression, this paper will - to prevent<br />

controversy - rely on principles which originated in the 18 th Century enlightenment. Principles<br />

thought up from authors such as Voltaire, John Stuart Mill and David Hume. Rather than<br />

trying to define every form of speech that is allowed, defining a narrow range of cases where<br />

speech is not protected is a better endeavor. Writing in 1859 on where speech should meet its<br />

limits, John Stuart Mill argues in his book On Liberty:<br />

„[...] I hold that the instigation to it [Violence], in a specific case, may be a proper<br />

subject of punishment, but only if an overt act has followed, and at least a probable<br />

connection can be established between the act and the instigation” (Mill 1859: 102;<br />

underline added).<br />

Mill's definition states that speech should only be protected as so far that it causes no immediate<br />

harm to others. As a result telling a robber who is pointing a gun at someone to 'shoot'<br />

for example is not speech which is protected under those free speech principles, as it would<br />

cause immediate harm to others.<br />

5


However one may ask if the 'immediate harm' principle is actually accepted by any country<br />

at all? Because maybe this 18 th Century concept is one that is too unrealistic or simplistic to be<br />

applied. This is simply not the case, the United States which probably has the strongest protection<br />

of speech of any country, has had many rulings in defence of speech while applying just<br />

these principles. Such as in the court case of Brandenburg v. Ohio (1969), a ruling in favor of<br />

the Ku Klux Klan's freedom of speech, in which the judges held that:<br />

„[...] the constitutional guarantees of free speech and free press do not permit a State<br />

to forbid or proscribe advocacy of the use of force or of law violation except where<br />

such advocacy is directed to inciting or producing imminent lawless action [...]” (U.S.<br />

Supreme Court 1969).<br />

Or Schenk v. U.S. (1919) in which the Judges ruled that: „The question in every case is<br />

whether the words used are used in such circumstances and are of such a nature as to create a<br />

clear and present danger [...]” (U.S. Supreme Court 1919).<br />

The simple „immediate harm” or „clear and present danger” prerequisite sets a bar of minimal<br />

standard, with which we can test if Germany is forbidding speech because of real and<br />

present dangers or if it simply uses this as an excuse to ban speech it does not like, which usually<br />

is the practice in authoritarian regimes.<br />

However it does not follow that all other types of speech which do not meet this „clear and<br />

present danger” criteria are therefore allowed, but it should establish that if speech is criminalized,<br />

a hard burden of proof has to bet met in order to justify why this speech is not protected.<br />

A burden of proof that should be met in only the most extreme of circumstances and therefore<br />

very rarely be valid.<br />

Comparing Free Speech Principles of Dictatorships & Democracies<br />

In authoritarian dictatorships the limits to expression are set clearly enough. For example the<br />

following headlines vividly illustrate where dictatorships draw the line: „Twitter activists jailed<br />

in Bahrain for insulting king” (o.V. 2013), „Egyptian activist detained on charges of insulting<br />

president” (Fick 2013), „[Saudi] Human rights lawyer sentenced to prison for insulting the<br />

kingdom [...]” (o.V. 2014). In these as in many other cases the regimes do not even try to attempt<br />

to prove that there is an imminent harm that followed due to the opinions expressed. It suffices<br />

that the leader was criticized, therefore you are violating arbitrary laws that criminalize such<br />

statements. The Principle on which speech is permitted is clear: Any opinion can be expressed<br />

as long as the leader agrees with that opinion. We conclude simply that there is no actual right<br />

to free expression in these countries.<br />

Of course in comparison Germany's standards go far beyond that of dictatorships, in that<br />

respect they differ to a large extend. Nobody in Germany has to fear prosecution for insulting<br />

the Chancellor because they published critical writings against the Government. Yet, even<br />

though Germany's free speech frame in which opinion can be expressed is much larger, is it in<br />

principle any different? The simple answer is it is not. Germany also makes no attempt at proving<br />

that speech is to be forbidden or punished because of an imminent harm that was caused by<br />

6


it as a result. German criminal law bans „Schriften (§ 11 Abs. 3) die zum Haß gegen Teile der<br />

Bevölkerung [...] aufstacheln, [...] öffentlich ausstellt, anschlägt, vorführt oder sonst zugänglich<br />

macht.” (§130 Abs. 2 StGB) One may justify this paragraph by arguing that if allowed, writings<br />

that call for hate against parts of ethnic populations will cause imminent violence due to Germany's<br />

history of Nazism. But no such argument has been attempted, it is simply arbitrarily<br />

ruled that it is illegal to publish such writings. To clarify, the question if it is right or wrong in<br />

principle to ban speech is not the issue, the problem is the core principle on which Germany<br />

rules speech to be legitimate or illegitimate.<br />

This one example does not suffice to prove that all German laws curtailing speech are<br />

against the principles of free speech. But it does illustrate that German law does not accept the<br />

most elementary 18 th Century principles. And this problem surfaces in the case of the NPD ban.<br />

The German prosecution argues that words spoken can be used as grounds against the party to<br />

justify a ban of the NPD, even though there is no immediate harm that followed by their statements.<br />

After all it seems that dictatorships and democracies such as Germany do have some things<br />

in common with regard to the defence of freedom of speech. They both insist that speech is<br />

criminal if it violates their more or less arbitrary laws, even though it may not have harmed<br />

anyone. As a result, both refuse to defend the right to express – extreme and therefore important<br />

to be defended - unpopular opinions. They therefore need to accept that their protection of freedom<br />

of speech has no moral value. Because they refuse to justify the curtailing of unwanted<br />

expression on grounds other than arbitration. In summary, they both basically allow opinions<br />

that they agree with, Germany far more so than dictatorships do, but refuse to defend the rights<br />

of opinions to be expressed with which either their leader (dictatorships) or their laws (democracies)<br />

disagree with.<br />

The Real Threats to Democracy & Free Speech<br />

So far we have established that the German protection of freedom of expression is not based on<br />

valuable or moral principles of free speech. We have concluded that by investigating the Government's<br />

case against the NPD. The NPD's kind of speech is not protected.<br />

This paper does not agree that a mere sampling of NPD speech suffices to prove that they<br />

pose a severe threat to democracy and freedom. Instead this paper seeks to illustrate what it<br />

deems to be the real threat to democracy and free speech in Germany, it is the principle on<br />

which the media and politicians conduct the political discourse on a NPD-Ban.<br />

The debate on a NPD-Ban is divided into Pro and Contra-Ban arguments. The arguments<br />

for a ban range from Idealism: „Vor allem wird für jedermann auf der öffentlichen Bühne demonstriert,<br />

wofür dieser Staat steht und wofür nicht” (Volkmann 2012: 22). To pragmatism,<br />

„Ein NPD-Verbot wäre ein herber Rückschlag für die gesamte rechtsextreme Szene.” (Klose<br />

2013). To absolutism: „Natürlich müsste die NPD verboten sein. Sie ist unerträglich und für<br />

ein Land mit so einer Vergangenheit eigentlich auch untragbar” (Dahlkamp 2012).<br />

7


The Contra-Ban arguments are also largely based on pragmatism: „Ein Verbotsantrag ist<br />

aussichtslos” (Pau 2013), even though a slight allegiance to free speech principles can be detected,<br />

„Tatsache ist, dass die NPD weder durch Gewalttaten noch den militanten "Kampf um<br />

die Straße" auffällt” (Meier 2013).<br />

However, it seems that neither side sees the Government's attempt to instrumentalise NPD<br />

speech to ban the party, and refusal to protect their rights to speak as a problem. Both sides<br />

insist that the NPD's right to free speech should be ignored. Therefore they in effect insist that<br />

the political discussion takes place on totalitarian principles, which take for granted that speech<br />

that harms nobody still amounts to a crime against the state. Therefore the basic problem discussed<br />

is if a ban will succeed or how effective it will be.<br />

That in essence is where the real danger to democracy and free speech lies. A political<br />

discourse that ignores the importance of defending the rights of unpopular opinions. Consequently<br />

a danger exists that a totalitarian mindset is taken for granted, as free speech principles<br />

are ignored during the discussion. As a result the Pro-Contra-Ban debate serves more to harm<br />

democracy than to aid it.<br />

This paper has illustrated why it is most important to insist on the NPD's right to express<br />

their opinions. Because these are the only cases in which it actually matters to defend free<br />

speech. The media discourse should first argue that the NPD should not be banned based on<br />

what they say, because the NPD has an inalienable right to express their opinions. Furthermore,<br />

speech, which in Germany should be protected beyond the hypocritical standards of what dictatorships<br />

take for granted, has to be allowed as long as it causes no immediate harm to others.<br />

Finally it is important to protect the NPD's rights, precisely because we are not Nazis and therefore<br />

understand that a democracy should allow the kind of opinions against the system which<br />

the Nazis themselves would never have allowed.<br />

Conclusion<br />

„Du stimmst zu 8 Prozent mit den Argumenten für ein Verbot überein.” That is this Authors -<br />

unsurprising - test result on the NPD-Verbot Online Test, available on the website of the Federal<br />

Agency for Political Education (Bundeszentrale für politische Bildung (Bpb)) (BpB 2014).<br />

Given what this paper has illustrated many readers should not score much different.<br />

It has demonstrated that the German state does not protect the principles of free speech. It<br />

has done so by examining the evidence presented by the Government to ban the NPD and concluded<br />

that it largely relies on speech in order to prove that the NPD is a threat to German<br />

democracy. Second it has defined universal principles and sensible limits of free speech in order<br />

to demonstrate why a democracy that seeks to defend freedom of expression, can not claim to<br />

forbid speech which does not pose an imminent danger. Lastly it has attempted to argue that<br />

German political discourse is not based on free speech principles and moreover promotes a<br />

totalitarian mindset which poses a threat to democracy by ignoring and refusing to call for the<br />

defence of NPD's rights to freedom of expression.<br />

8


Instead this paper calls for the charges against the NPD to be dropped, because as demonstrated<br />

by this paper they should be regarded as a hypocritical attempt at banning an unwanted<br />

party by veiling undemocratic principles in the garb of protecting democracy and concern for<br />

the public.<br />

Those who still consider a ban of the NPD to be just while at the same time mourning the<br />

victims of the NSU, may want to keep in mind a truism expressed by Noam Chomsky regarding<br />

an all too familiar case. „It is a poor service to the memory of the victims of the Holocaust [or<br />

the NSU] to adopt a central doctrine of their murderers” (Chomsky 1992).<br />

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10


Persönliche Stellungnahme des Autors<br />

Ich habe mich für dieses Thema entschieden, da ich jemand bin, dem das Recht auf<br />

Meinungsfreiheit sehr wichtig ist. Zudem ist es ein aktueller Prozess, dessen Ausgang<br />

abzuwarten bleibt.<br />

Die Inhaltsanalyse habe ich gewählt, um meiner Kritik das nötige Gewicht zu geben.<br />

Ein Vergleich in Verbindung mit historischen logischen Argumenten ist meiner Ansicht<br />

nach die beste Methode, um überzeugende Schlussfolgerung zu ziehen.<br />

Durch meine Arbeit bin ich zu der Erkenntnis gelangt, dass Deutschland und Europa<br />

die Prinzipien der Meinungsfreiheit noch nicht ausreichend vertreten.<br />

11


Der kulturlose Kontinent. Von der Persistenz eines deutschen Ressentiments<br />

Markus Wegewitz<br />

Zeugnisse vom amerikanischem Ungeist<br />

Der symbolischen Kraft des abgehörten Mobiltelefons der Bundeskanzlerin konnte sich im letzten<br />

Jahr wohl kaum ein Zeitungsleser, Fernsehzuschauer, Radiohörer oder Internetnutzer in der<br />

Bundesrepublik entziehen. Das Publik werden der Überwachung führender europäischer Politiker<br />

durch US-amerikanische Nachrichtendienste kann als Sinnbild für die Belastung der transatlantischen<br />

Beziehungen gelten, über die allenthalben berichtet wurde und wird. Aus der Vielfalt<br />

der Reaktionen auf diese Begebenheit soll an dieser Stelle nur eine Facette genauer betrachtet<br />

werden: Abseits der großen Tageszeitungen und unbeeinflusst von den Kontrollmechanismen<br />

des professionellen Journalismus veröffentlichte der PR-Berater und ehemalige Hochschullehrer<br />

Klaus Kocks Ende des Jahres 2013 einen Artikel mit dem Titel Der amerikanische<br />

Albtraum. Meine Hassliebe zu den USA. Kocks nutzt in seinem Text „Angies Handy“ als Exposition<br />

für eine Aneinanderreihung von Argumenten, in der die von ihm wahrgenommene<br />

Regierungskrise der Vereinigten Staaten nach und nach pauschalisiert und schließlich auf die<br />

Gesamtheit der amerikanischen Bevölkerung ausgedehnt wird. Zu Recht kann man Kocks eine<br />

Haltung unterstellen, die gemeinhin als Anti-Amerikanismus bekannt ist (Kocks 2013).<br />

Im Text von Kocks finden sich die Ingredienzien dieses Phänomens in geradezu exemplarischer<br />

Weise: Es ist die Rede von der „Fratze des Imperialismus“; vom Gegenbild des „demokratischen<br />

Europa“ als „Wunderwerk der Moderne“; von der „Zügellosigkeit des Erfolgsstrebens<br />

der Puritaner“ in Amerika und dem „Geld als Gnade Gottes“; schließlich auch von der<br />

Dichotomie zwischen „europäische[m] Geist“ und „amerikanische[m] Ungeist“ (Kocks 2013).<br />

Ähnliche Überlegungen brechen sich regelmäßig auch in anderen Öffentlichkeiten Bahn, sei es<br />

in den aktuellen Debatten über die Ratifizierung des transatlantischen Freihandelsabkommens<br />

TTIP, in der Suche nach den Ursachen der mittlerweile internationalisierten Krisen auf der<br />

Krim und in der Ostukraine oder (klassisch) in den vermeintlich „amerikanischen“ Kriegen im<br />

Nahen und Mittleren Osten. Es fällt dabei schwer, die pauschalisierte Kritik an den Vereinigten<br />

Staaten einer bestimmten politischen Strömung oder Ideologie zuzuordnen. Anti-Amerikanismus<br />

ist – freilich in unterschiedlichen Spielarten – ein gemeinsamer Nenner zwischen dem linken<br />

politischen Spektrum, dem sich als seriös gebärdenden rechtsradikalen Milieu und der mehr<br />

oder weniger bürgerlichen „Mitte der Gesellschaft“. Das Feindbild Amerika teilen sich das ehemalige<br />

APO-Mitglied, der völkisch orientierte Burschenschaftler und der Talkshow-Intellektuelle<br />

gleichermaßen.<br />

Daher lässt sich auch der Gedanke nur schwer von der Hand weisen, dass es sich bei antiamerikanischen<br />

Äußerungen in den deutschen Medien nicht um isolierte Meinungen einiger<br />

Journalisten und Funktionäre handelt. Es kann vielmehr unterstellt werden, dass der Klang des<br />

12


Anti-Amerikanismus in der Bundesrepublik einen gesellschaftlichen Resonanzboden findet,<br />

welcher die Voraussetzungen für solche Äußerungen schafft und Auskunft über die Verbreitung<br />

des Phänomens über alle sozialen Schichten und Milieus hinweg gibt. In jedem Fall ist die<br />

Reichweite der Problematik bedenklich genug, um einen genaueren Blick auf den deutschen<br />

Anti-Amerikanismus zu rechtfertigen.<br />

Seine Omnipräsenz und inflationäre Verwendung machen es schwer, das Phänomen des<br />

Anti-Amerikanismus genau zu definieren. Allen unter diesem Oberbegriff zusammengefassten<br />

Ressentiments ist gemeinsam, dass sie ein bei einzelnen Individuen oder spezifischen Gruppen<br />

wahrgenommenes Merkmal aus seinem Kontext lösen und auf die Gesamtheit einer Gesellschaft<br />

übertragen, oder dafür eine typologische Gültigkeit beanspruchen – eben „typisch amerikanisch“.<br />

Durch die Nichtbeachtung der basalen Kriterien der Repräsentativität kann eine solche<br />

Verallgemeinerung keinen wissenschaftlichen Anspruch auf Gültigkeit erheben. Trotzdem<br />

entfaltet sie als stereotypes Erklärungsmuster Wirksamkeit.<br />

Anti-Amerikanismus wirkt – wie andere Vorurteile auch – als Schablone zur Kanalisierung<br />

einer oft widersprüchlichen und unübersichtlichen Wirklichkeit. Mit diesem Exkurs in die Logik<br />

ist allerdings noch nicht die negative Aufladung des „Amerikanischen“ einbegriffen. Wie<br />

lässt sich also die im Anti-Amerikanismus steckende Antipathie erklären? Die negative Konnotation<br />

lässt sich in vielen Fällen auf eine vermeintliche Gefährdung der eignen Gemeinschaft<br />

mitsamt ihrer kulturellen und sozialen Grundlagen zurückführen. Es handelt sich um eine Gegenüberstellung<br />

zwischen dem Guten und dem Verderblichen, welche Schuld und Verantwortung<br />

für eigene Probleme zu externalisieren vermag. 1 Als Weltsicht (man ist beinahe geneigt<br />

zu sagen: als Ideologie) ist der Anti-Amerikanismus bemerkenswert resistent gegenüber dem<br />

faktischen Beweis seiner Fehler. Im Ausblenden der Möglichkeit des eigenen Irrtums und dem<br />

unhinterfragten Pauschalisierung unterscheidet sich der Anti-Amerikanismus auch von einer<br />

sachbezogenen Kritik.<br />

Weiterhin muss angemerkt werden, dass die pauschale Bezeichnung als „amerikanisch“<br />

alles andere als präzise ist. Beschuldigt werden im Anti-Amerikanismus nicht Kanada, Mexiko<br />

oder die süd- und zentralamerikanischen Staaten, sondern immer und ausschließlich die USA.<br />

Im scheinbar selbstverständlichen Nexus zwischen „Amerika“ und den Vereinigten Staaten<br />

spiegelt sich somit auch das Urteil über die Herrschaftsverhältnisse auf den amerikanischen<br />

Kontinenten.<br />

Die eingangs zitierten Äußerungen deuten schon die Existenz einer dezidiert historischen<br />

Dimension des Problems an. Von den vielen Topoi des Anti-Amerikanismus („Imperialismus“;<br />

„Profitgier“; „Massenkonsum“ und so weiter) bezieht insbesondere der Vorwurf der Kulturlosigkeit<br />

seine Berechtigung aus einem spezifischen Blick auf die Entwicklung demokratischer<br />

Staatsformen sowie auf die Vorstellungen von Freiheit und Gleichheit, dessen Narration zumeist<br />

mit dem Denken der Aufklärung der beiden atlantischen Revolutionen beginnt. Die so<br />

entstandenen Geschichten sind Geschichten eines konstruierten Gegensatzes zwischen der „alten“<br />

und der „neuen“ Welt, vor allem sind sie aber eine „geistige Form, in der sich eine Kultur<br />

1<br />

Auf diese Funktion hat auch Golo Mann verwiesen, der den Begriff des Anti-Amerikanismus in den<br />

1950 Jahren in die deutsche Debatte eingebracht hat; siehe: Golo Mann (1961): Urteil und Vorurteil,<br />

in: Mann, Golo (Hrsg.), Geschichte und Geschichten, Frankfurt a. M.: 419–426.<br />

13


über ihre Vergangenheit Rechenschaft gibt“ (Huizinga 1930: 86). Glücklicherweise ist die<br />

Möglichkeit zur Dekonstruktion schon im Wesen einer solch historischen Herleitung des negativen<br />

Amerikabildes angelegt. Im Folgenden soll es daher nicht nur darum gehen, ein Bild zur<br />

aktuellen Lage des Anti-Amerikanismus und seiner Verbreitung in der deutschen Gesellschaft<br />

zu zeichnen. Dieser Essay will vor allem den Versuch unternehmen, die Proliferation des Topos<br />

der Kulturlosigkeit, des „amerikanischen Ungeists“, nachzuvollziehen.<br />

Deutsche Kultur und „bloße Zivilisation“<br />

Die Suche nach dem Ursprung der Kulturlosigkeit hat dabei in der deutschen Romantik einige<br />

Aussicht auf Erfolg. 2 Das romantische Denken begriff sich als Ausdruck einer organisch gewachsenen<br />

deutschen Kultur, die einer Pflanze gleich in der Geschichte des Abendlands wurzelte.<br />

Dem damit einhergehenden verklärenden Blick auf die Vergangenheit – vor allem das<br />

Bild eines Mittelalters der Sängerkriege; der Frömmigkeit und der bodenständigen deutschen<br />

Werte – wurde die Wahrnehmung der „jungen“ Nation der Vereinigten Staaten entgegengesetzt.<br />

Als Einwanderungsland aller europäischen Religionen und Bevölkerungsgruppen bestand<br />

für die USA die Notwendigkeit, die herkömmlichen Legitimationsformen vieler europäischer<br />

Nationalstaaten zu überwinden. Statt der Vorstellung einer religiös oder ethnisch begründeten<br />

Nation mit einer gleichsam natürlichen Gesellschaftsordnung liegt in der Verfassung der USA<br />

das Konzept einer ausschließlich politischen Nation begründet, deren Mitglieder die gleichen<br />

Rechte und Pflichten teilen. Die Kritik dieser Verwirklichung der Prinzipien von Freiheit und<br />

Gleichheit im Denken der Romantik war zum einen eine Strategie zur Rationalisierung der noch<br />

nicht erreichten eigenen politischen Emanzipation. In den amerikanischen Verhältnissen wurden<br />

die ersehnten, aber doch nicht erreichten bürgerlichen Freiheiten als unwirklich und abstrakt<br />

geschmäht. Die Betonung einer genuin deutschen Kultur war zum anderen dazu geeignet,<br />

im Flickenteppich der deutschen Kleinstaaten und Fürstentümer die Imagination einer allumfassenden<br />

Gemeinschaft aufrecht zu erhalten. Das Feindbild Amerika war in diesem Sinne zwar<br />

nicht real, aber durchaus funktional.<br />

Eines der bekanntesten Produkte der romantischen Ausprägung des Anti-Amerikanismus<br />

ist wahrscheinlich Ferdinand Kürnbergers 1855 erschienener Roman Der Amerika-Müde.<br />

Kürnberger teilte mit einigen nachfolgenden Proponenten des Anti-Amerikanismus den Beruf<br />

des Feuilletonautors und publizierte bei mehreren österreichischen Tageszeitungen. Sein Buch<br />

war zum Zeitpunkt seines Erscheinens ein kommerzieller Erfolg und richtete sich vordergründig<br />

gegen das 1838 erschienene Werk Die Europamüden von Ernst Willkomm und hintergründig<br />

gegen das positive Bild der Vereinigten Staaten im Liberalismus des Vormärz, das vor allem<br />

an die Prinzipien der US-amerikanischen Verfassungsordnung anschloss. Max Weber beschrieb<br />

Kürnbergers Werk als „geist- und giftsprühende[s] 'amerikanische[s] Kulturbild'“, und<br />

in der Tat enthält das Buch vor allem den überspitzten Gegensatz zwischen „Deutschtum“ und<br />

„Amerikanertum“, der im Rahmen der Erfahrungen einer Gruppe deutscher Auswanderer nach<br />

der Revolution von 1848 erzählt wird (Weber 2010: 76). Auf der einen Seite stand die deutsche<br />

2<br />

Bei der Beschreibung des Anti-Amerikanismus in dieser Epoche bleibe ich auf die Studie von Hildegart<br />

Meyer angewiesen, die für dieses Thema auch heute noch als maßgeblich gelten kann; siehe:<br />

Meyer, Hildegard (1929): Nord-Amerika im Urteil des deutschen Schrifttums bis zur Mitte des 19.<br />

Jahrhunderts. Eine Untersuchung über Kürnbergers ’Amerika-Müden’, Hamburg.<br />

14


Kultur, deren Wahrung sich das Bürgertum auch aufgrund fehlender politischer Betätigungsmöglichkeiten<br />

verschrieben hatte. Auf der anderen Seite stand eine nach rationalen Prinzipien<br />

verfasste Gesellschaft mit einer gänzlich anderen Organisationsform politischer Herrschaft. Die<br />

Grenze zwischen „Kultur“ und der „bloßen Zivilisation“ Amerikas verlief im Denken der romantischen<br />

Dichter, Literaten und Autoren mitten im Atlantik, an dessen Westküste ein ungehemmter<br />

Materialismus jede Entfaltung von Kunst und Wissenschaft hemme und nicht anderes<br />

als mittelmäßige Krämerseelen hervorbringe. Insbesondere Kürnbergers Gedanken zur Herrschaft<br />

des Profits und der subsequenten Marginalisierung aller anderen Züge des Geisteslebens<br />

in den Vereinigen Staaten sind hier hervorzuheben.<br />

Kürnbergers Anti-Amerikanismus konnte sich natürlich auf eine Reihe von Vordenkern<br />

stützen. Als einer der ersten prägte der Dichter Nikolaus Lenau die Rede von der „amerikanischen<br />

Kulturlosigkeit“ in den „verschweinten Staaten“ von Amerika (Straub 2004: 32). Lenau<br />

unterstellte dem nordamerikanischen Kontinent eine Tendenz zur Degeneration von Mensch<br />

und Natur gleichermaßen, die letztendlich die Oberflächlichkeit in der Gesellschaft der Vereinigten<br />

Staaten hervorbringe. Schlimmer noch: Lenau – der tatsächlich einige Monate die USA<br />

bereiste – inszenierte sich selbst als Opfer der US-amerikanischen Nicht-Kultur und gab zu<br />

Protokoll, nach seinem Aufenthalt von der „Chimäre von Freiheit und Unabhängigkeit“ geheilt<br />

zu sein, für die er sich in seiner Jugend noch begeistert habe (Diner 2002: 47). Und überhaupt<br />

zeigte sich Lenau nur von drei Dingen in den Vereinigten Staaten beeindruckt, die noch nicht<br />

gänzlich dem Einfluss der nordamerikanischen Gesellschaft erlegen waren: dem „fast erstorbene[n]<br />

Urwald in den westlichen Gegenden“; dem „Hudsonthal von New York“ und dem Niagara<br />

(Meyer 1929: 27). Kein Wunder also, das Kürnberger sich entschloss, Lenau in Form der<br />

Figur des Dr. Moorfeld ein Denkmal in seinem amerikamüden Roman zu setzen. Bei seiner<br />

Entzauberung des zuvor in ungeahnte Höhen gehobenen Bildes der Vereinigten Staaten verschwieg<br />

Lenau allerdings ein pikantes Detail: Der Amerika-Aufenthalt des Dichters war seinerseits<br />

ganz an materiellen Interessen orientiert: Lenau kam mit dem Plan in die USA, eine<br />

Farm in Ohio zu erstehen und diese anschließend gewinnbringend an deutsche Emigranten zu<br />

verpachten (Diner 2002: 48).<br />

Die Reihe der anti-amerikanischen Romantiker lässt sich fortsetzen: Der Dramatiker Heinrich<br />

Laube befand die Vereinigten Staaten für eine „Kaufmannsschule, welche sich für eine<br />

Welt ausgibt […] Keine Geschichte, keine freie Wissenschaft, keine freie Kunst! Freier Handel<br />

ist die ganze Freiheit […]; was nicht Geld einbringt, ist unnütz, was nicht nützt, ist überflüssig!“<br />

(Moltmann 1976: 94). Obwohl von ihm auch deutlich freundlichere Tönen zu vernehmen waren,<br />

fühlte sich auch Heinrich Heine – im Übrigen ein persönlicher Freund Laubes – gelegentlich<br />

berufen, in den zeitgenössischen Chor des Anti-Amerikanismus einzustimmen. In seinem<br />

Romanzero schrieb er:<br />

Manchmal kommt mir in den Sinn<br />

Nach Amerika zu segeln<br />

Nach dem großen Freiheitsstall<br />

Der bewohnt von Gleichheitsflegeln<br />

15


Doch es ängstet mich ein Land<br />

Wo die Menschen Tabak käuen<br />

Wo sie ohne König kegeln<br />

Wo sie ohne Spucknapf speien 3<br />

An weiteren Beispielen herrscht kein Mangel: Amerika als Potenzierung der zerstörerischen<br />

Kräfte der Aufklärung, der Individualisierung, der Säkularisierung, der Zerstörung aller<br />

kulturellen Grundlagen der eigenen Gemeinschaft. Die Gesellschaft der Vereinigten Staaten als<br />

abstrakt, gleichgültig, künstlich und unlebendig, lediglich als System der gegenseitigen Duldung<br />

ohne geistige Grundlage.<br />

Nun ist einzuschränken, dass die Reichweite des Vorwurfs der Kulturlosigkeit im romantischen<br />

Anti-Amerikanismus nicht überschätzt werden sollte. Die dokumentierten Stereotype<br />

sind nicht repräsentativ für das gesamte Denken jener Epoche und stehen insbesondere im Konflikt<br />

mit dem positiven Bild der Vereinigen Staaten im deutschen Liberalismus und Vormärz.<br />

Auch hegten viele der Urheber des Anti-Amerikanismus selbst ein ambivalentes Bild der USA,<br />

das sich vielleicht am besten als Mischung zwischen positiven und negativen Ressentiments<br />

beschreiben ließe. Dennoch kann die Romantik als Ursprung jener Topoi gelten, die auch im<br />

heutigen Anti-Amerikanismus noch Anwendung finden.<br />

Die Ideengeschichte eines kulturlosen Kontinents<br />

In der historischen Entwicklung wurde die Idee eines kulturlosen Amerikas nicht immer in der<br />

gleichen Intensität in der deutschen literarischen Öffentlichkeit vertreten. Die Berichterstattung<br />

über den Amerikanischen Bürgerkrieg (1861–1865) vermochte zum Beispiel nicht, anti-amerikanische<br />

Ressentiments im größeren Maßstab zu schüren. Auch ihr Gehalt hat sich nach Biedermeyer,<br />

Romantik und Restauration gewandelt und wurde um neue inhaltliche Facetten erweitert.<br />

Dabei wurde das sich abzeichnende Grundmuster einer vor allem auf Ökonomisierung<br />

und Materialismus zurückzuführenden defizitären Entwicklung allerdings beibehalten.<br />

Das Wiederaufflammen des Anti-Amerikanismus lässt sich erst wieder in den Jahren zwischen<br />

der Reichsgründung 1871 und dem Beginn des Ersten Weltkriegs beobachten. Der Bedeutungswandel<br />

des Topos der Kulturlosigkeit ging zum einen mit dem Aufstieg der deutschen<br />

Spielart des Nationalismus einher. Die Phantasien eines Deutschen Reiches mit globalem Einfluss<br />

beliefen sich bekanntlich nicht nur auf die Sphäre des Militärischen und Politischen, sondern<br />

auch auf den Bereich der Kultur im Wettbewerb der Nationen. Die Überhöhung der eigenen<br />

Nation lebte in diesem Fall von der Stigmatisierung des jeweils anderen. Der schon etablierte<br />

Topos der Kulturlosigkeit erfreute sich in der Konkurrenz der Großmächte folglich einer<br />

wachsenden Beliebtheit. Das Bild der Vereinigten Staaten war in einem bisher ungekannten<br />

Maße mit der Wahrnehmung einer Bedrohung verbunden. Unter dem Stichwort der „Amerikanisierung“,<br />

das der Brite William T. Stead am Anfang des 20. Jahrhunderts bekannt gemacht<br />

3<br />

Heinrich Heine (1992): Romanzero Gedichte 1853 und 1854, Lyrischer Nachlaß, bearb. von Frauke<br />

Bartelt und Manfred Windfuhr (= Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke 3.1.), Hamburg: S.<br />

102.<br />

16


hatte, begriff auch der konservative Bürger des Kaiserreichs die Erosion von Tugend und Bildung,<br />

welche schließlich in ein Herabsinken auf eine niedrigere Kulturstufe führen würde<br />

(Stead 1902: 5).<br />

Ähnlich wie andere Denkfiguren im Fin de Siècle beschäftigte sich also auch der Anti-<br />

Amerikanismus mit der Angst vor Verfall und Dekadenz. Zudem verband er sich mit politischem<br />

Denken über die Masse, das sich in konservativen und reaktionären Kreisen spätestens<br />

seit der Veröffentlichung von Gustave Le Bon's pseudowissenschaftlichen Machwerk Psychologie<br />

des foules hoher Beliebtheit erfreute (Le Bon 1898). Den Vereinigten Staaten wurde in<br />

dieser Weise zwar keine wortwörtliche Kulturlosigkeit unterstellt, doch schrieb man den USA<br />

eine ebenso negativ konnotierte Massenkultur zu. Die romantischen Vorstellungen einer „bloßen<br />

Zivilisation“ wurden in dieser Wiese mit der Vorstellung der Monotonie; Stillosigkeit und<br />

Mittelmäßigkeit der amerikanischen Produkte und des Geisteszustands ihrer Konsumenten verbunden.<br />

Die Denkfigur der „Vermassung“ und expansiven Ausbreitung der amerikanischen<br />

Kultur haben auch die Autoren des Tat-Kreises übernommen. In ihrem Programm zur Etablierung<br />

eines christlichen Abendlands im Fahrwasser des Nationalsozialismus schrieben Publizisten<br />

wie Friedrich Zimmermann und Giselher Wirsing von der „amerikanische Konserven- und<br />

Jazzkultur“ und „Normierung des Denkens und Handelns“ auf dem „maßlosen Kontinent“<br />

(Schildt 1987: 350). Die Unterstellung der Kulturlosigkeit richtete sich in diesem Umfeld freilich<br />

gegen Ost und West gleichermaßen.<br />

In der Verbindung mit dem Antisemitismus liegt schließlich die dritte wesentliche Neuerung<br />

der Topoi des Anti-Amerikanismus. Bezogen auf die Kulturlosigkeit und deren vermeintliche<br />

Verknüpfung mit dem amerikanischen „Krämergeist“ traten die Juden im Denken der<br />

extremen Rechten als geheime Lenker der US-amerikanischen Wirtschafts- und Finanzpolitik<br />

sowie als Manipulatoren der öffentlichen Meinung auf. Im Rahmen dieser Verschwörungstheorie<br />

war das Judentum Produkt und Verursacher der Kulturlosigkeit zugleich. Ihren Höhepunkt<br />

erfuhr die antisemitische Aufladung des Topos der Kulturlosigkeit im Verlauf des Zweiten<br />

Weltkriegs. In ähnlicher Weise hatte zuvor der Erste Weltkrieg prototypische rassistische Erklärungsmuster<br />

befördert. In jedem Fall war „Amerika“ ein besonderer Platz im umfangreichen<br />

Repertoire der von den Deutschen als hassenswert erachteten Objekte sicher.<br />

Trotz der vielfältigen sozialen und politischen Umwälzungen nach dem Ende des Krieges<br />

blieb der Anti-Amerikanismus in den Besatzungszonen und den beiden deutschen Staaten prinzipiell<br />

präsent. Die Unterstellung der Kulturlosigkeit fand beispielsweise über die sowjetische<br />

Propaganda der Nachkriegszeit Eingang in die offizielle Kommunikation der DDR. Natürlich<br />

war auch die Bonner Republik von der Diagnose dieses Ressentiment nicht ausgeschlossen.<br />

Unter der Chiffre „1968“ verliefen dabei die Grenzen zwischen Konsumkritik, Kapitalismuskritik<br />

und der Unterstellung eines amerikanischen Kulturimperialismus oft fließend.<br />

Anti-Amerikanismus heute und früher<br />

Damit hat die knapp umrissene Ideengeschichte des „kulturlosen Kontinents“ schon beinahe<br />

die Schwelle zur Gegenwart erreicht. Die hier präsentierte, chronologisch geordnete Entwick-<br />

17


lung soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich bei der Evolution des Topos der Kulturlosigkeit<br />

keinesfalls um eine lineare Entwicklung, sondern um einen mit vielen Kurven und Brüchen<br />

durchsetzten Prozess handelt. Während einige Konnotationen nur noch in Spuren in die<br />

aktuelle öffentliche Debatte Eingang finden, haben sich andere Vorstellungen stark verändert<br />

und sind längst als scheinbare Selbstverständlichkeit im gesellschaftlichen Vokabular etabliert.<br />

Dennoch ist man zuweilen über die Parallelen erstaunt, die sich zwischen dem gegenwärtigen<br />

Bild der USA und seinen historischen Entsprechungen auftun (Jaecker 2014).<br />

So wurde das lenausche Amerikabild, jene Geschichte der inszenierten Verführung und<br />

Enttäuschung des unschuldigen Dichters in der „Neuen Welt“, 1964 von Peter Härtling reproduziert.<br />

Für seinen Roman Niembsch oder Der Stillstand, der mehr als sechs Mal neu aufgelegt<br />

wurde, hatte sich Härtling Nikolaus Lenau selbst als Protagonisten gewählt (Härtling 1964).<br />

Vielleicht noch deutlicher treten die romantischen Ressentiments in jenen Medien zu Tage, die<br />

noch häufiger ein noch größeres Publikum erreichen. 2003 veröffentlichte das Nachrichten-<br />

Magazin Der Spiegel einen Beitrag des Georg-Büchner-Preisträgers Durs Grünbein. Grünbein<br />

stellt sich in diesem Text als „Liebhaber Europas“ und seiner Kultur dar. Ganz ähnlich wie der<br />

enttäuschte Amerikareisende Lenau nutzt auch Grünbein die Erfahrungen seiner Reisen in die<br />

Vereinigten Staaten, um eine Gegenüberstellung zwischen „Europa“ und „Amerika“ zu konstruieren.<br />

„Reisen bildet“ erklärt Grünbein, „manchmal aber kommt es auch einer Wurzelbehandlung<br />

gleich. Heute erst fühle ich mich, nach mehreren Amerika-Besuchen, wieder als frisch<br />

gebackener Europäer. So geht einem die Lieblichkeit der Lagunenstadt Venedig erst so richtig<br />

auf, nachdem man etwa Las Vegas gesehen hat, die aufgedonnerte Hure unter den Städten der<br />

Neuen Welt.“ Schlimmer noch: Bei seinem Loblied auf die europäische Hochkultur holt Grünbein<br />

zum kulturellen Rundumschlag aus. Von Ovid über Hegel und Goethe bis hin zu Nietzsche<br />

entwirft der Autor das Bild eines Europas der (überwiegend deutsch geprägten) intellektuellen<br />

Brillianz und poetischen Ästhetik. Auch der schon dem romantischen Denken so teure Verweis<br />

auf den Minnesang des Mittelalters fehlt nicht (Grünbein 2003: 144-145).<br />

Die Gedanken des TV-Philosophen Richard David Precht gehen in eine ähnliche Richtung.<br />

2009 veröffentlichte er – ebenfalls im Spiegel – einen Essay über die militärische Intervention<br />

der NATO in Afghanistan („Wider den verlogenen Menschenrechts-Bellizimus“). Die Einlassungen<br />

Prechts beziehen sich allerdings nur vordergründig auf diesen internationalen Konflikt.<br />

Hintergründig geht es ihm um die Propagierung des Topos der amerikanischen Massen- und<br />

Unkultur. Precht schreibt: „Den dauerhaften ideologischen Sieg über Nazi-Deutschland erzielten<br />

die westlichen Besatzungsmächte ja auch nicht durch ihre Panzer, sondern durch die Einführung<br />

von Nylonstrümpfen, Jazzmusik, Kaugummi, Jeans, Hollywood und Coca-Cola.“ Es<br />

ist die Rede von den „Grenzen der Kulturen“ und vom „American Way of Life“ als "`erfolgreichste[r]<br />

Massenvernichtungswaffe des 20. Jahrhunderts.“ (Precht 2009: 118-119) Man ersetze<br />

„American Way of Life“ durch „Krämergeist“ und „Konsum“, und ohne Zweifel hätten<br />

die Agenten des romantischen Anti-Amerikanismus Precht ohne Vorbehalte zugestimmt.<br />

Was sagen nun die hier zitierten Beobachtungen, vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart,<br />

über die Vereinigten Staaten aus? Erstaunlich wenig. Der Anti-Amerikanismus gibt mehr über<br />

seine Protagonisten als über sein Objekt preis. Ob für den nationalbewegten Dichter des 19.<br />

Jahrhunderts, den Publizisten des Nationalsozialismus, oder den „deutschen Europäer“ der Ber-<br />

18


liner Republik: Anti-Amerikanismus war und bleibt in erster Linie eine Projektion für die vermeintlichen<br />

Probleme in der sich nivellierenden deutschen Gesellschaft (Behrends 2006: 13).<br />

Gerade die Unterstellung der Kulturlosigkeit hat dabei in der klassischen wie in der reflektierten<br />

Moderne zahlreiche Nachahmer gefunden. Schlussendlich hegt diese knappe Abhandlung nicht<br />

die Hoffnung, das Ende des anti-amerikanischen Denkens herbeiführen zu können. Sie hat aber<br />

zumindest den Anspruch, den gegenwärtigen Anhängern dieser Pauschalisierung jene illustere<br />

Gesellschaft aufzuzeigen, in die sie sich mit der unreflektierten Nutzung solcher Ressentiments<br />

begeben.<br />

Literaturverzeichnis<br />

Behrends, Jan C. (2006): Transnationales Feindbild. Europas Antiamerikanismus: Historische<br />

Perspektiven, aktuelle Debatten (=WZB-Mitteilungen, Nr. 111), 13–16.<br />

Diner, Dan (2002): Feindbild Amerika. Über die Beständigkeit eines Ressentiments, Berlin.<br />

Grünbein, Durs (2003): Die Verführung zur Freiheit, in: Der Spiegel 5, 144–146.<br />

Härtling, Peter (1964): Niembsch oder der Stillstand. Eine Suite. Stuttgart.<br />

Heine, Heinrich (1992): Romanzero Gedichte 1853 und 1854. Lyrischer Nachlaß, in: Bartelt,<br />

Frauke/Windfuhr, Manfred (Hrsg.), Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke 3.1.<br />

Hamburg.<br />

Huizinga, Johan (1930): Wege der Kulturgeschichte. Studien Übers. von Werner Kaegi, München.<br />

Jaecker, Tobias (2014): Hass, Neid, Wahn. Antiamerikanismus in den deutschen Medien,<br />

Frankfurt a. M.<br />

Kocks, Klaus (2013): Der amerikanische Albtraum. Meine Hassliebe zu den USA, in: starkemeinungen.de,<br />

<br />

besucht am 04. 08. 2014).<br />

Kürnberger, Ferdinand (1855): Der Amerika-Müde. Frankfurt a. M.<br />

Le Bon, Gustave (1898): Psychologie des foules, Paris.<br />

Mann, Golo (1961): Urteil und Vorurteil, in: Mann, Golo (Hrsg.), Geschichte und Geschichten,<br />

Frankfurt a. M.: 419–426.<br />

Meyer, Hildegard (1929): Nord-Amerika im Urteil des deutschen Schrifttums bis zur Mitte des<br />

19. Jahrhunderts. Eine Untersuchung über Kürnbergers ’Amerika-Müden’, Hamburg.<br />

Moltmann Günter (1976): Deutscher Anti-Amerikanismus heute und früher, in: Franz, Ottmar/Conze,<br />

Werner (Hrsg.), Vom Sinn der Geschichte, Stuttgart: 85–105.<br />

Precht, Richard David (2009): Feigheit vor dem Volk, in: Der Spiegel 32, 118–119.<br />

Stead, William T. (1902): The Americanization of the World. Or: The Trend of the Twentieth<br />

Century, London.<br />

19


Schildt, Axel (1987): Deutschlands Platz in einem ’christlichen Abendland’. Konservative<br />

Publizisten aus dem Tat-Kreis in der Kriegs- und Nachkriegszeit, in: Koebner,<br />

Thomas/Sautermeister, Gert/Schneider, Sigrid (Hrsg.), Deutschland nach Hitler. Zukunftspläne<br />

im Exil und aus der Besatzungszeit 1939–1949, Opladen: 344–369.<br />

Straub, Eberhard (2004): Das spanische Jahrhundert, München.<br />

Weber, Max (2010): Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, 3. Aufl., München.<br />

Persönliche Stellungnahme des Autors<br />

Als Student der europäischen Geschichte ist man mit einer Vielzahl von Versuchen<br />

konfrontiert, in denen ein Gefühl der Zusammengehörigkeit durch eine kollektive Abgrenzung<br />

erreicht werden soll. Das Interesse an solchen Phänomenen – aus dem sich<br />

auch dieser kleine Text ergab – lässt sich wohl am ehesten auf meine Beschäftigung<br />

mit der von Reinhart Koselleck geprägten Figur des "Kollektivsingular" zurückführen.<br />

Im Gegensatz zu ähnlichen Begriffen widersetzt sich die (Ideen-)Geschichte des Anti-<br />

Amerikanismus dabei vielen gängigen Heuristiken und Epochengrenzen.<br />

Die essayistische Form ergab sich (von meiner Abneigung gegenüber Talkshow-Philosophen<br />

einmal abgesehen) aus der Wahrnehmung, dass mein Thema auch im heutigen<br />

Diskurs eine ungebrochene Präsenz besitzt.<br />

20


Zum Einfluss nationaler Machtverhältnisse auf das Mandat von Wahrheitskommissionen.<br />

Ein Vergleich zwischen Südafrika und Chile<br />

Annegret Gräfe<br />

Einleitung<br />

Wie Staaten bzw. Regierungen mit dem gewaltsamen Erbe ihrer Vorgänger oder eines vorausgegangenen<br />

Konfliktes umgehen, d.h. wie sie vergangene Menschenrechtsverletzungen aufarbeiten,<br />

bildet eine zentrale Frage in Zeiten des Übergangs aus dieser Phase, aber auch noch<br />

danach. Ihrer Beantwortung wird ein wichtiger Faktor für die zukünftige Etablierung von Frieden<br />

und Sicherheit sowie einer stabilen demokratischen Ordnung zugesprochen (Buckley-Zistel<br />

2008: 5; Zhu 2009: 184). Sie fällt damit in den Bereich des Transitional Justice (TJ), der als<br />

politisches Konzept eben diese Aufarbeitungsprozesse bzw. -mechanismen beinhaltet und einen<br />

Beitrag zur Friedenskonsolidierung leisten soll. Um auf die oben beschriebenen Umstände<br />

zu reagieren, lassen sich verschiedene Handlungsoptionen herauskristallisieren. Neben Gerichtsverfahren<br />

zählen dazu z.B. in erster Linie Wahrheitskommissionen und Reparationen,<br />

aber auch Lustrationen und Amnestien (Ranft 2010: 9), die häufig auch in Kombination angewendet<br />

werden.<br />

Wahrheitskommissionen stellen dabei einen TJ-Mechanismus dar, der sich besonderer<br />

Beliebtheit erfreut. Seit 1974 die erste Wahrheitskommission in Uganda eingerichtet wurde,<br />

„hat ihre Anzahl stetig zugenommen“ (Freudenreich/Ranft 2008: 22), wobei sie vor allem in<br />

Lateinamerika und Afrika, aber u.a. auch in Asien eingesetzt wurden. Häufig als „dritter Weg“<br />

charakterisiert (Dancy/Poe 2006: 2; Chapman/Ball 2001: 2), stehen sie sozusagen in der Mitte<br />

zwischen einer strafrechtlichen Verfolgung und einer durch Amnestien geprägten Politik. Als<br />

TJ-Mechanismus bzw. Teil der Vergangenheitspolitik sind sie aber immer auch Bestandteil<br />

oder Ergebnis politischer Prozesse bzw. Entscheidungen (Dancy/Poe, 2006: 3, 10; Roper/Barria<br />

2009: 374) und damit im Fokus unterschiedlicher und konfligierender Interessen in diesem Bereich,<br />

der schon durch seinen Gegenstand ein hohes Konfliktpotenzial aufweist (Straßner 2007:<br />

54). Dieses besteht insbesondere zwischen den Seiten der Täter und Opfer.<br />

Ausgehend von diesem Hintergrund soll sich diese Ausarbeitung mit der folgenden Fragestellung<br />

auseinandersetzen: Welchen Einfluss haben die bei der Einsetzung von Wahrheitskommissionen<br />

vorherrschenden nationalen Machtverhältnisse auf das Mandat der betreffenden<br />

Wahrheitskommission?<br />

Anders formuliert geht es darum, ob sich die Interessen einer bestimmten Seite durchsetzen<br />

können und dementsprechend Einschränkungen zuungunsten einer Seite im Mandat existieren.<br />

Unter Seiten sind hier die beiden sich konträr gegenüberstehenden Akteursgruppen gemeint,<br />

d.h. zum einen das „alte Regime“ als Täter und zum anderen die Opfer und deren politische<br />

und zivilgesellschaftliche Vertreter. Die politischen Vertreter stehen dabei stärker im Fokus, da<br />

21


unter den nationalen Machtverhältnissen in erster Linie die politische Stellung und der politische<br />

Einfluss zwischen dem alten Regime und den politischen Vertretern der Opferseite verstanden<br />

wird, allerdings unter Berücksichtigung der Rolle und des Einflusses des Militärs und<br />

der Zivilgesellschaft. Von besonderer Relevanz ist gerade im Hinblick auf die gesellschaftliche<br />

Brisanz, inwieweit das vorausgegangene Regime die Aufklärung der Vergangenheit beeinflussen,<br />

wenn nicht sogar behindern kann. Dabei wird davon ausgegangen, dass die Entscheidung<br />

für einen solchen TJ-Mechanismus mit einer relativen Machtbalance zwischen altem Regime<br />

und Opposition verbunden ist, da Wahrheitskommissionen häufig aus verhandelten Vereinbarungen<br />

entstehen (Chapman/Ball 2001: 12). Das Machtverhältnis gilt es genauer zu untersuchen.<br />

Dabei stehen nicht nur die einzelnen Seiten im Interesse dieser Arbeit, sondern auch, ob<br />

die allgemeinen Machtverhältnisse im Mandat widergespiegelt werden. Das Mandat, welches<br />

sozusagen das Gründungsdokument einer Wahrheitskommission bildet, entsprechend die Arbeit<br />

dieser beschränkt als auch gleichzeitig ermöglicht, stellt dahingehend eine gute Möglichkeit<br />

dar, potenzielle Einwirkungen widerzuspiegeln und erforschen zu können. Neben einer<br />

theoretischen Ausarbeitung von Kriterien für die Bestimmung dieses Einflusses soll darüber<br />

hinaus eine Anwendung auf die Realität erfolgen. Dazu wird ein Vergleich zwischen der Comisión<br />

Nacional de Verdad y Reconciliación in Chile und der Truth and Reconciliation Commission<br />

von Südafrika angestellt. Damit verbunden ist die Überlegung, dass weitere Faktoren<br />

die entsprechenden Machtverhältnisse und letztendlich die Aufarbeitung beeinflussen, von denen<br />

einer durch einen Vergleich herausgestellt werden soll. Diese Arbeit beruht auf einer qualitativen<br />

Vorgehensweise. Dennoch ermöglicht sie durch ihre vergleichende Perspektive erste<br />

Ähnlichkeiten und Unterschiede der beiden ausgewählten Fallbeispiele aufzuzeigen und Rückschlüsse<br />

zu ziehen bzw. Schlussfolgerungen zu treffen.<br />

Zur Beantwortung der Fragestellung wird deshalb in einem ersten Teil der Arbeit der relevante<br />

theoretische Hintergrund von Wahrheitskommissionen dargestellt, d.h. die Erläuterung<br />

des Begriffs „Wahrheitskommission“, der Forschungsstand sowie die hier angewendete theoretische<br />

Perspektive und die zu analysierenden Kriterien des Mandats. In einem zweiten Teil<br />

werden dann die genannten Fallbeispiele in Bezug auf die Fragestellung untersucht. Nach einer<br />

kurzen Darstellung des historischen Hintergrunds, auf dem diese Wahrheitskommissionen<br />

sozusagen beruhen, werden in einem weiteren Schritt die jeweiligen Machtverhältnisse analysiert<br />

und das Mandat der Wahrheitskommission anhand der entwickelten Kriterien untersucht.<br />

In einem abschließenden Fazit werden die Ergebnisse der Fallbeispiele zusammengeführt und<br />

zur Beantwortung der aufgeworfenen Fragestellung herangezogen.<br />

Theoretischer Teil: Wahrheitskommissionen<br />

Der erste Teil dieser Arbeit soll den theoretischen Unterbau für die daran anknüpfende Analyse<br />

der Fallbeispiele zur Beantwortung der oben genannten Fragestellung liefern. Dazu wird in einem<br />

ersten Schritt der Begriff der Wahrheitskommission und die dahinter stehende Einrichtung<br />

erläutert sowie daran anschließend der Forschungsstand, der mit der Fragestellung verbunden<br />

ist, dargelegt. Schließlich werden das hier aufgegriffene theoretische Verständnis, die Analysekriterien<br />

des Mandats und die zu untersuchenden Hypothesen vorgestellt.<br />

22


Begriffserläuterung<br />

Wie bereits in der Einleitung erwähnt, stellen Wahrheitskommissionen mittlerweile eine etablierte<br />

Maßnahme im Bereich der Transitional Justice dar und damit eine Antwort auf die Frage,<br />

wie eine gewaltsame und menschenrechtsverletzende Vergangenheit einer Gesellschaft aufgearbeitet<br />

werden kann. Sie sind dahingehend „eine Möglichkeit zur Begleitung und Absicherung<br />

politischer Übergangsprozesse zu einer Demokratie“ (Bacher 2004: 58). Konkret ausgedrückt,<br />

lassen sich unter Wahrheitskommissionen spezielle Einrichtungen zur Untersuchung und Aufzeichnung<br />

von nationalen Menschenrechtsverletzungen ehemaliger Regime oder gewaltsamer<br />

Auseinandersetzungen verstehen (Hayner in Ranft 2010: 25), die nach Hayner (2011) mit folgenden<br />

Charakteristika ausgestattet sind:<br />

„A truth commission (1) is focused on past, rather than ongoing, events; (2) investigates<br />

a pattern of events that took place over a period of time; (3) engages directly<br />

and broadly with the affected population, gathering information on their experiences;<br />

(4) is a temporary body, with the aim of concluding with a final report; and (5) is<br />

officially authorized or empowered by the state under review.“ (11-12)<br />

Im Gegensatz zu einer juristischen Aufarbeitung und damit einhergehender Strafverfolgung<br />

besitzen Wahrheitskommissionen nicht die Autorität Anklagen im juristischen Sinne zu<br />

erheben und Strafverfolgungen durchzuführen (Chapman/Ball 2001: 2). Ihre Aufgaben und<br />

Ziele liegen viel mehr darin, vergangene Verbrechen zu enthüllen, zu dokumentieren und als<br />

solche anzuerkennen. Basierend auf einem Mandat, besteht ihre Aufgabe aber nicht nur darin<br />

die Wahrheit zu finden, sondern ebenso Muster und Verantwortlichkeiten aufzudecken und<br />

Empfehlungen für Reformen zur Verhinderung zukünftiger Menschenrechtsverletzungen abzugeben<br />

(Hayner 2011: 22-23). Letztendlich können sie einer völligen Straflosigkeit entgegenwirken,<br />

öffentliche Debatten über diese Vorfälle anregen und eine gemeinsame Vergangenheit<br />

herstellen. In Wahrheitskommissionen wird deshalb häufig auch die Möglichkeit gesehen, einen<br />

wichtigen Beitrag zur Versöhnung zu leisten (Freudenreich/Ranft 2010: 23; Hayner 2011:<br />

182).<br />

Forschungsstand<br />

Obwohl wissenschaftliche Untersuchungen im Bereich der Transitional Justice zurzeit im<br />

Trend liegen und damit verbunden auch Wahrheitskommissionen im wissenschaftlichen Fokus<br />

stehen, nimmt das Untersuchungsfeld zu den Einflussfaktoren bzw. Ursachen für die Entscheidung<br />

und Ausgestaltung von Wahrheitskommissionen einen noch eher geringen Raum ein (Zhu<br />

2009: 186, 188; Dancy/Poe 2006: 3, 6):<br />

„While much of the literature focuses on the effects of TRCs on democratization, human<br />

rights, justice, and reconciliation, there has been considerably less attention paid<br />

to the causes of TRCs, namely the political factors which lead states to choose this<br />

type of accountability mechanism.“ (Roper/Barria 2009: 373)<br />

Neben diesen offenen Fragen inhaltlicher Natur ist festzustellen, dass die Forschung zu<br />

Wahrheitskommissionen mit einigen weiteren Einschränkungen behaftet ist. So wird häufig nur<br />

23


ein Kern an Wahrheitskommissionen untersucht, bei denen insbesondere Südafrika einen beliebten<br />

Untersuchungsgegenstand darstellt (Roper/Barria 2009: 376, 388). Zudem sind vor allem<br />

qualitative Studien vorzufinden, die, wenn sie Vergleiche beinhalten, nur eine begrenzte<br />

Anzahl berücksichtigen können, was das Wissen zu übergreifenden Mustern und Zusammenhängen<br />

begrenzt.<br />

Trotz dieser Einschränkungen werden im Folgenden die wichtigsten Punkte der Forschung<br />

zu den Ursachen bzw. Entscheidungen für Wahrheitskommissionen und deren Inhalte, die im<br />

Vordergrund der hier angestrebten Untersuchung stehen, so gut wie möglich dargelegt. Eine<br />

generell akzeptierte und immer wieder angeführte Erklärung in der Literatur stellt die der<br />

Machtbalance zwischen den alten Machthabern und der Opposition im Zeitraum nach dem Umbruch,<br />

d.h. während und nach der Transition, dar (Ranft 2010: 29; Roper/Barria, 2009: 374).<br />

Dies wird auch von mehreren Studien unterstützt (Roper/Barria: 2009; Zhu 2009; Sriram 2004).<br />

In diesem Zusammenhang ist besonders die Studie von Skaar (1999) zu nennen, die dieser Arbeit<br />

als Ausgangspunkt und Grundlage dient. In ihrer Analyse von 30 Ländern, die nach 1975<br />

eine demokratische Transition erlebt haben, konnte sie aufzeigen, dass Wahrheitskommissionen<br />

vor allem dann eingesetzt werden, wenn die Stärke zwischen den Forderungen des alten<br />

Regimes bzw. demselben an sich und den öffentlichen Forderungen bzw. Druck von Seiten der<br />

Opfer gleich hoch ist. Allerdings ist hinsichtlich der Machtbalance festzuhalten, dass es unterschiedliche<br />

Auffassungen gibt, wer alles unter dieses Verhältnis fällt bzw. welche Machtbeziehung<br />

genau gemeint ist. In enger Verbindung stehen damit häufig auch die zivil-militärischen<br />

Beziehungen und insbesondere die Stellung des Militärs, das ebenso Auswirkungen auf die<br />

Aufarbeitung hat, wie dies bei Sriram (2004), aber auch Skaar (1999) deutlich wird.<br />

Neben diesen nationalen bzw. landestypischen Determinanten, zu denen u.a. auch das Ausmaß<br />

der Menschenrechtsverletzungen (Roper/Barria 2009; Sriram 2004) und die Transitionsart<br />

(Sriram 2004: 13) als weitere Faktoren gezählt werden, existieren Studien, die die Bedeutung<br />

der internationalen Gemeinschaft bzw. Faktoren außerhalb des nationalen Kontextes betonen.<br />

Allerdings lassen sich diesbezüglich sehr unterschiedliche Ergebnisse finden (siehe z.B.<br />

Roper/Barria 2009; Dancy/Poe 2006; Sriram 2004; Gonzaléz-Enríquez/Aguilar/Barahona de<br />

Brito 2002). Obwohl es weder einheitliche noch abschließende Ergebnisse und auch noch zu<br />

wenig Forschung im Bereich der Einsetzung von Wahrheitskommissionen allgemein gibt, lässt<br />

sich schlussfolgern, dass die Gründung einer Wahrheitskommission ein politischer Prozess ist<br />

(Roper/Barria 2009: 374), bei dem mehrere Faktoren hineinspielen. Die Machtbalance zwischen<br />

altem Regime und Opposition stellt dabei „the most important general factor“ (Gonzaléz-Enríquez/Aguilar/Barahona<br />

de Brito 2002: 304) auf nationaler Ebene dar, dem generell eine<br />

hohe Erklärungskraft zugesprochen wird. Noch weniger Untersuchungen liegen hinsichtlich<br />

der Einflüsse auf die konkrete Ausgestaltung von Wahrheitskommissionen vor. Gonzaléz-Enríquez,<br />

Aguilar und Barahona de Brito (2002) argumentieren, dass die „[balance of power] also<br />

substantially affects the way in which such policies are untertaken and evolve“ (Gonzaléz-Enríquez/Aguilar/Barahona<br />

de Brito 2002: 305), und Chapman und Ball (2001) legen dar, dass<br />

das Mandat bzw. der Aufgabenbereich bei vielen Wahrheitskommissionen den politischen<br />

Kompromiss widerspiegelt (Chapman/Ball 2001: 12). Zudem existieren Ansätze, die sich mit<br />

dem Einfluss der politischen Umwelt auf die Struktur der Wahrheitskommissionen auseinandersetzen<br />

(Roper/Barria 2009: 375). Diese existieren allerdings hauptsächlich im qualitativen<br />

24


Bereich, wie z.B. Ensalaco (1994), der sich am Beispiel von Chile und El Salvador auf die<br />

unterschiedlichen politischen Verhältnisse und Akteure bezieht (Ensalaco 1994: 657-663). Als<br />

umfangreichere Untersuchung mit eher quantitativem Fokus kann die Studie von Freudenreich<br />

und Ranft (2008) gelten, die speziell auf einzelne Elemente von Wahrheitskommissionen im<br />

Ländervergleich eingeht. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass sich zwar für einzelne Faktoren<br />

ein allgemeiner Trend verzeichnen lässt, sie aber größtenteils vom nationalen Kontext abzuhängen<br />

scheinen (Freudenreich/Ranft 2008: 36), ohne dabei auf die Machtverhältnisse bzw.<br />

politische Umwelt direkt einzugehen. Diese Verknüpfung soll hier in qualitativer Art und Weise<br />

zu ausgewählten Aspekten erfolgen.<br />

Theoretische Grundlagen<br />

Da sich diese Arbeit auf die nationalen Machtverhältnisse nach der Transition konzentriert,<br />

beruht ein Teil der theoretischen Überlegungen auf der Studie von Elin Skaar (1999). Diese<br />

sucht eine Erklärung für den politischen Umgang mit Menschenrechtsverletzungen bzw. die<br />

Wahl oder Nicht-Wahl eines TJ-Mechanismus und legt ihren Fokus dabei auf die Akteure. Ihr<br />

zufolge lassen sich drei Akteurstypen ausmachen, die in der von Unsicherheit gekennzeichneten<br />

Transitionssituation versuchen Einfluss auf die Menschenrechts- bzw. Vergangenheitspolitik<br />

zu nehmen: 1) das frühere Regime (outgoing regime), 2) die Menschenrechtsopfer und ihre<br />

Unterstützer (public demand for 'truth' and 'justice') und 3) die neue Regierung (government)<br />

(Skaar 1999: 1111). Die früheren Machtinhaber und die den Betroffenen nahestehende Öffentlichkeit<br />

und Zivilgesellschaft verfolgen dabei grundsätzlich entgegengesetzte Ziele. Während<br />

Erstere, die verantwortlich für die Geschehnisse sind, eine Verurteilung oder öffentliche Beschuldigung<br />

mit allen Mitteln zu verhindern versuchen, setzt sich die „Seite der Opfer“, wie<br />

man den zweiten Akteurstyp auch nennen könnte, eben gerade dafür ein, die Täter zur Rechenschaft<br />

zu ziehen, d.h. eine Verurteilung und Bestrafung zu erwirken, mindestens aber eine ausnahmslose<br />

Aufklärung des begangenen Unrechts zu erreichen (Skaar 1999: 1111). Der dritte<br />

Akteurstyp, die neue demokratische Regierung, steht letztendlich zwischen beiden Polen. Da<br />

sie in erster Linie das Ziel hat, an der Macht zu bleiben und politische Stabilität herzustellen<br />

(Skaar 1999: 1111), muss sie abhängig von der Stärke der jeweiligen Seite angemessen darauf<br />

reagieren. Dabei hat das outgoing regime, wenn es in Besitz militärischer Kräfte ist, ein besonderes<br />

Drohpotenzial in Form von Putschversuchen, durch die es der Regierung mehr Zugeständnisse<br />

abringen kann, als es die oppositionelle Seite im Stande ist (Skaar 1999: 1113). Das<br />

Militär bzw. die Kontrollgewalt darüber spielt demnach in dieser Dreiecksbeziehung eine besondere<br />

und wichtige Rolle (zur Bedeutung des Militärs im Transformationsprozess und ihren<br />

Einfluss danach siehe auch Ranft 2010: 33-36; Sriram 2004: 23; Gonzaléz-Enríquez/Aguilar/Barahona<br />

de Brito 2002: 305). Nach Skaar kommt es dann zu Wahrheitskommissionen,<br />

wenn sowohl das frühere Regime als auch die Seite der Opfer besonders stark sind,<br />

Druck bzw. Einfluss auszuüben und sich dementsprechend eine Machtbalance abzeichnet.<br />

Wie in der Einleitung (siehe Kapitel 1) bereits angeführt, steht in dieser Arbeit die Seite<br />

des früheren Regimes und die Seite der Opfer, hier definiert als die Betroffenen und ihre Unterstützer,<br />

politischer und zivilgesellschaftlicher Natur, im Fokus der Betrachtung. Der zweite<br />

Akteurstyp wird also in Anlehnung an weitere Vertreter des Machtbalance-Arguments (z.B.<br />

25


Gonzaléz-Enríquez/Aguilar/Barahona de Brito 2002) durch politische Akteure erweitert, während<br />

die Öffentlichkeit in den Hintergrund gerückt wird. Grund dafür ist zum einen, dass Wahrheitskommissionen<br />

häufig aus ausgehandelten Transitionen zwischen Opposition und altem<br />

Regime entstehen (Chapman/Ball 2001: 12), und zum anderen erfolgt die Untersuchung der<br />

Machtverhältnisse auf nationaler Ebene in Form der politischen Stellung und des Einflusses auf<br />

die Politik. Da ausgehend von diesem akteurszentrierten Ansatz, die Interessen im Bereich der<br />

Aufarbeitung vergangener Menschenrechtsverbrechen mit der Entscheidung für eine Wahrheitskommission<br />

nicht enden und aufgrund der Machtbalance Kompromisse notwendig werden,<br />

können diese Interessen auch auf die Ausgestaltung der Wahrheitskommission, die sich in<br />

deren Mandat manifestiert, und letztendlich auf deren Arbeit Einfluss nehmen. Im Folgenden<br />

gilt es deshalb, das Mandat näher zu betrachten und Kriterien zu entwickeln, anhand deren die<br />

Einflüsse untersucht werden sollen.<br />

Wie und welche Verbrechen letztendlich untersucht werden, wird im Mandat der Wahrheitskommission<br />

festgelegt, das gleichzeitig auch ihre Gründungsakte darstellt. Es ist somit eng<br />

mit der Errichtung bzw. Entstehung einer Wahrheitskommission verknüpft. Ihm kommt dabei<br />

eine entscheidende Rolle für die spätere Arbeit zu: „[It] can define a commission's power, limit<br />

or strengthen its investigative reach, and set the timelines, subject matter, and geographic scope<br />

of a commission's investigation, and thus define the truth that will be documented.“ (Hayner<br />

2011: 75) Es liefert somit die Grundlage bzw. den Rahmen, auf dem die zukünftige Arbeit der<br />

betreffenden Wahrheitskommission basiert, indem es diese nicht nur ermöglicht, sondern<br />

gleichzeitig auch beschränkt. Insbesondere Einschränkungen könnten den politischen Kompromiss<br />

widerspiegeln, der zur Entstehung dieser Wahrheitskommission geführt hat (Chapman/Ball<br />

2001: 12). Ausgehend von der oben beschriebenen Argumentation werden die jeweiligen<br />

Interessensgruppen versuchen, die Wahrheitskommission nach ihren Vorstellungen zu<br />

gestalten. Während also die alten Machthaber bestrebt sein dürften, die Macht und Transparenz<br />

der Institution möglichst einzuschränken, ist es plausibel, dass die oppositionellen Kräfte die<br />

gegenteiligen Zielbestimmungen verfolgen.<br />

Für diese Untersuchung, die anstrebt, das Mandat einer genaueren Untersuchung dieser<br />

Intressensbestrebungen zu unterziehen, sollen folgende Kriterien genauer betrachtet werden:<br />

1) Art der Menschenrechtsverletzungen, 2) Zeitspanne, 3) Urheber bzw. Verdächtige der Verbrechen,<br />

4) Kommissionsmitglieder, 5) Macht/Autorität der Wahrheitskommission, 6) Transparenz.<br />

Die Auswahl der Kriterien erfolgte auf Grundlage der Literatur und der Untersuchungen<br />

zu Wahrheitskommissionen (siehe insbesondere Freudenreich/Ranft 2008; Brahm 2005; Bacher<br />

2004), wobei letztendlich die eindeutigsten Punkte der Einflussnahme als auch die für den<br />

Verlauf der Arbeit der Wahrheitskommission wichtigsten Punkte herangezogen wurden. Das<br />

erste Kriterium beinhaltet die Verbrechen, die in das Mandat zur Untersuchung aufgenommen<br />

wurden. Hier geht es darum, ob bestimmte Formen, die mit dem vorherigen Regime oder den<br />

oppositionellen Kräften verbunden waren, außer Acht gelassen wurden. Die Zeitspanne (2) umfasst<br />

den Zeitraum der Verbrechen, die in die Untersuchung aufgenommen werden sollen. Auch<br />

hier liegt das Augenmerk darauf, ob z.B. bestimmte Zeitfenster, die in den Zeitraum des Konfliktes<br />

oder der Herrschaft des alten Regimes fallen, außen vor gelassen wurden. Mit den Urhebern<br />

bzw. Verdächtigen der Verbrechen (3) soll untersucht werden, ob bestimmte Gruppen<br />

nicht in die Untersuchung mit einbezogen wurden oder ob eine allumfassende Untersuchung<br />

26


aller Konfliktparteien in dem beschriebenen Zeitraum durchgeführt werden soll. Beim vierten<br />

Punkt, den Kommissionsmitgliedern, geht es darum, wer alles in der Kommission sitzt, d.h. ob<br />

ein breites (politisches) Spektrum an gesellschaftlichen Vertretern gewährleistet wird und wie<br />

viele Personen bzw. Unterstützer des alten Regimes integriert wurden. Unter das Kriterium<br />

Macht/Autorität der Wahrheitskommission (5) fällt zum einen, inwieweit ihr Zugang zu den<br />

offiziellen Dokumenten oder Institutionen ermöglicht wird und sie diesen auch einfordern kann.<br />

Zum anderen zählt darunter, das Recht, Personen als Zeugen vorzuladen (Freudenreich/Ranft<br />

2008: 31). Beide Unterpunkte spielen für eine umfangreiche Aufarbeitung bzw. Untersuchung<br />

eine bedeutsame Rolle. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Transparenz der Arbeit der Wahrheitskommission<br />

(6): Hierunter fallen Fragen nach der namentlichen Nennung der Täter, öffentlichen<br />

Anhörungen und dem Anstreben eines Endberichtes, der veröffentlicht werden soll<br />

(Freudenreich/Ranft 2008: 31; Bacher 2004: 61).<br />

Zusammenfassung und Hypothesen<br />

Ausgehend von dem gerade erläuterten theoretischen Hintergrund, lässt sich zusammenfassen,<br />

dass eine Vergangenheitsaufarbeitung über Wahrheitskommissionen vor allem dann stattfindet,<br />

wenn eine Machtbalance zwischen den „Tätern“, d.h. dem früheren Regime, und „Opfern“, d.h.<br />

den Betroffenen und ihren Vertretern, während der Transition und Entscheidungsfindung vorherrscht.<br />

Die Regierung, die letztendlich meistens die Entscheidungsgewalt dafür trägt, steht in<br />

dem Dilemma mit zwei gegensätzlichen Forderungen umgehen zu müssen und trifft ihre Entscheidung<br />

in Abwägung bzw. unter Einfluss der Stärke beider Parteien. Die neuen Machthaber<br />

können dabei auch direkte Vertreter der Opfer sein. In Anlehnung an die Untersuchung von<br />

Ranft (2010: 105) wird davon ausgegangen, dass es sich dabei nur um ein bedingtes Gleichgewicht<br />

handelt und durchaus auch Unterschiede zwischen beiden Seiten bestehen, die sich dementsprechend<br />

auch nachweisen lassen sollten. Da das Mandat die „Gründungsakte“ und den<br />

funktionellen Rahmen der jeweiligen Wahrheitskommission darstellt und damit eng an die Entscheidung<br />

geknüpft ist, wirken sich die Interessenskonflikte somit auch auf dessen Gestaltung<br />

aus (Chapman/Ball 2001: 12; Gonzaléz-Enríquez/Aguilar/Barahona de Brito 2002: 305). Die<br />

erste Hypothese (H1) dieser Ausarbeitung lautet deshalb: Die vorherrschenden Machtverhältnisse<br />

spiegeln sich auch im Mandat der jeweiligen Wahrheitskommission wider. Im Interessenskonflikt<br />

hinsichtlich der Menschenrechts- bzw. Vergangenheitspolitik nimmt das Militär<br />

eine entscheidende Rolle ein, da von ihm ein besonderes Drohpotenzial für die Stabilität des<br />

neuen Systems ausgeht. Abhängig davon, ob das Militär in enger Verbindung mit dem outgoing<br />

regime steht, könnte dieses mehr Zugeständnisse erlangen, als wenn dies nicht der Fall ist. Das<br />

Militär kann dabei nicht nur die Aufarbeitung erschweren (Sriram 2004: 23), sondern es besteht<br />

bei früheren Militärregimen, d.h. bei entsprechender Machtposition des Militärs im ehemaligen<br />

System, und im Rahmen einer verhandelten Transition eine nicht geringe Wahrscheinlichkeit,<br />

dass das Militär auch im postautoritären System relativ machtvoll bzw. einflussreich bleibt<br />

(Gonzaléz-Enríquez/Aguilar/Barahona de Brito 2002: 305): „The institutional legacy of the<br />

dictatorial period often remains intact“ (Gonzaléz-Enríquez/Aguilar/Barahona de Brito 2002:<br />

305). Da der Einfluss des Militärs wiederum vom Typ des Regimes abhängt (Ranft 2010: 34),<br />

lautet die zweite Hypothese (H2): Ehemalige Regime mit einem starken, politisch einflussrei-<br />

27


chen militärischen Apparat, d.h. insbesondere Militärregime, besitzen auch nach dem (verhandelten)<br />

Übergang eine stärkere politische Stellung und dementsprechenden Einfluss, als das<br />

bei früheren Regimen, bei denen das Militär nicht so eine bedeutsame Stellung einnahm, der<br />

Fall ist, d.h. in Monarchien, no-party regimes, one-party regimes und limited multiparty regimes<br />

(Unterteilung nach Hadenius/Teorell 2006). Anschließend daran lautet die dritte Hypothese<br />

(H3), dass Wahrheitskommissionen, die nach einem (verhandelten) Übergang aus einem<br />

Militärregime entstehen, stärker eingegrenzt sind, als das bei anderen Regimen der Fall ist.<br />

Dabei sind insbesondere Einschränkungen hinsichtlich der Autorität und Transparenz zu vermuten<br />

(siehe Kapitel 2.3). Diese drei Hypothesen sollen im Folgenden anhand der beiden Fallbeispiele<br />

getestet werden und letztendlich zur Beantwortung der allgemeinen Fragestellung beitragen.<br />

Empirischer Teil: Analyse der Fallbeispiele<br />

Für die Überprüfung der oben aufgestellten Hypothesen und der damit verbundenen Beantwortung<br />

der Fragestellung werden im Folgenden die beiden Fallbeispiele analysiert und abschließend<br />

miteinander verglichen. Neben einem kurzen historischen Einblick in die Zeit vor und<br />

während der Transition sowie um die Errichtung der Wahrheitskommission werden jeweils die<br />

Machtverhältnisse zwischen dem alten Regime und der Seite der Opfer, insbesondere ihrer politischen<br />

Unterstützer, zur Zeit der Einsetzung der Kommission erläutert. Neben ihrer jeweiligen<br />

Stellung im politischen System und dem Bereich der Aufarbeitungspolitik einerseits, wird<br />

andererseits explizit auf die Rolle und den Einfluss des Militärs und der die Opfer unterstützenden<br />

Zivilgesellschaft eingegangen. Des Weiteren wird das Mandat der Wahrheitskommission<br />

anhand der oben aufgeführten Kriterien analysiert. Dabei wird sich hauptsächlich auf das Gründungsdokument<br />

bezogen, wobei im Falle fehlender Informationen auf die Umsetzung bei der<br />

jeweiligen Kommission zurückgegriffen wird. Abschließend erfolgt ein kurzes Fazit für das<br />

jeweilige Fallbeispiel. Als Fallbeispiele wurden die Wahrheitskommissionen in Chile und Südafrika<br />

ausgewählt. Bei beiden stellte Skaar (1999) ein Mächtegleichgewicht im Sinne eines<br />

starken outgoing regimes und eines starken politischen Drucks der Gegner fest (Skaar 1999:<br />

1118). Darüber hinaus waren wichtige Auswahlkriterien für die Fallbeispiele, dass sie einen<br />

möglichst ähnlichen Transformationsprozess durchlaufen haben, aber auf unterschiedlichen<br />

früheren Regimen basierten, sie in einem engen Zeitzusammenhang stehen, um einen möglichst<br />

gleichen Einfluss der internationalen Normen zu gewährleisten, und bereits ausreichende Untersuchungen<br />

bzw. Literatur zu ihnen bestehen. Diese Kriterien werden von den beiden hier<br />

ausgewählten Fallbeispielen Chile und Südafrika erfüllt, wobei Chile an dieser Stelle den Fall<br />

einer vorausgegangenen Militärdiktatur bzw. eines Militärregimes verkörpert und Südafrika<br />

mit dem Apartheid-Regime unter der dominanten NP (National Party) in den Bereich des limited<br />

multiparty regimes einzuordnen ist (Hadenius/Teorell 2006: 7-8), bei dem das Militär<br />

allgemein eine eher untergeordnete Stellung einnimmt.<br />

28


Chile<br />

Historischer Hintergrund<br />

Chile, das eigentlich durch eine „ausgeprägte demokratische Tradition“ (Reiß/Stohldreyer<br />

1997: 68) gekennzeichnet ist, befand sich von 1973 bis 1988/1990 unter einer Militärdiktatur,<br />

die sich durch einen Putsch gegen die gewählte sozialistische Regierung Salvador Allendes am<br />

11. September 1973 an die Macht brachte. Dies hatte nicht nur zur Folge, dass die führenden<br />

Militärs die Regierungsgewalt übernahmen sowie alle wichtigen Positionen mit ihren Anhängern<br />

besetzten, sondern auch das politische Leben im gewissen Sinne lahm legten, indem sie<br />

u.a. den Kongress auflösten und politische Organisationen verboten (Straßner 2007: 230). Darüber<br />

hinaus begannen sie sofort mithilfe repressiver Mittel ihre Macht zu sichern und politische<br />

Gegner zu verfolgen oder auszuschalten. Kam es direkt nach dem Putsch zu zahlreichen Todesurteilen,<br />

waren die folgenden Jahre durch das Verschwinden von zahlreichen Regimegegnern,<br />

die Ermordung, massive Inhaftierung (teils in Verbindung mit Missbrauch und Folter)<br />

sowie die Verbannung von Oppositionellen in abgeschiedene Regionen geprägt (Straßner 2007:<br />

S. 232-233). General Augusto Pinochet, der 1974 das Amt des Staatspräsidenten übernahm,<br />

konnte mit der neuen Verfassung von 1980 seine Macht erweitern und die Rolle des Militärs<br />

festigen. Auf die u.a. mit dem Erstarken der Opposition Anfang der 80er Jahre einsetzenden<br />

Proteste wurde mit Gewalt reagiert und diese letztendlich zurückgedrängt. Trotz dieser Ereignisse<br />

gewann die Opposition den in der neuen Verfassung vorgeschriebenen Volksentscheid<br />

zur Bestätigung von Pinochet als Präsidenten im Oktober 1988, indem 55 Prozent mit „Nein“<br />

votierten (Lawson 2005: 190). Dieses Ergebnis leitete letztendlich die Transition ein, bei der<br />

im Dezember 1989 der Kandidat des oppositionellen Parteienbündnis Concertación, Patricio<br />

Aylwin, mit einer absoluten Mehrheit zum Präsidenten gewählt wurde. Die Zeit dazwischen<br />

war geprägt von Verhandlungen zwischen den alten Machthabern und der Opposition zur Reformierung<br />

der bestehenden Verfassung, deren Abänderung im Juli 1989 durch ein Plebiszit<br />

angenommen wurde. Im März 1990 trat die neue Regierung unter Aylwin ihr neues Amt an und<br />

beendete zumindest zu einem gewissen Grad die Militärherrschaft Pinochets. Als eine seiner<br />

ersten Handlungen errichtete Aylwin im April 1990 per Dekret die Comisión Nacional de Verdad<br />

y Reconciliación (CNVR), die einen bedeutenden Schritt zur Aufarbeitung der begangenen<br />

Menschenrechtsverletzungen darstellte (Straßner 2007: 246).<br />

Die nationalen Machtverhältnisse<br />

Im Folgenden geht es um die politische Rolle bzw. Stärke des alten Regimes im Verhältnis zur<br />

neuen Führung bzw. ehemaligen Opposition, die als politische Vertretung der Opferseite gesehen<br />

werden kann, im postautoritären Chile zum Zeitpunkt der Einsetzung der Wahrheitskommission<br />

im April 1990. Hierzu ist allgemein zu sagen, dass trotz der Erfolge der Opposition<br />

beim Plebiszit 1988, der Verfassungsänderungen 1989 und bei den Wahlen 1989, das Militär<br />

und insbesondere Pinochet eine einflussreiche Stellung im „neuen System“ beibehielten: „the<br />

old regime remained forcefully institutionalized in the political, economic and social landscape<br />

of the country“. (Lawson 2005: 194) Pinochet verlor zwar sein Amt als Präsident, behielt aber<br />

das des Oberkommandierenden und „blieb Teil des politischen und militärischen Systems“<br />

(Rübenach 2010: 228). Die Gründe für diesen bestehenden Einfluss lagen u.a. in der mit der<br />

29


Pattsituation einhergehenden ausgehandelten Transition zwischen beiden politischen Gegnern<br />

und der weiterhin starken Position des Militärs. Trotz der mehr als 50 Verfassungsreformen an<br />

der Verfassung von 1980, beinhaltete diese zahlreiche autoritäre Enklaven, die dem alten Regime<br />

zugutekamen (Rübenach 2010: 229-230). Zudem erließ Pinochet in der Übergangszeit<br />

von Dezember 1989 bis März 1990 noch zahlreiche Gesetze, die den Einfluss des Militärregimes<br />

absicherten und die Macht der neuen Regierung weiter beschränkten (Barahona de Brito<br />

1997: 98). So verfügte er z.B. eine Garantie gegen Entlassungen im öffentlichen Dienst (Rübenach<br />

2010: 237-238), ernannte neun pro-militärische Richter auf Lebenszeit in den Supreme<br />

Court und sicherte die militärische Autonomie vor zivilem Einfluss ab (Lawson 2005: 192).<br />

Das Militär nahm auch nach der Transition eine bedeutsame Stellung ein. Zum einen lag<br />

es daran, dass es eng mit der Person Pinochets verbunden blieb (Straßner 2007: 244). Zum<br />

anderen hatte es als „eine Art vierte Gewalt“ (Rübenach 2010: 236) die Aufgabe die demokratische<br />

Ordnung zu sichern. Seine Oberbefehlshaber waren nicht direkt dem Präsidenten unterstellt.<br />

Er konnte diese nur aus einer Auswahl ernennen, aber nicht vor dem Ende ihrer Amtszeit<br />

absetzen, zumal Pinochet die Amtszeiten für den Übergang nochmal verlängert hatte. Außerdem<br />

stand das Militär in engem Kontakt zu den politischen Parteien der rechten Opposition,<br />

„die ihre Interessen im politischen System artikulier[t]en und über Jahre als parlamentarische<br />

Veto-Akteure fungierten“ (Straßner 2007: 240). So waren die Ergebnisse des Übergangs und<br />

insbesondere das politische Leben Anfang der 90er Jahre stark von den Einflüssen des alten<br />

Regimes geprägt: „In the early part of the decade, the army's advisory committee acted like a<br />

virtual shadow government“ (Lawson 2005: 208).<br />

Dies wirkte sich auch auf den Bereich der Vergangenheitspolitik bzw. -bewältigung aus.<br />

Themen diesbezüglich kamen erst im Zusammenhang mit den bevorstehenden Wahlen 1989<br />

auf, die zu einer belebten Diskussion, insbesondere hinsichtlich des Amnestiegesetzes von<br />

1978, führten. In diesem Gesetz wurde eine Amnestie für Verbrechen, die zwischen dem<br />

11.09.1973 und 10.03.1978 begangen wurden, ausgesprochen (Ensalaco 2000: 129). Dieses<br />

war in den vorausgegangenen Verhandlungen ausgeklammert worden und bestand somit fort.<br />

Das alte Regime begründete dabei immer wieder dessen Wichtigkeit und Pinochet betonte mit<br />

Nachdruck dessen Beibehaltung (Von Baer 2004: 66). Für die Concertación dagegen nahm vor<br />

allem das Thema Menschenrechte bzw. Menschenrechtsverletzungen eine wichtige Stellung<br />

ein (Von Baer 2004: 64), dem sich die neue Regierung auch direkt nach ihrem Amtsantritt<br />

widmete. Bereits im Wahlkampf warb sie für „Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung“<br />

(Von Baer 2004: 193). Präsident Aylwin machte die Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen<br />

zur Hauptaufgabe (Barahona de Brito, 1997: 152), wobei der Fokus letztendlich<br />

auf die Wahrheit gelegt wurde.<br />

Im Gegensatz zu den Interessen des früheren Regimes richteten sich die Erwartungen, insbesondere<br />

der Menschenrechts- bzw. speziell der Opferorganisationen sowie der Betroffenen,<br />

auf eine Aufarbeitung und Aufklärung der Vergangenheit (Rübenach 2010: 238). Die Rolle und<br />

Stärke dieser Gruppe bzw. dieses Teils der Zivilgesellschaft gilt es in diesem Absatz zu erläutern.<br />

Trotz der Diktatur hatte sich eine relativ große, differenzierte und miteinander verbundene<br />

Menschenrechtsbewegung entwickelt (Straßner 2007: 234), die neben verschiedenen Hilfsmaßnahmen<br />

für die Betroffenen auch durch die Dokumentation und Publikation der Verbrechen<br />

sowie öffentliche Aktionen in diesem Bereich aktiv war. Allerdings zeigte sich bereits während<br />

30


der Demokratisierungsphase, d.h. den Verhandlungen, die Tendenz eines Einflussverlustes<br />

(Reiß/Stohldreyer 1997: 72), die sich danach allgemein noch weiter verfestigte. Während der<br />

Verhandlungen bzw. im Rahmen des Wahlkampfes war die Artikulation zur Vergangenheitsaufarbeitung<br />

besonders durch die Parteien von Gewicht. Allerdings erhöhten z.B. die Angehörigenverbände<br />

im März 1990 den öffentlichen Druck auf die Einhaltung der Wahlversprechen<br />

(Von Baer 2004: 71-72) und auch das Interesse der Öffentlichkeit stieg vor der Einsetzung der<br />

Wahrheitskommission an (Von Baer 2004: 107). Generell gewannen aber die Parteien wieder<br />

an Bedeutung, die bereits vor dem Militärputsch eine besondere Stellung bei der Interessensartikulation<br />

in Chile einnahmen (Reiß/Stohldreyer, 1997: 69).<br />

Ihren politischen Einfluss hatte die Menschenrechtsbewegung vor allem vor dem Plebiszit<br />

von 1988, da sie während der Militärherrschaft eng mit den oppositionellen Parteien zusammengearbeitet<br />

und Verbindungen aufgebaut hatte (Von Baer 2004: 64). Das zeigte sich u.a.<br />

dadurch, „dass in vielen dieser Gruppen spätere Parteiführer arbeiteten“ (Von Baer 2004: 64).<br />

Dieser Einfluss war in dem Sinne wirkungsvoll, da um 1990 herum besonders die Oppositionsbewegung<br />

als wichtiger Unterstützer der Opferinteressen auf politischer Ebene auftrat. Dies<br />

zeigt sich zu einem gewissen Grad darin, dass die neue Regierung der Vergangenheitsaufarbeitung<br />

Priorität zuschrieb.<br />

Das Mandat der Wahrheitskommission<br />

Am 25. April 1990 gründete Präsident Aylwin mit dem Decreto Supremo N° 355 die Comisión<br />

Nacional de Verdad y Reconciliación (National Commission for Truth and Reconciliation), um<br />

damit die Wahrheit über die Menschenrechtsverletzungen während der Militärdiktatur zu ermitteln<br />

und letztendlich Versöhnung herbeizuführen (USIP 2002: Art. 1). Dazu sollte die Kommission<br />

ein komplettes Bild der Geschehnisse, ihrer Vorgeschichte und Umstände zeichnen,<br />

die Opfer identifizieren und ihr Verbleiben bzw. Schicksal aufklären und Empfehlungen für<br />

Reparationen sowie für Maßnahmen der Prävention derartiger Verbrechen geben (USIP 2002:<br />

Art. 1).<br />

Mit Bezug auf die Analyse der im Theorieteil erwähnten Kriterien (siehe Kapitel 2.3) lässt<br />

sich für diese Kommission Folgendes festhalten: Die für die Untersuchung bestimmten Verbrechen<br />

(1) waren begrenzt auf die „most serious human rights violations“ (USIP 2002: Art. 1):<br />

„persons who disappeared after arrest, who were executed, or who were tortured to<br />

death, in which the moral responsibility of the state is compromised as a result of<br />

actions by its agents or persons in its service, as well as kidnappings and attempts on<br />

the life of persons committed by private citizens for political purposes.“ (USIP 2002:<br />

Art. 1)<br />

Damit waren Personen, die z.B. von Folter betroffen gewesen waren, aber überlebt hatten,<br />

ausgeschlossen. Gleichzeitig wurden Personen, die Opfer politisch motivierter Gewalttaten<br />

durch Privatpersonen waren, mit eingeschlossen. Dieser Zusatz verweist vor allem auf die terroristischen<br />

Handlungen des bewaffneten Widerstands gegen das Regime und kann als Zugeständnis<br />

für die dem Militärregime nahe stehende Seite bewertet werden (Barahona de Brito<br />

1997: 156; Ensalaco 2000: 186-187). Der zu untersuchende Zeitraum (2) erstreckte sich auf die<br />

31


gesamte Zeit der militärischen Herrschaft, einschließlich der Transitionsperiode, d.h. vom<br />

11.09.1973 bis 11.03.1990, und kann daher als umfassend bewertet werden. Auch in Bezug auf<br />

das dritte Kriterium, die Urheber bzw. Verdächtigen der Verbrechen, gab es keine fundamentalen<br />

Einschränkungen. Es betraf sowohl Personen, die im Auftrag des Staates gehandelt hatten,<br />

als auch Privatpersonen mit politischen Motiven. Als Kommissionsmitglieder (4) nominierte<br />

Aylwin seiner Ansicht nach „highly respected people with moral authority“ (USIP 2002: No.<br />

355 Considering, Punkt 8). Darunter befanden sich neben vier ehemaligen Oppositionsanhängern,<br />

auch vier Personen, die Pinochet unterstützt hatten oder eher der rechten, konservativen<br />

Seite zugeordnet werden können (Hayner 2011: 47) und somit zu einem pluralistischen Charakter<br />

beitrugen. Dagegen kann die Macht bzw. Autorität der Wahrheitskommission (5) als nur<br />

eingeschränkt beschrieben werden. Zwar wurde festgelegt, dass öffentliche Institutionen<br />

verpflichtet sind „to offer the Commission all the collaboration it may request, furnish the documents<br />

it may need, and provide access to such places as it may determine necessary to visit.“<br />

(USIP 2002: Art. 8) Allerdings besaß die Kommission keine rechtliche Grundlage diese Dokumente<br />

einzufordern, noch die Autorität Zeugen vorzuladen (Ensalaco 2000: 196). Letztendlich<br />

beruhten diese Vorgänge auf Freiwilligkeit, was wiederum die strikte Trennung zwischen der<br />

Wahrheitsfindung und der juristischen bzw. strafrechtlichen Funktion, die den zuständigen Gerichten<br />

vorbehalten war, widerspiegelt (USIP 2002: Art. 2; Barahona de Brito 1997: 156-157).<br />

Bezüglich der Transparenz (6) lässt sich festhalten, dass weder die namentliche Nennung der<br />

Täter noch eine öffentliche Anhörung stattfand (Freudenreich/Ranft 2008: 41; Barahona de<br />

Brito 1997: 156). Beides wurde zwar nicht explizit im Mandat erwähnt, lässt sich aber auf die<br />

gerade erläuterte Trennungspolitik zurückführen. Allerdings legte das Mandat die Erstellung<br />

eines Abschlussberichtes und dessen Veröffentlichung durch den Präsidenten fest (USIP 2002:<br />

Art. 4), was zumindest für die Transparenz der Ergebnisse spricht.<br />

Zwischenfazit<br />

Mit Hinblick auf die hier zu beantwortende Forschungsfrage und dem gerade erläuterten Fallbeispiel<br />

lässt sich zusammenfassend festhalten: Die Wahrheitskommission an sich spricht zwar<br />

für ein Mächtegleichgewicht, aber im Detail zeigt sich, dass die nationalen Machtverhältnisse<br />

trotz der ausgehandelten Transition für ein stärkeres Gewicht des früheren autoritären Regimes<br />

sprechen. Zwar konnte dieses abgesetzt und eine Entwicklung hin zur Demokratie gestartet<br />

werden, allerdings blieb der Einfluss weiterhin bestehen und die Verhandlungen wurden maßgeblich<br />

durch Pinochet bestimmt bzw. erfolgten zu einem großen Teil nach dessen Regeln.<br />

Nichtsdestotrotz konnten auch Erfolge auf der Seite der Regimegegner verzeichnet werden.<br />

Insbesondere die hohe Bedeutung der Vergangenheitsbewältigung und -aufklärung, die sich die<br />

Concertación auf die politische Fahne geschrieben hatte, zeigt im Bereich der Menschenrechtsund<br />

Vergangenheitspolitik in eine eindeutige Richtung, die sich in der Comisión Nacional de<br />

Verdad y Reconciliación manifestierte. Trotzdem erfolgte diese unter den bestehenden politischen<br />

constraints. Dies lässt sich auch am Mandat der Wahrheitskommission wiederfinden.<br />

Zeigten vor allem die Kriterien der zu untersuchenden Verbrechen und der Kommissionsmitglieder<br />

eine weitgehende Ausgewogenheit unter Einbezug beider Seiten und ermöglichten der<br />

Untersuchungszeitraum und die Urheber eine umfassende Untersuchung, waren die Bereiche<br />

der Autorität und Transparenz stark eingeschränkt, wobei immerhin die Veröffentlichung des<br />

32


Endberichtes als Pluspunkt gelten muss. Allerdings sollte auch die bestehende Amnestieregelung<br />

bei der Betrachtung nicht vergessen werden. Nur auf die Wahrheitsfindung und strikt von<br />

gerichtlichen Aufgaben abgegrenzt, besaß die Wahrheitskommission keine Möglichkeit Informationen<br />

und Zeugenaussagen verbindlich einzufordern und musste sich letztendlich auf die<br />

Freiwilligkeit der Betreffenden verlassen. Innerhalb des bestehenden funktionalen Rahmens<br />

war sie zwar inhaltlich relativ gut für eine Aufarbeitung ausgestattet. Da dieser Rahmen aber<br />

vom Militärregime mit vorgegeben war, lässt sich festhalten, dass dieser Einfluss hier deutlich<br />

sichtbar wird. Ensalaco (2000: 183) formulierte es so: „[Aylwin] framed its mandate so as to<br />

avoid legal challenges, and to placate the military.“<br />

Südafrika<br />

Historischer Hintergrund<br />

Die ersten freien Parlamentswahlen vom 27. April 1994 beendeten in Südafrika politisch die<br />

Phase der Apartheid und damit die Zeit, in der die nicht-weiße Bevölkerungsmehrheit durch<br />

systematische, alle Lebensbereiche umfassende und gesetzlich verankerte Diskriminierung unterdrückt<br />

wurde (Schmidt 1997: 41). Obwohl der Konflikt zwischen der weißen und schwarzen<br />

Bevölkerung Südafrikas weit in die Geschichte des Landes hineinreicht, kam es erst 1948 mit<br />

dem Wahlsieg der National Party (NP) und deren Regierungsantritt zum „uneingeschränkten<br />

Machtanspruch“ der Weißen sowie dem staatlich verankerten Rassismus und der damit einhergehenden<br />

Unterscheidung des Rechtsstatus und der „Aufenthaltsmöglichkeiten“ der Bevölkerung<br />

anhand ihrer Hautfarbe (Werle 1998: 224). Diesem entgegenwirkend, kam es immer wieder<br />

zu Widerstand gegen die politischen, ökonomischen und sozialen Diskriminierungen, auch<br />

nachdem 1960 die schwarzen Oppositionsparteien ANC (African National Congress) und PAC<br />

(Pan Africanist Congress) verboten wurden. Neben friedlichen Mitteln, wie Demonstrationen<br />

und Massenprotesten, gab es auch gewaltsame bzw. bewaffnete Gegenreaktionen, gegen die<br />

alle mit staatlichen Repressionen unterschiedlicher Art begegnet wurde und aus denen sich eine<br />

„gigantische Sicherheitsgesetzgebung“ (Werle 1998: 224) entwickelte. Es kam u.a. zu Massakern,<br />

Ermordungen, Folter, Langzeitgefängnisstrafen sowie Verhaftungen ohne gerichtliche<br />

Kontrolle (Hayner, 2011: 27; Werle 1998: 225). In den 1980er Jahren erreichte nicht nur die<br />

Oppositionsbewegung einen signifikanten Aufschwung, sondern am Ende dieses Jahrzehnts<br />

stand zudem das Apartheid-Regime vor zahlreichen Problemen von politischer, ökonomischer,<br />

sozialer und internationaler Natur (Lawson 2005: 121, 130).<br />

Fanden bereits ab 1985 geheime Gespräche mit Mandela statt (Sriram 2004: 149), erfolgte<br />

im Februar 1990 die öffentliche Abkehr vom bisherigen Machtmonopol der Weißen durch den<br />

damaligen Präsidenten de Klerk, indem er u.a. die schwarze Opposition legalisierte und „Gespräche<br />

über eine zukünftige Machtbeteiligung der Schwarzen in Südafrika in Aussicht“ (Kaußen<br />

2003: 101) stellte. Es folgte ein „zäher Verhandlungsprozeß [sic]“ (Schmidt 1997: 41)<br />

zwischen den alten Machthabern und der schwarzen Opposition über die Interimsverfassung,<br />

die am 27. April 1994 zeitgleich mit den Parlamentswahlen in Kraft trat und erst 1997 durch<br />

eine neue Verfassung abgelöst werden sollte. Diese Wahlen gewann der ANC unter Mandela.<br />

Er bildete daraufhin eine Regierung der nationalen Einheit, die auch den ehemaligen Präsiden-<br />

33


ten de Klerk mit einbezog (Sriram 2004: 154). Das sich aus den Wahlen konstituierende Parlament<br />

verabschiedete ungefähr ein Jahr später, 1995, den Promotion of National Unity and<br />

Reconciliation Act, der die Grundlage für die Errichtung der südafrikanischen Wahrheits- und<br />

Versöhnungskommission bildete.<br />

Die nationalen Machtverhältnisse<br />

Im Folgenden geht es um die Machtverhältnisse zwischen den alten und neuen Machthabern<br />

zur Zeit der Einsetzung der Wahrheitskommission und der Rolle von Militär und Zivilgesellschaft<br />

in diesem Zeitraum.<br />

Dieses Machtverhältnis lag 1995 leicht zugunsten der Opposition, insbesondere des ANC,<br />

der 1994 nicht nur die Parlamentswahlen klar gewann und damit die Mehrheit der Sitze in der<br />

Nationalversammlung, sondern auch das Präsidentenamt und Justizministerium besetzte (Audretsch<br />

2008: 18). Dennoch war auch die NP weiterhin im Parlament und in der Übergangsregierung<br />

vertreten und stellte mit de Klerk einen der beiden Vizepräsidenten der neuen Republik.<br />

Die Verhandlungen, die zur Einsetzung der Wahrheitskommission führten, können als ungefähr<br />

ausgewogen beschrieben werden (Audretsch 2008: 18). Dies lässt auch auf das vorherrschende<br />

Machtverhältnis schließen, zumal eine auf Grundrechten beruhende, demokratische Übergangsverfassung<br />

ein weiteres Ergebnis war (Kaußen 2003: 146-147). Dennoch dürfen die Einflussmöglichkeiten<br />

des alten Regimes nicht völlig unberücksichtigt bleiben, da für die vorausgegangenen<br />

Verhandlungsprozesse und die Übergangsverfassung Kompromisse auf beiden<br />

Seiten nötig waren, die sich u.a. in „Einschränkungen bei der Aufarbeitung der Vergangenheit“<br />

(Werle 1998: 226) zeigten, wie sie u.a. in der Amnestieregelung und den vorausgegangenen<br />

Debatten deutlich wurden. Während die NP auf einer Generalamnestie bestand, forderte die<br />

ANC eine Untersuchungskommission. Des Weiteren kommt hinzu, dass eine „fast vollständige<br />

[personelle] Beibehaltung der Sicherheitskräfte, der öffentlichen Verwaltung und der Justiz“<br />

(Audretsch 2008: 18) den Wechsel kennzeichnen.<br />

Die Rolle des Militärs ist dabei als nur nebensächlich zu charakterisieren. Trotz „einer<br />

starken Militarisierung der politischen Herrschaft“ (Theißen 1996: 12) während der 1980er<br />

Jahre, behielt die zivile Elite die Befehlsgewalt. Mit dem nationalen Friedensabkommen vom<br />

September 1991 wurden „[b]edeutende strukturelle Veränderungen für den institutionellen<br />

Aufbau des Sicherheitssektors (…) und der Subordination des Militärs“ (Ranft 2010: 82) festgelegt.<br />

Ein Großteil der Reformen wurde dabei noch während der Transition eingeführt (Ranft<br />

2010: 82). Zu diesen Reformen zählten die Integration der Guerillakämpfer und Bildung eines<br />

neuen Führungsstabs sowie die Verbesserung der zivilmilitärischen Beziehungen (Ranft 2010:<br />

82). Der politische Einfluss des Militärs kann daher als gering eingestuft werden (Theißen 1996:<br />

12).<br />

Zur Seite der Opfer, die dem früheren Regime gegenübersteht, zählt in erster Linie die<br />

Gesamtheit der schwarzen Bevölkerung, die unter dem Rassismus des Apartheidsregimes litt.<br />

„Die öffentliche Unterstützung zur Aufklärung und Verfolgung der vergangenen Menschenrechtsverletzungen<br />

innerhalb der schwarzen Bevölkerung ist dementsprechend groß“ (Theißen<br />

1996: 12). Südafrika weist eine gut organisierte und starke Zivilgesellschaft auf (Theißen 1996:<br />

34


12; Schmidt 1997: 42), die auch während der Apartheid aktiv war. An erster Stelle steht dabei<br />

der ANC, welcher sich für ein nichtrassisches und auf Menschenrechten beruhendes demokratisches<br />

Südafrika einsetzte. Daneben spielten aber auch humanitäre Nichtregierungsorganisationen,<br />

Bürgervereinigungen, die Kirchen und Gewerkschaften eine wichtige Rolle. Von besonderer<br />

Bedeutung war in den 80er Jahren die United Democratic Front, die aus einem Netzwerk<br />

von rund 600 verschiedenen Gruppen bestehend das „organisatorische Rückgrat des Widerstands“<br />

(Schmidt 2005: 158) darstellte. Während bei den Verhandlungen zwischen dem ANC<br />

und dem alten Regime die anderen bedeutsamen gesellschaftlichen Gruppen in den Hintergrund<br />

rückten (Adam 1998: 352) und die politischen Akteure die entscheidende Rolle einnahmen, war<br />

die Gesetzgebung zur Wahrheitskommission eng an die Zivilgesellschaft gekoppelt. Bei der<br />

Erarbeitung des Gesetzes wurden zahlreiche Institutionen der Zivilgesellschaft, u.a. bedeutende<br />

Nichtregierungsorganisationen, einbezogen und deren „Vorschläge“ diskutiert (Durczak 2001:<br />

60). Dabei zeigte sich auch deren vorhandenes Einflusspotenzial, nicht nur in Form von „Vorschlägen“,<br />

sondern auch ganz konkret, indem durch den Zusammenschluss verschiedener<br />

NGOs die Öffentlichkeit der Amnestieverfahren durchgesetzt wurde (Theißen 1996: 41). Wie<br />

oben bereits erwähnt, stellte der ANC die wichtigste, im Sinne von politisch machtvolle, Vertretung<br />

der Opfer des Apartheid-Regimes dar. Seine Macht bzw. Position wurde bereits oben<br />

dargelegt, muss aber im Bereich der Opferseite noch ergänzt werden. Sein besonderer „Vertretungsanspruch“<br />

lag vor allem darin, dass er schon sehr früh Widerstand gegen das Regime leistete<br />

und sich trotz des Verbots „als die große Anti-Apartheid-Bewegung etablier[en]“ (Kaußen<br />

2003: 95) konnte. Darüber hinaus war der ANC, als politische Organisation während der Apartheid<br />

eng mit der Zivilgesellschaft verknüpft: „ANC-Politiker waren nicht nur häufig führende<br />

Mitglieder jener Nichtregierungsorganisationen, sondern meist selbst Opfer von Inhaftierung<br />

und Folter gewesen.“ (Theißen 1996: 12) Eine Aufarbeitung der Vergangenheit lag daher<br />

ebenso in seinem Interesse, auch wenn damit immer auch ureigene Interessen verbunden waren,<br />

wie das Beispiel mit den öffentlichen Verhandlungen zeigt. Die Machtverhältnisse lagen zusammengefasst<br />

leicht auf der Seite der Opfer, die durch den ANC und verschiedene NGOs eine<br />

Vertretung hatten.<br />

Das Mandat der Wahrheitskommission<br />

Nach einer einjährigen Debatte verabschiedete das Parlament am 28. Juni 1995 den Promotion<br />

of National Unity and Reconciliation Act, der die Grundlage für die Errichtung der Truth and<br />

Reconciliation Commission (TRC) bildete. Initiiert vom ANC und dem damaligen Justizminister<br />

Dullah Omar (Theißen 1996: 38), stellte diese Wahrheitskommission eine komplexe Einrichtung<br />

dar, die insgesamt drei Komitees (das Komitee für Menschenrechtsverletzungen, das<br />

Amnestiekomitee und das Komitee für Entschädigung und Rehabilitation) beinhaltete. Als<br />

übergreifendes Ziel stand dabei die Förderung nationaler Einheit und Versöhnung im Mittelpunkt,<br />

zu der u.a. ein möglichst komplettes Bild der schwersten Menschenrechtsverletzungen,<br />

ihre Ursachen und Ausmaße gezählt wurden (FAS 1995: Act No. 34, Chapter 2, 3.,(1)) Im<br />

Folgenden sollen die im Theorieteil erwähnten Analysepunkte auch auf dieses Mandat angewendet<br />

werden (siehe Kapitel 2.3).<br />

35


Zu der Art der Menschenrechtsverletzungen, dem ersten Kriterium, das hier untersucht<br />

werden soll, zählten Mord, Entführung, Folter und schwere Misshandlungen sowie jeder Versuch,<br />

jede Verschwörung, Anstiftung und Befehl zu einer dieser Taten (FAS 1995: Act No. 34,<br />

Chapter 1, 1.,(1),(ix),(a),(b)). Andere Tatbestände, die während der Apartheid legal waren, aber<br />

trotzdem zum institutionalisierten Rassismus gehörten und der alltäglichen Unterdrückung<br />

dienten, blieben außen vor (Durczak 2001: 68). Die Zeitspanne der Untersuchung (2) erstreckte<br />

sich vom 1. März 1960 bis zum 6. Dezember 1993, dem Tag, an dem die Übergangsverfassung<br />

verabschiedet wurde, und beinhaltete damit auch den Großteil der Transitionsperiode. Später<br />

wurde der Zeitraum auf den 10. Mai 1994 erweitert. Grund dafür war „politischer Druck, insbesondere<br />

von Seiten des rechten Flügels“ (Durczak 2001: 64). In Bezug auf das dritte Kriterium,<br />

den Urhebern bzw. Verantwortlichen der Menschenrechtsverletzungen gab es keine weiteren<br />

Einschränkungen. Für die zukünftigen Kommissionsmitglieder (4) wurde nur festgelegt:<br />

„The commissioners shall be fit and proper persons who are impartial and who do not have a<br />

high political profile“ (FAS 1995: Act No. 34, Chapter 2, 7.,(2),(b)). Zudem wurde beschlossen,<br />

dass sie durch den Präsidenten in Absprache mit dem Kabinett bestimmt werden sollten.<br />

Letztendlich wurden die späteren 17 Kommissare unter Einbezug der Zivilgesellschaft und Öffentlichkeit<br />

ausgewählt. Darunter befanden sich nicht nur sechs weiße Mitglieder, sondern es<br />

wurde auch auf die Repräsentation eines breites politischen Spektrums geachtet. Ein Großteil<br />

von ihnen hatte sich gegen die Apartheid eingesetzt (Bacher 2004: 91). In Bezug auf die Macht<br />

und Autorität (5) wurden der Wahrheits- und Versöhnungskommission umfangreiche Kompetenzen<br />

mit justizähnlichen Vollmachten (Werle 1998: 227) zugesprochen. Für ihre Ermittlungen<br />

bzw. Untersuchungen hatte sie das Recht, Anhörungen abzuhalten (FAS 1995: Act No. 34,<br />

Chapter 2, 5.,(d)), Zeugen vorzuladen (notfalls unter Strafandrohung) sowie Durchsuchungen<br />

durchzuführen und Beweismittel zu beschlagnahmen (Durczak 2001: 65; FAS 1995: Act No.<br />

34, Chapter 6, 29., 32.). Darüber hinaus konnte sie in Abstimmung mit den zuständigen Behörden<br />

Informationen aus anderen Ländern sammeln (FAS 1995: Act No. 34, Chapter 2, 5.,(i)).<br />

Außerdem traf sie die Entscheidung bezüglich der Amnestieanträge. Hinsichtlich der Transparenz<br />

(6) kann ebenfalls ein positives Feedback gezogen werden: Grundsätzlich sollten die Anhörungen<br />

öffentlich abgehalten werden. Zudem wurde festgelegt, dass die Namen der Täter und<br />

derjenigen, die eine Amnestie erhielten öffentlich sein sollten (FAS 1995: Act No. 34, Chapter<br />

4, 20.,(6)). Es war ebenso vorgesehen, dass die Kommission einen Abschlussbericht mit den<br />

Ergebnissen verfasst, der dann vom Präsidenten veröffentlicht werden sollte (FAS 1995: Chapter<br />

7, 44.).<br />

Zwischenfazit<br />

Die Analyse der nationalen Machtverhältnisse zwischen den früheren Machthabern und der<br />

Opposition bzw. den Opfern der Repressionen und Menschenrechtsverbrechen hat gezeigt, dass<br />

zum Einsatz der Wahrheits- und Versöhnungskommission diese sich in einem relativen Gleichgewicht<br />

befanden, wobei ein leichtes Mehrgewicht auf der Seite der Opfer bzw. Opposition,<br />

insbesondere im Bereich der Vergangenheitsbewältigung, lag. Dabei darf natürlich auch nicht<br />

der Entstehungsprozess dieser Wahrheitskommission aus Acht gelassen werden, der einen verhandlungstechnischen<br />

Kampf, insbesondere hinsichtlich der Amnestie, zwischen beiden Seiten<br />

darstellte und letztendlich auch durch die Einflussnahme der Zivilgesellschaft geprägt war. Das<br />

36


Mandat weist dieses Verhältnis in ähnlicher Weise auf, indem es „einen politischen Kompromiss<br />

(…) wiederspiegelt [sic]“ (Durczak 2001: 61). Allerdings zeigen die hier untersuchten<br />

Kriterien eine Dominanz der „Aufklärer“-Seite, auch wenn teilweise Kompromisse deutlich<br />

werden, wie sie sich z.B. in den Amnestieregelungen, die eben keine Generalamnestie ermöglichten,<br />

oder möglicherweise auch in den beschränkten Formen der Menschenrechtsverletzungen,<br />

die untersucht werden sollten, widerspiegeln. Eine Ausgewogenheit zeigt sich daher teilweise<br />

bei der Art der Verbrechen, wobei hier vor allem ein Einfluss des alten Regimes zu vermuten<br />

ist, da die zwar zu diesem Zeitpunkt legalen, aber hinsichtlich der Menschenrechte nicht<br />

legitimen Handlungen während der Apartheid nicht aufgenommen wurden. Dagegen sprechen<br />

die Auswahl des Zeitraumes und die uneingeschränkte Urheberschaft für eine umfangreiche<br />

Untersuchung. Hinsichtlich der Kommissionsmitglieder, hält sich das Mandat eher zurück. Die<br />

Realität zeigt aber eine zugunsten der Menschenrechte ausgewählte Mitgliederliste, wobei auf<br />

politische Repräsentativität geachtet wurde. Insbesondere aber die weitreichende Macht und<br />

Transparenz sprechen für den Einfluss der Opferseite und eine auf ihrer Seite stehende Einrichtung,<br />

die eine relativ umfassende Aufklärung ermöglicht.<br />

Fazit und Ausblick<br />

Diese Ausarbeitung hatte sich zur übergeordneten Aufgabe gestellt, den Einfluss der vorherrschenden<br />

nationalen Machtverhältnisse bei der Einsetzung der Wahrheitskommission auf deren<br />

Mandat zu untersuchen. Dabei galt es zum einen herauszufinden, ob sich die nationalen Machtverhältnisse<br />

generell im Mandat widerspiegeln und inwieweit sich die Interessen der jeweiligen<br />

Seiten auch auf die einzelnen Kriterien des Mandats auswirken. Mit Blick auf die untersuchten<br />

Fallbeispiele lässt sich ein solcher Einfluss bzw. eine solche „Reflexion“ der Machtverhältnisse<br />

generell nachweisen. Es finden sich dabei sowohl die Interessen des alten Regimes als auch die<br />

der Seite der Opfer, die in beiden Fallbeispielen eng mit dem neuen Regime verknüpft ist, im<br />

Mandat wieder. Interessant ist an dieser Stelle, dass in beiden Fallbeispielen die politischen<br />

Parteien der Oppositionsseite eine entscheidende Rolle bei der Vertretung der Opferseite im<br />

Rahmen der Vergangenheitspolitik spielten, was die hier vorgenommene Erweiterung der zweiten<br />

Akteursgruppe unterstützt. Trotzdem übte die Zivilgesellschaft durchaus auch Druck aus<br />

und insbesondere in Südafrika war zumindest der Gesetzgebungsprozess für die TRC durch sie<br />

geprägt. Beide Fallbeispiele unterscheiden sich darin, dass sie zwar ein relatives Mächtegleichgewicht<br />

besitzen, dass sie aber zu einer bestimmten Seite neigen. Besonders deutlich wird das<br />

am Beispiel von Chile, wo das vorherige Regime weiterhin eine bedeutsame Position einnahm,<br />

während sich in Südafrika das Machtverhältnis zugunsten des ANC verschob. Dies ließ sich<br />

auch bei den einzelnen Kriterien feststellen, wobei zwischen den beiden Fallbeispielen Unterschiede<br />

auszumachen sind. Während in beiden Ländern die Kriterien des Zeitraums und der<br />

Urheber für eine relativ umfangreiche Untersuchung sprechen und zu einem gewissen Grad<br />

auch die Auswahl der Kommissionsmitglieder einen ausgewogenen Charakter hatte, stellen<br />

sich doch erhebliche Unterschiede gerade bei der Transparenz und der Autorität beider Fallbeispiele<br />

ein. Beides sind wichtige Kriterien für eine umfassende und nachvollziehbare Arbeit der<br />

Kommission im funktionalen Sinn. Wurde der südafrikanischen Wahrheitskommission eine<br />

umfangreiche Transparenz und Autorität im Mandat zugeschrieben, verhält sich das Ganze in<br />

37


entgegengesetzter Weise für ihr chilenisches Pendant. Bei der Art der Menschenrechtsverletzungen<br />

sind auf beiden Seiten ähnliche Einschränkungen zu entdecken, obwohl dennoch beide<br />

Seiten, d.h. Opposition und altes Regime, berücksichtigt wurden. Allerdings steht keine der<br />

untersuchten Wahrheitskommissionen komplett auf einer bestimmten Seite, wobei gerade die<br />

südafrikanische TRC zu einem großen Maß im Sinne der Opfer eingerichtet wurde, was das<br />

dargelegte Machtverhältnis hat so nicht vermuten lassen. Dagegen scheint die Wahrheitskommission<br />

in Chile schwächer als angenommen von den Interessen des ehemaligen Militärregimes<br />

beeinflusst worden zu sein, was auf weitere Einflussfaktoren schließen lässt, die es noch zu<br />

untersuchen gilt.<br />

Mit Rückblick auf die oben aufgestellten Hypothesen lässt sich letztendlich festhalten, dass<br />

diese hier bestätigt werden können. Die Analyse zur Rolle des Militärs hat gezeigt, dass bei<br />

einer starken Stellung dieses, wie es im postautoritären Chile der Fall war, auch eine stärkere<br />

Einschränkung des Mandats der Wahrheitskommission besteht. Anders zeigt es sich in Südafrika,<br />

wo das Militär eine untergeordnete Rolle einnahm und letztendlich während der Einsetzung<br />

der Wahrheitskommission keinen wirklichen politischen Einfluss hatte. Damit kommt<br />

dem Militär nicht nur eine einflussreiche, wenn nicht sogar entscheidende Rolle bei der Transition<br />

allgemein zu, sondern auch im Hinblick auf den Umgang mit vorausgegangenen Menschenrechtsverletzungen.<br />

Unterstützend für diese Argumentation muss ergänzt werden, dass<br />

sich beide Staaten eines ähnlichen Transformationsprozesses ausgesetzt sahen – eine friedliche,<br />

ausgehandelte Transition, die mit einer machtpolitischen Pattsituation einherging. Zudem kann<br />

davon ausgegangen werden, dass ebenso der Einfluss internationaler Normen relativ gleich sein<br />

müsste, da beide Fallbeispiele zeitlich nicht sehr weit auseinander liegen. Allerdings handelt es<br />

sich eben auch nur um zwei Fallbeispiele, deren Anzahl aufgrund des veranschlagten Umfangs<br />

dieser Ausarbeitungen begrenzt ist. Eine Überprüfung der aufgestellten Hypothesen und hier<br />

anschließende Untersuchung sollte noch für weitere Wahrheitskommissionen durchgeführt<br />

werden, um zuverlässigere Aussagen über den Einflussfaktor „nationale Machtverhältnisse“<br />

und die damit in Verbindung stehende militärische Rolle treffen zu können. Letztendlich konnten<br />

durch den vorgegebenen Umfang nur bestimmte Aspekte aufgegriffen werden. Erweiterungen<br />

sind nicht nur hinsichtlich der Anzahl der Fallbeispiele sinnvoll, sondern ebenso in Bezug<br />

auf den Vergleich weiterer Rahmenbedingungen, z.B. dem Einwirken internationaler Akteure.<br />

Auch die weitere Untersuchung hinsichtlich des Einflusses auf die Arbeit und Ergebnisse der<br />

Wahrheitskommissionen wären für zukünftige Forschungen angebracht, genau wie eine detailliertere<br />

und differenziertere Auseinandersetzung mit den beiden „Parteien“, die hier als Typen<br />

behandelt wurden.<br />

Wahrheitskommissionen sind Bestandteil und Ergebnis politischer Prozesse, wie die bisherige<br />

Forschung bestätigen konnte. Dementsprechend sind sie bestimmten politischen Einflüssen<br />

ausgesetzt: „Most truth commissions operate under many (…) constraints (…) – weak<br />

legal institutions, limited resources, dependence on cooperation from officials who served the<br />

previous regime, missing data, and political environments that limit their mandates and options.“<br />

(Chapman/Ball 2001: 5) Die Frage ist nur, wie diese Prozesse genau aussehen und welche<br />

Faktoren und in welcher Form diese auf sie wirken. Diese Ausarbeitung stellt nur einen<br />

Schritt dar, um ein besseres Verständnis für die Beziehung zwischen der Wahrheitskommission<br />

38


und der sie umgebenden politischen Umwelt zu bekommen, wobei die nationalen Machtverhältnisse<br />

und die Rolle des Militärs im Mittelpunkt standen. Allerdings bleiben dazu noch Fragen<br />

offen. Eine Auseinandersetzung mit den ablaufenden politischen Prozessen und deren Einflussnahme<br />

auf die Gestaltung der Wahrheitskommission, d.h. letztendlich eine Art Ursachenforschung,<br />

ist dennoch von großer Bedeutung. Gerade deshalb, weil die Errichtung von Wahrheitskommissionen<br />

und das mit ihnen verbundene Mandat die Grundlagen und Rahmenbedingungen<br />

für die weitere Arbeit schaffen und letztendlich die Ergebnisse und Erfolge der Wahrheitskommission<br />

im positiven wie im negativen Sinn beeinflussen können. Daran schließt sich<br />

die Frage nach der Art der Wahrheit, die produziert wird, und nach einem friedlichen, gesellschaftlichen<br />

Zusammenleben. Wenngleich Letztgenanntes nicht nur von der Wahrheitskommission<br />

bzw. der Art der Aufarbeitung abhängt, muss ihm doch ein gewisser Stellenwert zugeschrieben<br />

werden. Letztendlich sind mit der Frage nach den Gestaltungsbedingungen bzw. Ursachen<br />

auch ganz praktische Implikationen möglich – nicht nur hinsichtlich der Gestaltung der<br />

zivil-militärischen Beziehungen, sondern auch bezüglich der Handlungsmöglichkeiten bei der<br />

Vergangenheitsaufarbeitung: „Understanding what works best for a conflict is relatively pointless<br />

without first understanding what could work.“ (Zhu 2009: 212)<br />

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41


Persönliche Stellungnahme der Autorin<br />

Die hier abgedruckte Hausarbeit ist im Rahmen eines Seminars zum Thema „Peacebuilding“<br />

entstanden. Innerhalb dieser Veranstaltung hatte ich mich bereits mit dem<br />

Themenbereich des „Transitional Justice“ auseinandergesetzt und wollte mich dahingehend<br />

auch weiter vertiefen. Letztendlich lag die Entscheidung für das vorliegende<br />

Thema darin, dass Wahrheitskommissionen aufgrund ihrer „Mittelstellung“ einen sehr<br />

interessanten TJ-Mechanismus darstellen. Ich fand die Idee spannend, dass die „Wahrheit“<br />

letztendlich eine konstruierte ist und dabei von zahlreichen Interessen beeinflusst<br />

wird.<br />

Durch die Analyse der Mandate der Wahrheitskommissionen, die gleichzeitig deren<br />

Basis darstellen, bestand zudem die Möglichkeit, auf feststehende Quellen zurückzugreifen.<br />

Die Durchführung einer qualitativen Fallanalyse von zwei Beispielen war aufgrund<br />

des eher explorativen Charakters und begrenzten Platzes als auch hinsichtlich<br />

einer detaillierteren Einsicht eine geeignete Methode die Fragestellung zu untersuchen,<br />

auch wenn dadurch der Aussagewert eingegrenzt blieb. Ungeachtet dessen, fand<br />

ich es persönlich sehr interessant, dass das Militär doch eine wichtige Schlüsselrolle<br />

bei der Aufarbeitungsarbeit bzw. Errichtung von Wahrheitskommissionen zu spielen<br />

scheint.<br />

Als wichtigste Erkenntnis aus der Untersuchung ziehe ich allerdings, dass letztlich die<br />

Prozesse der Einflussnahme äußerst vielschichtig und nur schwer zu erfassen sind, da<br />

sowohl die Bedingungen variieren, als auch die Akteure oftmals nicht als Einheit betrachtet<br />

werden können.<br />

42


Die Frage nach Anerkennung Somalilands. Zwischen Legalität, Legitimität<br />

und Opportunismus<br />

Simon Niehus<br />

Einleitung<br />

Sezessionsbestrebungen, über die in den Nachrichten berichtet wird, werden in der deutschen<br />

Bevölkerung zumeist negativ gesehen. Dazu trägt die Art, wie die Massenmedien über Sezessionsversuche<br />

berichten, einen guten Teil bei, wie sich am Beispiel der Unabhängigkeitsabstimmung<br />

1995 in Quebec gut nachzeichnen lässt (Bories-Sawala 2007). Aber sicherlich hat<br />

auch die deutsche Geschichte – eine Geschichte voller Kleinstaaterei; mit vielen großen Gebieten,<br />

die zuerst gewonnen und später wieder verloren wurden; und die schließlich die Wiedervereinigung<br />

eines geteilten Landes umfasst –, dazu beigetragen, dass Sezessionen von der<br />

Mehrheit der deutschen Bevölkerung als etwas grundsätzlich Schlechtes angesehen werden.<br />

Diese Sichtweise ist, auf das eigene Land bezogen, auch nicht falsch; im Gegenteil: Sie<br />

hilft jedenfalls eher, die Bundesrepublik zusammenzuhalten, als es etwa eine große Unterstützung<br />

für bayerische Unabhängigkeitsforderungen tun würde. Bei der Beurteilung von anderen<br />

Ländern allerdings darf man nicht einfach denselben simplen Maßstab wie an das Land, in dem<br />

man aufgewachsen ist, anlegen. Will man stattdessen einigermaßen fair beurteilen, was von<br />

Abspaltungsversuchen in anderen Ländern zu halten ist, bieten sich dafür zwei grundlegende<br />

Fragen an (analog zu Fixdal/Smith 1998, S. 289-290):<br />

Erstens die Frage nach der Legalität: Können völkerrechtlich relevante Gründe für eine<br />

Sezession geltend gemacht werden oder würde eine Sezession das Völkerrecht gravierend verletzen,<br />

so wie eine Annexion es tut (siehe etwa Ginsburg 2014)?<br />

Zweitens die Frage nach der Legitimität: Lässt sich aus historischen, ethischen oder praktischen<br />

Gründen eine Sezession rechtfertigen – selbst, wenn sie ggf. rechtlich nicht erlaubt ist?<br />

Die vorliegende Arbeit wendet diese beiden Fragen auf Somaliland an, ein Gebiet am Horn<br />

von Afrika, das in Deutschland und anderswo im Allgemeinen kaum Beachtung findet. Es kann<br />

deshalb zu Recht als ein „tote[r] Winkel der Welt“ (Böhm 2013) bezeichnet werden, der jedoch<br />

für die Beschäftigung mit rechtlichen, historischen, ethischen und praktischen Begründungsmustern<br />

für Sezessionen ein gutes Fallbeispiel ist.<br />

43


Geschichtlicher Überblick über Somaliland<br />

In diesem Abschnitt soll zunächst ein kurzer historischer Abriss über Somaliland gegeben werden,<br />

der zum Verständnis der weiteren Abschnitte notwendig ist. 1<br />

Für das Verständnis des Konflikts um Somaliland ist es sinnvoll, mit dem Zeitpunkt zu<br />

beginnen, als das zuvor überwiegend von Nomaden besiedelte Somaliland britische Kolonie<br />

wurde. Dies geschah im Jahr 1884. Anschließend bestand Britisch-Somaliland bis zum Jahr<br />

1960 fort, unterbrochen nur durch eine kurze Phase in den 1940ern, in der das Gebiet von Italien<br />

besetzt war. Als in den 1960er Jahren dann viele afrikanische Staaten ihre Unabhängigkeit von<br />

den Kolonialmächten erhielten, sollte dies auch für Somaliland und das südlich gelegene ehemalige<br />

Italienisch-Somalia geschehen.<br />

Diese beiden Einheiten planten sich zu einem gemeinsamen Staat zusammenzuschließen.<br />

Allerdings kam es dabei – auch bedingt durch Zeitdruck (Alexander/Kühn 2007: 377; Pegg<br />

1998: 87) – zu Spannungen: Nachdem Großbritannien Somaliland am 26.06.1960 in die Unabhängigkeit<br />

entlassen hatte, setzte die dortige parlamentarische Versammlung einen Vereinigungsvertrag<br />

auf (das sog. Union of Somaliland and Somalia Law), verabschiedete diesen am<br />

27.06.1960 mehrheitlich und sandte ihn in den südlichen Teil des geplanten neuen Staates. Dort<br />

entschied man sich allerdings, anstatt den Beschluss des Nordens mitzutragen, einen eigenen<br />

Vertrag zu beschließen (den sog. Atto di Unione), was dann am 30.06.1960 auch getan wurde<br />

(Schoiswohl 2004: 113). So entstand am 01.07.1960 Somalia, so wie es „noch [heute] auf der<br />

Karte eingezeichnet“ ist (Petretto 2010: 162). Allerdings fühlte sich die Bevölkerung des Nordens,<br />

also Somalilands, darin nicht angemessen repräsentiert. Denn als Hauptstadt des neuen<br />

Staates Somalia wurde Mogadischu festlegt und die meisten öffentlichen Ämter, inkl. des Präsidenten<br />

und des Premierministers, wurden an Personen aus dem Süden vergeben (Pegg 1998:<br />

88).<br />

Vor diesem Hintergrund müssen die sich anschließenden Ereignisse des Jahres 1961 betrachtet<br />

werden. Nachdem das neu gebildete gesamtsomalische Parlament im Januar 1961 den<br />

alten Vertragsentwurf des Nordens offiziell verworfen hatte, fand im Juni 1961 in ganz Somalia<br />

(Alexander/Kühn 2007: 377) ein Referendum über einen neuen Verfassungsentwurf statt; in<br />

diesem war Somaliland kein gleichberechtigter Partner mehr, sondern eine autonome Provinz<br />

(Ker-Lindsay 2012: 58). Das Referendum ergab in Somaliland eine Mehrheit gegen den Verfassungsentwurf<br />

und das, obwohl viele dort die Abstimmung boykottiert hatten (Pegg 1998:<br />

87-88). Deutliche Auswirkungen auf die Situation Somalilands hatte das Ergebnis allerdings<br />

zunächst nicht, weshalb kurz darauf in Somaliland ein Putsch von Armeeoffizieren stattfand.<br />

Das Vorhaben, auf diese Weise wieder ein eigenständiges Land zu sein, scheiterte jedoch.<br />

Im Jahr 1969 kam durch einen Putsch Siad Barre in Somalia an die Macht, wobei der Ministerpräsident,<br />

ein Somaliländer, abgesetzt wurde (Debiel 2003: 132-133; Matthies 2007: 145-<br />

146). Barre errichtete eine brutale Diktatur, die sich im Wesentlichen auf einzelne Clans stützte,<br />

während andere hingegen diskriminiert wurden (Saxer 2010: 599). Besonders Somaliland hatte<br />

1<br />

Bei der Gliederung der vorliegenden Arbeit sowie teilweise bei der Nennung und Reihenfolge von<br />

Argumenten lehne ich mich an Gorka (2011) an. Zum historischen Abriss siehe ebenfalls dort, bes.<br />

S. 87-90, sowie z. B. Alexander/Kühn 2007; Pegg 1998: 85-91; Matthies 2007: 140-147; Debiel 2003:<br />

130-133; Straßner 2011: 458-463; Höhne 2007; Petretto 2010; Stahnke 2011.<br />

44


unter Barre zu leiden, da der Clan der Isaaq, der dort überwiegend lebt, nicht zu seiner Machtelite<br />

gehörte. Barre versuchte im Laufe seiner Diktatur mehrfach, den Osten Äthiopiens – die<br />

sog. Ogaden-Gebiete, in denen viele ethnische Somalier leben – an Somalia anzugliedern. Deshalb<br />

begann Barre 1977 den zweiten Ogaden-Krieg, in dessen Verlauf Somalia weltpolitisch<br />

die Seiten wechselte. Hatte zuvor die Sowjetunion Somalia wirtschaftlich und militärisch unterstützt,<br />

so begannen nun die USA (und der Westen allgemein) Somalia zu unterstützen, während<br />

Äthiopien nun in den sowjetischen Einflussbereich kam. Wegen des Ogaden-Kriegs kamen<br />

viele somalische Flüchtlinge aus Äthiopien nach Somalia; diese wurden in großer Zahl<br />

vom Barre-Regime mit Waffen ausgestattet und in einem gezielten Umsiedlungsprogramm in<br />

den Norden Somalias, also nach Somaliland, gebracht, was dort zu Gewalt führte und die ohnehin<br />

vorhandenen sozioökonomischen Schwierigkeiten aufgrund der jahrelangen Diskriminierung<br />

verschärfte (Pegg 1998: 88). Im Jahr 1988 schließlich verlor Somalia den Ogaden-<br />

Krieg und Barres Regime büßte noch stärker als zuvor an Akzeptanz ein (Matthies 2007: 145).<br />

Einige Widerstandsgruppen, die sich schon Anfang der 1980er Jahre für den Kampf gegen<br />

Barre vorbereitet hatten, starteten im selben Jahr 1988 militärische Aktionen gegen das Regime,<br />

wobei sie in Somaliland begannen (Pegg 1998: 88-89; Sturman 2011: 501-502; Njoku 2010:<br />

350). Darauf reagierte der Diktator unter anderem mit einem Flächenbombardement der lokalen<br />

Hauptstadt Hargeisa, bei dem ca. 50.000 bis 60.000 Menschen ums Leben kamen und aufgrund<br />

dessen mehrere 100.000 Menschen flohen (siehe auch die Dokumentation von Reeve 2005 sowie<br />

Böhm 2013 und Hedemann 2010). Wegen dieses Massakers und weiterer Verbrechen (Folterungen,<br />

Vergewaltigungen usw.) sowie des darüber hinaus andauernden Bürgerkriegs wurden<br />

deutlich Unabhängigkeitsforderungen in Somaliland laut (Pegg 1998: 89-90; Ker-Lindsay<br />

2012: 58).<br />

Nachdem Siad Barre 1991, auch vor dem Hintergrund des weltpolitischen Wandels, gestürzt<br />

worden war, versuchten mehrere Widerstandsbewegungen gemeinsam, eine neue Regierung<br />

einzusetzen (Pegg 1998: 89-91). Doch einige Widerstandskämpfer beanspruchten bald im<br />

Alleingang die Macht für das ganze Gebiet Somalias. Weil der Norden Somalias sich dadurch<br />

übervorteilt fühlte, erklärte er sich am 18.05.1991 unter dem Namen Somaliland für unabhängig.<br />

Zwar ist Somaliland von keinem Staat der Welt völkerrechtlich anerkannt; anders als im<br />

Rest Somalias entwickelten sich aber verhältnismäßig gut funktionierende staatliche Strukturen<br />

(Matthies 2007: 146-147; Lewis 2008: 93-100). In den meisten Gegenden des restlichen Somalias<br />

kam es im Gegensatz dazu<br />

„zu vielfältigen Kleinkriegen rivalisierender bewaffneter Gruppen untereinander. Zudem<br />

bildeten sich ein ‚Kriegsherrentum‘ und eine ‚Bürgerkriegs-Ökonomie‘ aus, die<br />

durch Kontrolle über die Infrastruktur […], durch Raub, Erpressung, Plünderung, Piraterie,<br />

den Handel mit Bananen, der Khat-Droge, mit Holzkohle sowie vor allem mit<br />

Waffen gekennzeichnet war und ist. Die Mehrheit der Bevölkerung überlebte in diesen<br />

[…] Zeiten durch angepasste Formen der nomadischen Viehwirtschaft sowie vor allem<br />

durch Zuwendungen aus der somalischen Diaspora“ (Matthies 2007: 146).<br />

Nachdem mehrere humanitäre Interventionen durch die USA und die Vereinten Nationen<br />

ab dem Jahr 1992 gescheitert waren und die Anarchie in Somalia nicht hatte beseitigt werden<br />

45


können, erklärten sich seit Ende der 1990er Jahre weitere Regionen für autonom oder unabhängig,<br />

darunter Puntland im Nordosten und Jubaland an der Grenze zu Kenia im Süden (Stahnke<br />

2011). Zwischen Puntland und Somaliland besteht bis heute ein Grenzkonflikt (siehe dazu und<br />

zu Puntland generell Lewis 2008: 99-108; Gorka 2011: 105; Stahnke 2011; Mohamed 2014;<br />

Balthasar/Grzybowski 2012: 148-154; Auswärtiges Amt 2014a, 2013b).<br />

Der völkerrechtliche Zustand Somalilands<br />

Wie ist vor diesem geschichtlichen Hintergrund nun die völkerrechtliche Situation von Somaliland<br />

zu bewerten? Um diese Frage nach der Legalität zu beantworten, ist es notwendig, zuvor<br />

bestimmte grundsätzlich mögliche völkerrechtliche Kategorien von Abspaltungen zu unterscheiden<br />

(für die folgenden Absätze umfassend: Ott 2008: 39-54; Pavković/Radan 2011: 1-5;<br />

Schaller 2009):<br />

Zession: Ein Staat tritt einen Teil seines Staatsgebiets an einen anderen (existierenden)<br />

Staat ab, zum Beispiel durch einen Vertrag. Eine Zession ist also die aus Sicht der ehemaligen<br />

Zentralregierung freiwillige Abspaltung eines Gebiets; ob diese mit oder ohne Einverständnis<br />

der in dem betreffenden Gebiet lebenden Menschen geschieht, ist für die Zuordnung zur Kategorie<br />

Zession unerheblich.<br />

Dismembration: Der Begriff Dismembration bezeichnet den Sachverhalt, dass ein Staat<br />

zerfällt, weil oder woraufhin sich auf seinem Territorium neue Staaten bilden. Dies geschieht<br />

üblicherweise nicht plötzlich, sondern durch einen längeren Prozess, und kann mit oder ohne<br />

Zustimmung der ehemaligen Zentralregierung geschehen. Auch wenn es vorkommen kann,<br />

dass ein Teilgebiet des ehemaligen Staates dessen Rechtsnachfolge antritt, kann man mitunter<br />

von einer Dismembration sprechen, nämlich dann, wenn das alte Staatsgefüge auch auf dem<br />

Gebiet des Nachfolgers offensichtlich nicht mehr existiert – wenn sich also der nachfolgende<br />

Staat nicht sinnvoll als „geschrumpfte“ Variante des alten Gesamtstaates benennen lässt. 2<br />

Sezession: Eine Sezession kann man laut Donald Horowitz als „an attempt by an ethnic<br />

group claiming a homeland to withdraw with its territory from the authority of a larger state of<br />

which it is a part“ (Horowitz 1992: 119) definieren. Diese Definition ist grundsätzlich eine gute<br />

Annäherung an das Phänomen Sezession, hat jedoch zwei wesentliche Schwächen: Zum einen<br />

legt sie nahe, dass Sezessionen immer aus ethnischen Gründen heraus stattfinden. Dem ist jedoch<br />

entgegenzuhalten, dass Abspaltungsbestrebungen auch aus anderen Motiven heraus entstehen<br />

können, etwa aus wirtschaftlichen (Bookman 1992). Zum anderen ist Horowitz’ Definition<br />

an dem Punkt zu weit gefasst, an dem es um das Einverständnis der ehemaligen Zentralregierung<br />

geht: Denn Horowitz erfasst nach oben genanntem Wortlaut auch solche Fälle als Sezessionen,<br />

in denen eine Abspaltung mit sofortiger oder bald einkehrender Zustimmung der<br />

Zentralregierung geschieht. Für solche Situationen eignet sich zwar der allgemeinere Begriff<br />

Separation (Ott 2008: 47-49); in der vorliegenden Arbeit sollen aber, abweichend von Horowitz<br />

2<br />

Beispiel: Es ist heute faktisch nicht sinnvoll, den Begriff ‚Sowjetunion‘ zu verwenden, wenn man die<br />

Russische Föderation meint (Ott 2008: 46-47). Gegenbeispiel: Sollte sich Katalonien von Spanien<br />

abspalten (Schulze 2013), könnte man anschließend immer noch von ‚Spanien‘ sprechen, wenn man<br />

den verbliebenen Teil meint – solange sich nicht weitere Landesteile abspalten, die den Fortbestand<br />

Spaniens insgesamt in Frage stellen.<br />

46


unter Sezessionen nur Abspaltungsversuche verstanden werden, die überhaupt nicht oder zumindest<br />

über lange Zeit nicht von der Zentralregierung des Gesamtstaates akzeptiert werden<br />

(ebd.: 48; zu unterschiedlichen Definitionen auch Pavković/Radan 2011: 3-4).<br />

Unechte Sezession: Als Sonderfall von Sezessionen lassen sich „‚unechte Sezession[en]‘“<br />

(Oeter 1992: 750) kategorisieren. Damit sind „vor allem Abspaltungsvorgänge, die das Ziel<br />

verfolgen, einen völkerrechtswidrigen Territorialstatus rückgängig zu machen“ (Ott 2008: 49-<br />

51) gemeint. Es geht in diesen Fällen also darum, einen alten staatlichen Zustand, z. B. vor einer<br />

Besetzung, wiederzuerlangen; zu beachten ist, dass nicht jedes Gebiet, das in seiner Geschichte<br />

einmal in den Verfügungsbereich eines anderen Staates gekommen ist, das Recht hat, sich einfach<br />

wieder abzuspalten. Vielmehr muss berücksichtigt werden, ob der Gesamtstaat das betreffende<br />

Gebiet nicht deshalb unter seiner Kontrolle behalten darf, weil die Realität historische<br />

Ansprüche überholt hat und die praktische staatliche Machtausübung wichtiger zu nehmen ist.<br />

Anders ausgedrückt:<br />

„Im Falle der sogenannten unechten Sezessionen ist nicht a priori die Gültigkeit des<br />

gesamtstaatlichen Gebietstitels zu verneinen, sondern die Qualität bei der Abwägung<br />

zwischen Selbstbestimmungsrecht und Souveränitätsrechten im jeweiligen Einzelfall<br />

zu berücksichtigen“ (Ott 2008: 54).<br />

Irredentismus: Ein weiterer Sonderfall von Sezession ist schließlich Irredentismus (Horowitz<br />

1992; Ambrosio 2010: 1-14; Ott 2008: 52-53). Mit diesem Begriff sind Versuche gemeint,<br />

ein Gebiet von seinem zugehörigen Mutterland abzuspalten und es anschließend an einen anderen,<br />

bereits bestehenden Staat anzugliedern. Ebenfalls zur Kategorie des Irredentismus zählen<br />

Pläne, durch die Abspaltung von Gebieten, die zu mehreren Staaten gehören, einen neuen<br />

Staat zu bilden (wie etwa der Wunsch der Kurden nach einem eigenen Staat). Bei irredentistischen<br />

Ideen muss aber berücksichtigt werden, dass lokale und regionale Eliten persönliche egoistische<br />

Machtinteressen haben; sie sind zumeist nicht geneigt, nach einer erfolgreichen Abspaltung<br />

auch den zweiten Schritt, die Angliederung bzw. das Zusammenführen, zu gehen (dies<br />

würde nämlich evtl. ihren Einfluss schmälern). Deshalb gibt es zwar in der Welt viele tatsächlich<br />

stattgefundene und stattfindende Sezessionen, aber kaum praktisch umgesetzten Irredentismus.<br />

Nachdem wir nun verschiedene Möglichkeiten betrachtet haben, wie Staaten entstehen<br />

können, müssen wir uns der Anerkennung von Staaten zuwenden. Mit dem Begriff der Anerkennung<br />

können unterschiedliche Dinge gemeint sein. Honneth unterscheidet etwa zweierlei:<br />

„Erkennt ein Staat ein politisches Gemeinwesen im völkerrechtlichen Sinn an, so bedeutet<br />

das nichts anderes, als daß er die Bedingungen von Staatlichkeit in diesem Fall für gegeben<br />

hält; es handelt sich daher nicht um die Bekundung einer normativen Absicht, sondern nur um<br />

die schlichte Zurkenntnisnahme eines Faktums […] Erst auf [einer] zweiten Stufe können wir<br />

[…] tatsächlich von einem normativen Akt der zwischenstaatlichen Anerkennung sprechen;<br />

denn hier [auf der zweiten Stufe] haben wir es nicht mehr mit der zwingenden Folge eines<br />

staatlich zur Kenntnis genommenen Faktums zu tun, sondern mit der freien Entscheidung einer<br />

Staatsführung, mit einem anderen Staat eine positive, befürwortende Beziehung einzugehen“<br />

(Honneth 2010: 187; Hervorhebungen durch Verfasser).<br />

47


Bedenkt man allerdings die besondere Situation, in der Gebiete stehen, die sich von einem<br />

Staat abspalten wollen, ergibt sich eine hochpolitische Vermischung zwischen der „eigentlich“<br />

recht simplen völkerrechtlichen Anerkennung und einer normativen Aussage (Schaller 2009:<br />

6, 11-13, 18-23; Pavković/Radan 2011: 4-5; Tull 2011: 2-4). Denn indem ein anderer Staat es<br />

einem sezessionistischen Gebiet durch Nicht-Anerkennung verweigert, von einer eigenständigen<br />

staatlichen Ordnung auszugehen, entzieht er diesem Gebiet „eigentlich“ die Existenzberechtigung<br />

(Ott 2008: 42-43). Trotzdem ist es möglich, dass Staaten zu sezessionistischen Gebieten<br />

umfangreiche Beziehungen aufrechterhalten, auch wenn sie diese – aus welchen Gründen<br />

auch immer – nicht anerkennen. Sind die Kriterien für Staatlichkeit in einem Gebiet erfüllt,<br />

d. h. wird insbesondere ein staatliches Gewaltmonopol einigermaßen effektiv durchgesetzt, und<br />

ist ein solches Gebiet dennoch nicht von allen UN-Mitgliedsstaaten anerkannt, dann spricht<br />

man von einem De-facto-Staat (Pegg 2011: 2; Bartmann 2004; Bahcheli/Bartmann/Srebrnik<br />

2004).<br />

Nun sind die wesentlichen Begriffe eingeführt worden und wir wenden uns dem Fallbeispiel<br />

Somaliland zu. Was können wir über die Art der Abspaltung Somalilands sagen? Nach<br />

dem Ausschlussprinzip ergibt sich Folgendes: Eine Zession hat im Fall Somalilands nicht stattgefunden,<br />

denn das Gebiet wurde nicht von der Zentralregierung an einen anderen Staat abgetreten.<br />

Von einer freiwilligen Separation aus Sicht des Südens kann ebenfalls nicht gesprochen<br />

werden (Gorka 2011: 97; Klein 2012: 2); die von der internationalen Gemeinschaft eingesetzte<br />

somalische Übergangsregierung in Mogadischu beansprucht weiterhin, ganz Somalia zu vertreten,<br />

auch wenn sie nur in einer kleinen Region um die Hauptstadt herum die Kontrolle hat<br />

(Ker-Lindsay 2012: 59; Petretto 2010; Auswärtiges Amt 2013b; Pegg 2011: 9-12). Irredentistische<br />

Bestrebungen spielten zwar bei der Vereinigung 1960 eine wichtige Rolle (Ker-Lindsay<br />

2012: 58; Matthies 2007: 144-145) und auch unter dem Diktator Siad Barre, der wegen Irredentismus<br />

den Ogaden-Krieg gegen Äthiopien führte (Debiel 2003: 131; Matthies 2007: 145).<br />

Ihr Vorhandensein ist allerdings für die Bevölkerung von Somaliland aus heutiger Sicht eher<br />

zu verneinen (Hedemann 2010), wie man etwa an der unmissverständlichen Antwort erkennen<br />

kann, die ein Überlebender des Bombardements von Hargeisa einer Reporterin auf die Frage<br />

gab, ob man erneut eine Vereinigung mit Somalia eingehen würde (Al Jazeera English 2013a),<br />

oder daran, dass Somaliland Äthiopien bei dessen Kampf gegen ogadische Befreiungsbewegungen<br />

auf äthiopischem Territorium hilft (Auswärtiges Amt 2014b).<br />

Übrig bleiben also nach dem bisher Gesagten besonders die Begriffe Dismembration, Sezession<br />

und unechte Sezession sowie der Begriff des De-facto-Staates, um die völkerrechtliche<br />

Situation Somalilands näher zu bewerten. Diese Bewertung findet nun im Folgenden statt. Es<br />

geht dabei vor allem um die grundlegenden Argumente; eine erschöpfende Darstellung kann in<br />

der vorliegenden Arbeit nicht erfolgen (im Detail siehe daher etwa Roethke 2011; Kreuter 2010;<br />

Gorka 2011).<br />

Völkerrechtliche Gründe gegen die Anerkennung Somalilands<br />

Was spricht gegen die völkerrechtliche Anerkennung Somalilands? Hierzu könnte man sagen,<br />

dass die Bevölkerung von Somaliland im Jahr 1960 von ihrem Selbstbestimmungsrecht Gebrauch<br />

gemacht hat, als sie die Vereinigung mit dem ehemaligen Italienisch-Somalia einging<br />

48


(Gorka 2011: 92-93 und ebd.: 98-101). Das Selbstbestimmungsrecht der Völker spielte für<br />

frühere Kolonien eine wesentliche Rolle auf dem Weg zur Unabhängigkeit (Hillgruber 2011).<br />

Weil Somaliland 1960 mit Somalia zusammenging, könnte man dies als die Ausübung des<br />

Selbstbestimmungsrechts ansehen, die anschließend unwiderruflich wäre. Denn, so die Argumentation,<br />

das Selbstbestimmungsrecht könnten ehemalige Kolonien nur einmal ausüben, weil<br />

sonst für alle Grenzen auf der Welt kein dauerhafter Bestand garantiert wäre. Sturman (Sturman<br />

2011: 502) spricht von „African states’ reluctance to allow changes to existing boundaries“<br />

(auch Englebert/Hummel 2005: 412).<br />

In diesem Zusammenhang ist außerdem zu erwähnen, dass die Verfassung von<br />

Somalia kein Recht auf Sezession vorsieht, sondern Somaliland als Teil Somalias betrachtet<br />

(Njoku 2010: 350; Gorka 2011: 97-101; Petretto 2010: 162-164). Aus der Verfassung heraus<br />

hätte sich sonst nämlich eine Möglichkeit für Somaliland ergeben können, Somalia zu verlassen.<br />

So, wie die Verfassung aktuell vorliegt, würde die Anerkennung Somalilands durch die<br />

internationale Staatengemeinschaft oder einen Teil davon aber gegen das Prinzip der Nicht-<br />

Einmischung in die inneren Angelegenheiten von Staaten und der Unverletzlichkeit von Grenzen<br />

verstoßen. Die territoriale Integrität Somalias lässt also eine Sezession Somalilands und vor<br />

allem deren Anerkennung nicht zu (Saxer 2010: 599-600; Tull 2011: 2). Somalia ist völkerrechtlich,<br />

so kann man argumentieren, immer noch ein souveräner Staat in den Vereinten Nationen:<br />

„[A]uch wenn die somalische Übergangsregierung mit ihren Bemühungen gescheitert<br />

ist, dem Land Frieden und Stabilität zu bringen, so haben die Grenzen des Landes<br />

doch de jure weiterhin Bestand“ (Gorka 2011: 97, Hervorhebungen i. O.).<br />

Diese Argumentation muss aber nicht zwangsläufig von jedem geteilt werden.<br />

Nun sehen wir uns an, was für die Anerkennung Somalilands spricht.<br />

Völkerrechtliche Gründe für die Anerkennung Somalilands 3<br />

Zum einen könnte man sagen, dass Somaliland ein ausreichendes Maß an Staatlichkeit besitzt<br />

(Ott 2008: 42-43; Tull 2011: 3; Butty 2011; Gorka 2011: 85-86 sowie ebd.: 94-96 und 107):<br />

Somaliland hat ein klar umrissenes Territorium mit zuordenbarer Bevölkerung; als Regierungssystem<br />

liegt eine Demokratie mit einem Parlament aus zwei Kammern vor (Sturman 2011: 502-<br />

503; Lewis 2008: 93-100). Somaliland ist ein De-facto-Staat (Schaller 2009: 9 und 23); es gelingt<br />

der Regierung und den Sicherheitskräften trotz einiger Rückschläge (siehe z. B. Hedemann<br />

2010 und Human Rights Watch 2009) im Allgemeinen, die Sicherheit der Bevölkerung<br />

zu gewährleisten (Lewis 2008: 93-100; Pegg 1998: 91-97; Auswärtiges Amt 2014a; siehe auch<br />

Reeve 2005). Im Falle einer Anerkennung könnten die somaliländischen Offiziellen von jetzt<br />

auf gleich Pässe an die Bevölkerung ausgeben, denn sie liegen schon bereit. 4<br />

3<br />

Eine Zusammenfassung der Argumente in diesem Kapitel findet sich (aus klar wertender Perspektive)<br />

bei Somalilandpress 2011.<br />

4<br />

Dies berichtete der ARD-Korrespondent Peter Schreiber in seinem Videoblog (ca. 2011). Leider ist<br />

das betreffende Video online nicht mehr verfügbar (Mitteilung Peter Schreibers per E-Mail vom<br />

08.11.2013).<br />

49


Zum anderen ist ein Argument zu nennen, das die Beteiligten aus Somaliland im Zuge der<br />

Unabhängigkeitserklärung häufig benutzten, nämlich dass es sich in ihrem Fall nicht um eine<br />

Sezession, sondern um eine einfache Beendigung der ausbeuterischen Staatenunion mit dem<br />

Süden handele, wodurch Somaliland wieder in den Grenzen vom 26.06.1960 bis 30.06.1960<br />

bestehe (Geldenhuys 2011: 289; Gorka 2011: 91-92 und 99; Pegg 1998: 87-91). Wenngleich<br />

man das zum Selbstbestimmungsrecht Gesagte bedenken muss (ist eine Wiederholung der<br />

Selbstbestimmungsentscheidung möglich?), so kann gefragt werden, ob 1960 eine Staatenunion<br />

zwischen dem ehemaligen Britisch-Somaliland und Italienisch-Somaliland überhaupt wirksam<br />

zustande gekommen war oder ob nicht vielmehr die ehemaligen Grenzen Britisch-Somalilands<br />

– als Kolonialgrenzen, auch im Sinne der Charta der Afrikanischen Union (Petretto 2010: 163;<br />

Schaller 2009: 27-28; Klein 2012: 2; Hillgruber 2011) – weiterhin gültig waren bzw. sind. Dass<br />

der Süden im Jahr 1960 den Vertragsentwurf des Nordens nicht akzeptiert, sondern stattdessen<br />

einen eigenen Vertragsentwurf unterschrieben hatte und dass die neue Verfassung im 1961er<br />

Referendum in Somaliland abgelehnt worden war, spricht jedenfalls sehr dafür, von einer nicht<br />

stattgefundenen Vereinigung auszugehen (Pegg 1998: 87-88; Roethke 2011: 43-45; Gorka<br />

2011: 91). Wenngleich der Begriff der unechten Sezession doch etwas zu hoch gegriffen wäre,<br />

weil keine militärische Annexion vorgelegen hatte, so kann das Argument des unwiderruflich<br />

ausgeübten Selbstbestimmungsrechts bei der Vereinigung doch stark hinterfragt werden. Njoku<br />

(2010: 350) schreibt:<br />

„Somalia has traveled the same route to secession as Eritrea/Ethiopia in the sense<br />

that its merger with British-ruled Somaliland in the context of de-colonization failed<br />

to create the unity envisaged by the country’s nationalists.“ (Oeter 1992: 753-760;<br />

sowie Sturman 2011: 501: „Somaliland is an atypical case of secession“).<br />

Aber selbst wenn man dieser Argumentation nicht folgt, so spricht für die Anerkennung<br />

von Somaliland, dass Somalia ein Fall von Dismembration, ja sogar ein „‚failed state‘“ ist<br />

(Matthies 2007: 140; Alexander/Kühn 2007: 381; siehe auch Gorka 2011: 87 und 107; sowie<br />

Schreiber 2013), und dass die somalische Regierung keine Autorität mehr über Somaliland ausübt<br />

(Straßner 2011: 463). Da der ehemalige Zentralstaat in der Realität nicht mehr existiert, so<br />

könnte man argumentieren, muss irgendeine andere Stelle Somalias Sitz bei den Vereinten Nationen<br />

einnehmen. Wenn es der internationalen Gemeinschaft nicht gelingt, Somalia insgesamt<br />

wiederaufzubauen und eine einigermaßen effektive Staatsgewalt zu etablieren, könnte mit der<br />

Anerkennung Somalilands nicht nur der lokalen und regionalen, sondern auch der internationalen<br />

Ordnung am besten gedient sein (Richter 2011: 280-281; Owtram 2011: 142; siehe aber<br />

Saxer 2010: 599-600). Laut Buchheit (1978: 238-239) stellen Sezessionsprozesse jedenfalls<br />

immer einen Abwägungsprozess zwischen verschiedenen Interessen dar – und die Auswirkungen<br />

einer Sezession auf die internationale Ordnung sind zu prüfen (Gorka 2011: 87).<br />

Womit man eine Sezession Somalilands außerdem erlauben könnte, ist das Stichwort<br />

„remedial secession“ (Buchheit 1978: 220-223 und ebd.: 238-239; Roethke 2011: 44-46). Darunter<br />

versteht man, dass eine Sezession erlaubt sein kann, wenn in großem Ausmaß Menschenrechtsverletzungen<br />

stattgefunden haben bzw. stattfinden und nur durch eine Sezession ein „normales“<br />

Zusammenleben zwischen dem sezessionistischen Gebiet und dem ehemaligen Zentralstaat<br />

möglich ist. Eine Sezession würde in einem solchen Fall der „letzte Ausweg“ (Schaller<br />

2009: 16; ebd.: 10-17) sein, um einen Konflikt abzumildern bzw. zu lösen. Es spricht viel dafür,<br />

50


ei Somaliland das Konzept der „remedial secession“ anzuwenden. Selbst wenn man die jahrzehntelange<br />

Diskriminierung Somalilands nicht als ausreichend ansehen sollte, um remedial<br />

secession gelten zu lassen, so sind eindeutig die Aktionen Siad Barres, etwa die Flächenbombardements<br />

Ende der 1980er Jahre, schwerste Menschenrechtsverletzungen (Gorka 2011: 92-<br />

94). Sie lassen sich etwa mit dem Vorgehen von Diktator Gaddafi in Libyen vergleichen, der<br />

ebenfalls mit Kampfflugzeugen gegen die Bevölkerung des eigenen Landes vorging; ein solcher<br />

Vergleich wird auch von den Menschen in Somaliland selbst gezogen (hierzu und zum<br />

Folgenden Al Jazeera 2013a; Reeve 2005). Im Fall Libyens begann die internationale Gemeinschaft<br />

unter der Idee der Schutzverantwortung eine humanitäre Intervention; 1988 war demgegenüber<br />

– vor dem weltpolitischen Hintergrund und auch wegen des noch nicht so weit fortgeschrittenen<br />

Normenwandels – eine Intervention in Somaliland nicht erfolgt. Wäre die Unabhängigkeitsausrufung<br />

Somalilands erst vor kurzem erfolgt, dann ließe sich überzeugend behaupten,<br />

dass der Anspruch auf „remedial secession“ zu spät angemeldet worden und sozusagen<br />

verjährt wäre (Gorka 2011: 94; Schaller 2009: 16). Da sich Somaliland aber bereits 1991 für<br />

unabhängig erklärte – und zuvor sogar eine Wiederannäherung versucht hatte – ist das Argument<br />

der „Verjährung“ im Fall Somalilands nicht stichhaltig. Außerdem muss berücksichtigt<br />

werden, dass Gräueltaten wie die unter Siad Barre stattgefundenen nicht einfach vergessen werden;<br />

sie bleiben durch persönliche Überlieferung auch über Generationen hinweg im kollektiven<br />

Gedächtnis (Njoku 2010: 350; Englebert/Hummel 2005: 404). Es ist deshalb auch unwahrscheinlich,<br />

dass in Somaliland die Forderungen nach einem eigenen Staat, die inzwischen<br />

seit mehr als zwei Jahrzehnten bestehen, durch „geringere“ Autonomieangebote zurückgedrängt<br />

werden können – was vom Prinzip her bei Sezessionskonflikten möglich ist (Horowitz<br />

1992: 121-123).<br />

Insgesamt lässt sich für die rechtliche Bewertung der Anerkennung von Somaliland mit<br />

Scott Pegg sagen:<br />

„The combination of its separate colonial existence, its five days of sovereign independence<br />

and its respect for former colonial borders gives Somaliland a unique degree<br />

of legitimacy [bzw. eher legality!; d. Verf.] in terms of the contemporary interpretation<br />

of self-determination that no other secessionist entity can approach. Indeed, recognition<br />

of Somaliland as a sovereign state is perfectly consistent with the Constitutive Act<br />

of the African Union’s insistence on respect for the territorial integrity of borders as<br />

they stood at the moment of independence from colonial rule“ (Pegg 2011: 9-10; siehe<br />

auch ähnlich Ker-Lindsay 2012, S. 59).<br />

Legitimitätsfragen in Bezug auf Somaliland<br />

Nachdem nun die Frage nach der Legalität abgewogen wurde, muss darauf eingegangen werden,<br />

ob es über das Rechtliche hinaus noch weitere Argumente gibt, die für oder gegen eine<br />

Anerkennung Somalilands durch andere Staaten sprechen (zu diesem und zum nächsten Abschnitt<br />

siehe im Detail weiterführend Pegg 2011).<br />

51


Was eine Anerkennung Somalilands nicht legitim erscheinen lässt<br />

Gegen eine Anerkennung Somalilands spricht aus Legitimitätserwägungen, dass eine Anerkennung<br />

einen „Präzedenzfall“ (Gorka 2011: 99) schaffen könnte (Njoku 2010: 350), dem weitere<br />

Sezessionskonflikte in Afrika und anderswo folgen könnten bzw. woraufhin sich vorhandene<br />

Sezessionskonflikte verschärfen könnten. Ähnliche Gedanken gab es bereits in anderen Fällen,<br />

etwa im Fall der Anerkennung des Südsudans durch die internationale Gemeinschaft (Klein<br />

2012; Tull 2011; Somalilandpress 2011).<br />

Man könnte außerdem argumentieren, dass der internationalen Ordnung und der regionalen<br />

Stabilität am besten gedient ist, wenn Somalia als Gesamtstaat wiederaufgebaut wird; dies war<br />

auch lange Zeit die vorherrschende Denkweise der internationalen Gemeinschaft (Alexander/Kühn<br />

200: 380; Saxer 2010: 599-600). Was das Problemfeld der Piraterie vor der Küste<br />

Somalias angeht, sind inzwischen erste Erfolge zu verzeichnen (Nachtmagazin 2014; Petretto<br />

2010: 166-167).<br />

Ein weiteres Argument, das bei der Frage nach der Anerkennung Somalilands berücksichtigt<br />

werden muss, ist der Grenzkonflikt zwischen Somaliland und dem anliegenden Puntland.<br />

Dieser könnte im Falle einer Anerkennung Somalilands weiter eskalieren, denn dann wäre die<br />

gemeinsame Grenze eine international anerkannte Staatsgrenze anstatt der Grenze eines Defacto-Staates<br />

(Pegg 2011: 12-13; Lewis 2008: 99–108; Stahnke 2011; Mohamed 2014).<br />

Was eine Anerkennung Somalilands legitim erscheinen lässt<br />

Dem eben Dargestellten kann Folgendes entgegengehalten werden: Erstens kann für die Anerkennung<br />

Somalilands angeführt werden, dass Somalia trotz vieler internationaler Versuche, das<br />

Land zu stabilisieren, inkl. Blauhelm-Missionen (Matthies 2007: 146-148; Petretto 2010: 164-<br />

166), im Chaos versinkt. Damit verglichen, ist die Ordnung in Somaliland bemerkenswert (Ker-<br />

Lindsay 2012: 59; Gorka 2011: 86 und 95-96; Auswärtiges Amt 2013b) und es ist deshalb die<br />

Frage zu stellen, ob es für die Stabilität der gesamten Region am Horn von Afrika nicht die<br />

bessere Lösung wäre, Somaliland anzuerkennen, anstatt „krampfhaft“ zu versuchen, Somalia<br />

als Gesamtstaat zu erhalten (Richter 2011: 280-281; Tull 2011: 3-4; Williams 2013; Gorka<br />

2011: 86-87 und 101). In den Worten von Sturman: “[T]he argument for recognition of Somaliland<br />

is a rational one: this state works, whereas Somalia quite clearly does not“ (Sturman<br />

2001: 501).<br />

Im Fall der Anerkennung hätte Somaliland deutlich bessere Möglichkeiten, Hilfsgelder aus<br />

dem Ausland zu erhalten (Hedemann 2010; Böhm 2013; Pegg 2011: 8; Gorka 2011: 101-106).<br />

Zurzeit ist Somaliland nur mit Hilfe von Geldern von im Ausland lebenden Menschen überlebensfähig<br />

(Lewis 2008: 99; Höhne 2010; Höhne/Feyissa/Abdilde 2011; Al Jazeera 2013b; Pegg<br />

2011: 26-28). Nur wenige große Firmen investieren in Somaliland (Stahnke 2011) und bei einem<br />

Staatshaushalt von nur einem zwei- bis dreistelligen Millionenbetrag (siehe etwa Reeve<br />

2005; Pegg 2011: 28) liegt es auf der Hand, dass es der somaliländischen Regierung schwerfällt,<br />

52


ihre Bevölkerung mit dem Nötigsten zu versorgen (Gorka 2011: 103-106). 5 Um im wirtschaftlichen<br />

und humanitären Sinne Verbesserungen zu schaffen, könnte eine Anerkennung Somalilands<br />

legitim sein (Alexander/Kühn 2007: 384; Butty 2011; dem entgegen: Pegg 2011: 19-30,<br />

bes. 28-30).<br />

„Solange die AU keine Anerkennung ausspricht, sollte die internationale Gemeinschaft<br />

Alternativen entwickeln, mit denen sich diesen Staaten [wie Somaliland] zumindest<br />

eine faktische Anerkennung signalisieren lässt. Dies würde auch die internationale<br />

Rechtssicherheit für potenzielle ausländische Investoren und Handelspartner verbessern“<br />

(Tull 2011: 4; Gorka 2011: 106-108; Stahnke 2011; Al Jazeera 2013b; Manson<br />

2013).<br />

Heutzutage ist das wesentliche Exportgut Somalilands Vieh, das nach Saudi-<br />

Arabien geliefert wird (Lewis 2008: 95; Böhm 2013).<br />

Nach den bis hierher genannten Pro-Argumenten für eine Anerkennung Somalilands ist<br />

überdies noch einmal auf das völkerrechtliche Argument der „remedial secession“ zurückzukommen:<br />

Denn auch unter der Fragestellung der Legitimität ist es der Bevölkerung von Somaliland<br />

kaum zuzumuten, erneut (womöglich unter Gewaltanwendung!) mit Somalia zusammengebracht<br />

zu werden (Reeve 2005 und dort vor allem das Ende). Das Auswärtige Amt (2013b)<br />

formuliert vorsichtig:<br />

„Von einer Aussöhnung mit dem Rest Somalias im Kontext einer friedlichen und definitiven<br />

Lösung der Statusfrage von Somaliland ist Nordwestsomalia […] noch weit<br />

entfernt.“ (Pegg 2011: 17-19, mit deutlicheren Worten).<br />

Die Gräueltaten unter Siad Barre sind jedenfalls auch heute noch sehr präsent in den Köpfen<br />

der Menschen; in der Hauptstadt Hargeisa gibt es beispielsweise, zentral platziert, ein zu<br />

einem Denkmal umgebautes Kampfflugzeug aus Barres Armee, das an die Bombardierung der<br />

Stadt erinnert (siehe etwa Reeve 2005; Al Jazeera 2013a sowie 2013b; Böhm 2013).<br />

Wie sieht die Praxis im Umgang mit Somaliland aus?<br />

Nachdem in den vorherigen Abschnitten nun eine Anerkennung aus rechtlicher Sicht und aus<br />

der Legitimitätsperspektive untersucht wurde, ist nun die Frage zu beantworten, welche Rolle<br />

die genannten Argumente in der Praxis spielen. 6<br />

Zuerst ist die Afrikanische Union zu betrachten: Sie (bzw. damals noch die OAU) schickte<br />

im Jahr 2006 Beobachter nach Somaliland, um sich die dortigen Verhältnisse anzusehen,<br />

konnte sich jedoch trotz eines positiven Eindrucks nicht zu einer Anerkennung Somalilands<br />

durchringen (Njoku 2010: 350; Ker-Lindsay 2012: 59). Inzwischen ist die Afrikanische Union<br />

von dieser Position aber etwas abgerückt:<br />

5<br />

Um Veränderungen im Zeitverlauf nachzuvollziehen siehe Pegg (1998: 95-96; 2011: 21).<br />

6<br />

Für eine Zusammenfassung von internationalen Entwicklungen in Bezug auf Somaliland siehe auch<br />

die eigene Darstellung des Landes unter aufgerufen<br />

am 20.04.2014; sowie Pegg 2011: 27-28.<br />

53


„Dem ‚dualen Ansatz‘ Washingtons folgt mittlerweile auch die Afrikanische Union,<br />

die sonst stets darauf bedacht ist, koloniale Grenzen unangetastet zu lassen. Der AU-<br />

Sicherheitsrat, der die Existenz Somalilands und Puntlands bislang weitgehend ignorierte,<br />

möchte ‚Konsultationen mit Somaliland und Puntland ausweiten‘“ (Stahnke<br />

2011).<br />

Neben der Afrikanischen Union insgesamt müssen einzelne Staaten in der Nähe Somalilands<br />

und ihre Interessen besonders betrachtet werden (siehe zum Folgenden umfassend<br />

Sturman 2011: 502-503; Gorka 2011: 92 und 96; Pegg 2011: 13-14). Auffällig ist vor allem die<br />

Verstrickung von Somaliland in den Konflikt zwischen Ägypten und Äthiopien. Diese beiden<br />

Länder konkurrieren schon lange, vor allem um das Wasser des Nils. Äthiopien hat seit der<br />

Unabhängigkeit Eritreas im Jahr 1993 keine Verbindung zur Küste mehr; deshalb nutzt es neben<br />

dem Hafen von Djibouti auch den Hafen von Berbera in Somaliland (Lewis 2008: 95-99).<br />

Owtram (2011: 140) beschreibt es so: „To some extent, Ethiopia plays the role of a patron state<br />

for Somaliland“ (siehe auch Ker-Lindsay 2012: 59; Auswärtiges Amt 2013a). Äthiopiens Patronage<br />

ist jedoch weitaus geringer ist als die Patronage bei anderen De-facto-Staaten (Pegg<br />

2011: 3f.) und Äthiopien erkennt Somaliland auch nicht offiziell an, evtl., weil es aufgrund<br />

seiner eigenen Bevölkerungsverteilung Folgesezessionen auf dem eigenen Territorium fürchtet;<br />

Befreiungsbewegungen sind dort bereits vorhanden und Äthiopien geht dagegen vor (Petretto<br />

2010: 164; Auswärtiges Amt 2014b). Wegen Somalilands Bedeutung für Äthiopien sperrt sich<br />

allerdings auch Ägypten gegen eine Anerkennung Somalilands. Als Anfang der 1990er Jahre<br />

der Ägypter Boutros Boutros-Ghali Generalsekretär der Vereinten Nationen war, setzte er sich<br />

dafür ein, dass die Vereinten Nationen Somaliland nicht anerkennen. Eine weitere wichtige<br />

Rolle bei der Frage nach der Anerkennung Somalilands spielt Kenia, das südlich an Somalia<br />

angrenzt. Kenia ist ein Verfechter einer Lösung für das gesamte Somalia (und hat dafür bereits<br />

viele Mühen auf sich genommen), was in Anbetracht von Kenias Nähe zum anarchischen Süden<br />

Somalias verständlich ist.<br />

Nun kann trotz der primären Verantwortung der Afrikanischen Union und ihrer Mitgliedsstaaten<br />

(Pegg 2011: 13) noch etwas darüber gesagt werden, welche Rolle nicht-afrikanische<br />

Staaten beim Thema der Anerkennung Somalilands spielen (zum Folgenden ausführlich<br />

Sturman 2011: 502-503; Gorka 2011: 92 und 96 sowie 108; Ker-Lindsay 2012: 59): Die ehemalige<br />

Kolonialmacht Großbritannien diskutiert über eine Anerkennung zunehmend offen (Somaliland<br />

Times 2012; Yabarag 2012; Al Jazeera 2013b); sowohl Großbritannien als auch Russland<br />

und die USA haben sich außerdem mit Delegationen aus Somaliland getroffen und arbeiten<br />

mit dem Land zusammen (Owtram 2011: 141-142; Stahnke 2011; Somalilandinformer 2013).<br />

Israel ist einer Anerkennung Somalilands gegenüber aufgeschlossen, was im Jahr 2010 bekannt<br />

wurde; allerdings zögerte in diesem Fall der Präsident von Somaliland, Israel zu einer Anerkennung<br />

zu ermutigen, weil sie die wichtigen Handelsbeziehungen zu Saudi-Arabien hätte behindern<br />

könnte (Owtram 2011: 141). Saudi-Arabien wiederum steht in Verbindung mit seinen<br />

Beziehungen zu Ägypten einer Anerkennung Somalilands kritisch gegenüber (Sturman 2011:<br />

502), und das, obwohl es den Widerstand gegen Siad Barre in den 1980ern aktiv gefördert hatte<br />

(Debiel 2003: 133) und von dort auch viele Gelder von Isaaq-Exilanten für den Widerstand<br />

gekommen waren (Pegg 1998: 96-97).<br />

54


Wie lässt sich das in den vorherigen Abschnitten in Bezug auf Legitimität und Legalität<br />

Gesagte nun in einen Zusammenhang mit dem hier Dargestellten bringen? Es ist zunächst einmal<br />

auffällig, dass kein Land (außer Israel) „den ersten Schritt“ (Gorka 2011: 107) gehen<br />

möchte, indem es Somaliland anerkennt. Es ist auch auffällig, dass trotz überwiegender Argumente<br />

für eine Anerkennung immer noch eine Lösung für das gesamte Somalia gesucht wird<br />

und dass die Nachbarstaaten und andere Staaten in der Region Somalia vor allem durch die<br />

Brille ihrer eigenen von dort erhofften Vorteile sehen (Straßner 2011: 464). Doch die Aussage<br />

von Alexander/Kühn, dass „eine Anerkennung Somalilands von außen eine vollkommene Unabhängigkeit<br />

vom Rest Somalias voraussetzt[… und deshalb] eher spekulativ“ sei (Alexander/Kühn<br />

2007: 384), ist eine zu strenge Aussage. Denn der Widerstand gegen eine Anerkennung<br />

Somalilands ist insgesamt im Rückgang begriffen (Pegg 199: 97-98), wie die Regierungskontakte<br />

zu den USA (bes. Pegg/Berg 2014), Russland und Großbritannien zeigen (Klein 2012:<br />

2; Tull 2011: 3). Von einer „nahezu völlige[n] Abkehr des Somalilandes aus der internationalen<br />

Politik“ (Alexander/Kühn 2007: 383) kann nicht mehr die Rede sein.<br />

Fazit<br />

Nachdem in der vorliegenden Arbeit das Fallbeispiel Somaliland betrachtet wurde, ist der allgemeinen<br />

Aussage von Schaller zuzustimmen, „dass sich die Praxis der Anerkennung unter<br />

bestimmten politischen Bedingungen kaum mehr an den traditionellen völkerrechtlichen Kriterien<br />

orientiert“ (Schaller 2009: 25), obwohl „[v]on der Verlässlichkeit und Belastbarkeit solcher<br />

Feststellungen [der Staatlichkeit] […] in erheblichem Maße die Rechtssicherheit in den internationalen<br />

Beziehungen ab[hängt]“ (ebd.: 28).<br />

Wenngleich die aktuelle Situation Somalilands nicht als zu negativ angesehen werden darf,<br />

weil sie auch Chancen bietet (Gorka 2011: 101-108; Pegg 2011: 28-30; Böhm 2013), so darf<br />

doch gefragt werden, warum in Europa Grenzverschiebungen in Folge von Dismembrationen<br />

anerkannt wurden, wenn eine Rückkehr in alte Grenzen für Somaliland nicht möglich sein soll<br />

– der Vorwurf, dass der Westen und die internationale Gemeinschaft hier mit zweierlei Maß<br />

messen, ist nicht ganz von der Hand zu weisen (Njoku 2010: 350-351; Hillgruber 2011).<br />

Sicher ist es nicht klug, das westliche Staatsmodell einfach ohne näheres Nachdenken<br />

auf afrikanische Staaten zu kopieren (Moe 2012; Petretto 2010: 166-167; Höhne 2007:<br />

76-77). Im Fall Somalilands allerdings ergibt sich nach Prüfung von Legalitäts- und Legitimitätsfragen,<br />

dass die Orientierung an den ehemaligen Kolonialgrenzen Britisch-Somalilands und<br />

ihre Anerkennung angesichts der großen Probleme Somalias der beste Weg für die Zukunft sein<br />

könnten (Richter 2012: 280-281). Ich schließe mich insofern Srebrnik an, der sich, sehr plastisch,<br />

so ausdrückt:<br />

„Certainly there is something ludicrous in the fact that Somalia, a failed state without<br />

a genuine government, an army, diplomatic missions, UN representation, or domestic<br />

control of its economy and infrastructure, should nonetheless be accorded legal standing<br />

by the international community, while Somaliland, which functions as fully-fledged<br />

state, is not. So, instead of lamenting the collapse of Somalia, might we not rather<br />

55


applaud the decision of the people in the old British Somaliland to assume their rightful<br />

place as a self-governing polity? Should we not declare that ‚the state of Somalia<br />

is dead, long live the state of Somaliland?‘“ (Srebrnik 2004: 225-226).<br />

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60


Persönliche Stellungnahme des Autors<br />

Die Hausarbeit ist im Rahmen eines Seminars über Sezessionen entstanden. Für mein<br />

Fallbeispiel habe ich mich entschieden, da ich von Somaliland schon einmal über die<br />

Medien gehört hatte, aber gerne noch mehr über dieses Land erfahren wollte. Dass ich<br />

mich in der Hausarbeit auf das Abwägen von Legalität und Legitimität einer Anerkennung<br />

konzentriert habe, lag daran, dass mir zu diesem Bereich bei meiner Recherche<br />

besonders viele gegensätzliche Argumente aufgefallen waren. Diese wollte ich gerne<br />

für mich selbst und anschließend die Leser/-innen sinnvoll ordnen und bewerten.<br />

Legalitäts- und Legitimitätsabwägungen sind im Allgemeinen zu komplex, als dass sie<br />

mit quantitativen Methoden erfasst werden könnten. Leitfaden-Interviews waren für<br />

diese Hausarbeit praktisch ebenfalls nicht geeignet. Ich habe die Fragestellung, ob eine<br />

Anerkennung Somaliland legal und/oder legitim ist und welche Rolle diese Überlegungen<br />

in der Praxis spielen, daher bearbeitet, indem ich ausführlich die vorhandene<br />

Sekundärliteratur zum Thema analysiert und zusätzlich aktuelle Medienartikel, inklusive<br />

Videos aus dem Internet, miteinbezogen habe.<br />

Ich habe anhand des Fallbeispiels von Somaliland gut nachvollziehen können, wie sehr<br />

Konflikte innerhalb eines Landes mit der regionalen und internationalen Umgebung<br />

zusammenhängen. Außerdem war ich darüber erstaunt, zu welch unterschiedlichen<br />

Ergebnissen selbst ausgesprochene Kenner des Landes kommen, wenn es darum geht,<br />

wie die internationale Gemeinschaft auf den Konflikt in und um Somaliland reagieren<br />

sollte.<br />

61


Konfliktanalyse zwischen Krieg und Frieden im 21. Jahrhundert – Sicherheitspolitik<br />

als Gegenstand des Sozialkundeunterrichts unter besonderer<br />

Berücksichtigung des Brückenproblems<br />

Florian Häckel<br />

Einleitung<br />

Der Lehrerberuf der Gegenwart ist durch verschiedene strukturelle Gegensätze zwischen pädagogischem<br />

Handeln einerseits und gesellschaftlichen Anforderungen bzw. Erwartungen andererseits<br />

gekennzeichnet. In der erziehungswissenschaftlichen Literatur werden diese Gegensätze<br />

unter dem Begriff der Antinomien, z.B. Nähe vs. Distanz, fachunspezifisch in den Blick<br />

genommen (Helsper 2010; Schlömerkemper 2006). Aus dem entsprechenden Fundus lassen<br />

sich unter der fachspezifischen Perspektive der politischen Bildung im Allgemeinen und der<br />

Sozialkunde im Besonderen mit dem Brücken-, Emanzipations- und Urteilsproblem drei Antinomien<br />

herausgreifen (May 2014: 177–180). Von diesen wiederum verdient das Brückenproblem,<br />

verstanden als politikdidaktische Antinomie zwischen jugendlicher Lebenswelt und politischem<br />

Makrosystem (May 2014: 178), vor dem Hintergrund außen- und sicherheitspolitischer<br />

Themen besonderes Interesse, dem ich mich im Folgenden eingehender widmen möchte.<br />

Diese Behauptung mögen Überlegungen veranschaulichen, die bereits vor etwas mehr als<br />

einem Vierteljahrhundert zu einem Unterrichtsmodell "Frieden" angestellt wurden. Dort heißt<br />

es: ”Ein Unterricht, der Frieden lediglich als Aufgabe internationaler Politik beschreibt, findet<br />

nur wenige Anknüpfungspunkte an das Erfahrungsfeld der Schüler [...] und läuft Gefahr, Frieden<br />

lediglich als Aufgabe von Politikern erscheinen zu lassen.” (Heil 1987: 304) Dabei ist die<br />

angesprochene Differenz zwischen Mikro- und Makrowelt durchaus insofern wichtig, als sie<br />

verhindert, dass Politikunterricht in eine „Parallelisierungsfalle” gerät (Kiewitt 2010: 3; Pohl<br />

2004: 177), indem die Fähigkeit zur zwischenmenschlichen Konfliktlösung im Schulumfeld<br />

vereinfachend auf die Sphäre der internationalen Politik übertragen wird. Genau dies war allerdings<br />

im Zuge der Friedenspädagogik in der politischen Bildung in Deutschland eine für lange<br />

Zeit sehr verbreitete Praxis.<br />

Nicht zuletzt deshalb möchte ich zunächst die politikdidaktische Entwicklung der vergangenen<br />

Jahrzehnte in Deutschland in der Auseinandersetzung mit dem Begriffskonglomerat<br />

"Krieg – Frieden – Sicherheit" skizzieren (Kap. 1). Dies soll gleichzeitig als Grundlage für eine<br />

inhaltliche Eingrenzung eines zentralen Lernbereichs außenpolitischer Bildungsgegenstände<br />

dienen. Darauf aufbauend können dann Konsequenzen für Lehr- und Lernziele sowie für methodisches<br />

Handeln im Sozialkundeunterricht erörtert werden (Kap. 2). Schließlich will ich die<br />

auf diesem Wege gewonnen Erkenntnisse mit praktischer Relevanz in einem Unterrichtsbeispiel<br />

zusammenführen (Kap. 3). Letzteres ermöglicht bestenfalls eine begründete Aussage darüber,<br />

inwiefern dem angesprochenen Brückenproblem im Besonderen thematischen Kontext<br />

der Außen- und Sicherheitspolitik angemessen zu begegnen ist.<br />

62


Inhaltliche Vorgaben: Von der Friedens- zur Sicherheitspädagogik<br />

Entwicklungen im Kontext des Kalten Krieges<br />

Angesichts der Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges und der atomaren Bedrohung sowie der<br />

eingeschränkten außenpolitischen und militärischen Souveränität der Bundesrepublik Deutschland<br />

war eine idealistisch geprägte Friedenserziehung auch in der politischen Bildung ein Gebot<br />

der Stunde (Sander 2014: 384). Diese setzte ohne ausreichende sozialwissenschaftliche und<br />

politiktheoretische Reflexion auf ein streng pazifistisches Verständnis von Außenpolitik und<br />

eine Erziehung der Schüler zu friedlichen Menschen. Eine Differenzierung erfolgte erst im<br />

Zuge der didaktischen Wende in den 1960er Jahren, insbesondere vertreten durch Hermann<br />

Giesecke und Wolfgang Hilligen. Seither darf die kombinierte Thematik "Krieg und Frieden"<br />

als zentraler Gegenstand einer politischen Bildung angesehen werden (Reeb 2014: 116f., mit<br />

entsprechenden Verweisen auf Giesecke, Hilligen und Bernhard Sutor), die sich kritischer mit<br />

Ursachen von Kriegen und Möglichkeiten der Friedenssicherung auseinandersetzt. Bei Giesecke<br />

äußerte sich dies darin, dass „im Hinblick auf die gegenwärtigen und künftig voraussehbaren<br />

Handlungssituationen”, auf welche politische Bildung vorbereiten soll, neben anderen<br />

inhaltlichen Schwerpunkten auch „das System der internationalen Politik” hervorgehoben<br />

wurde (Giesecke 2011: 94). Da für Giesecke eine „Konfliktsituation als die eigentliche politische<br />

Handlungssituation” schlechthin gilt (Giesecke 2011: 92), liegt es auf der Hand, dass hierbei<br />

Fragen von Krieg und Frieden in dem eben genannten Sinne in erster Linie betroffen sind.<br />

Für Hilligen sind es hingegen „Chancen [und] Gefahren [...] für ein menschenwürdiges (gutes)<br />

Leben”, welche die Auswahl von Inhalten im Politikunterricht strukturieren sollen (Hilligen<br />

2011: 117). Diese bestehen insbesondere in einer „weltweite[n] Interdependenz [...]” und der<br />

„Möglichkeit der Selbstvernichtung durch Massenvernichtungsmittel” (Hilligen 2011: S.118,<br />

Hervorhebungen i.O.), womit wiederum Fragen von Krieg und Frieden in einem internationalen<br />

Zusammenhang benannt sind. Unter solchen Gesichtspunkten wird neben der Politikwissenschaft<br />

im Allgemeinen deren Teildisziplin der Internationalen Beziehungen im Besonderen zur<br />

Bezugsdisziplin für politische Bildung.<br />

Ungeachtet dieser möglichen Reaktion auf die zuvor beklagte defizitäre wissenschaftliche<br />

und theoretische Reflexion scheint im weiteren Verlauf des Kalten Krieges „der Schwerpunkt<br />

der politischen Bildung [...] auf innenpolitische[n] Themen” gelegen zu haben (Diemer<br />

1992: 87). Doch die intensiven politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen<br />

um den NATO-Doppelbeschluss Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre blieben nicht<br />

ohne Wirkung auf Unterrichtsinhalte (Lutz 1984: 19–54; Heil 1987: 310f). 1 Aus Sorge um die<br />

Wehrhaftigkeit der Bundesrepublik angesichts der Friedens- und Ökologiebewegung jener<br />

Jahre gab es damals im Rahmen der Kultusministerkonferenz Bestrebungen, stärker militärisch<br />

und sicherheitspolitisch orientierte Empfehlungen zu geben. Diese stießen allerdings auf den<br />

Widerstand von Vorstellungen, die eher einer sozialkritischen Friedenserziehung mit Sympathien<br />

für die Protestbewegung entsprachen, sodass letztlich keine Einigung erzielt werden<br />

konnte. Die friedenspädagogische Debatte führte gleichwohl wieder zu einer Intensivierung<br />

1<br />

Der NATO-Doppelbeschluss beendete eine Phase der Entspannung im Kalten Krieg, indem er eine<br />

atomare Nachrüstung des Westens beinhaltete.<br />

63


außenpolitischer Themen in der Politikdidaktik. In diesem Zusammenhang wurde Friedenspädagogik<br />

jedoch nicht nur als inhaltliche Determinante, sondern als Unterrichtsprinzip verstanden<br />

(Beer/Scharf 1988: 230). Dabei galten für den Sozialkundeunterricht seinerzeit neben<br />

”Kriegsverhütung und Abrüstung”, ”sozialer Gerechtigkeit” und ”gewaltfreiem Konfliktaustrag”<br />

auch ”Abbau struktureller Gewalt” und ”internationale Gerechtigkeit” als sinnvolle Themenbereiche<br />

(Beer/Scharf 1988: 226–228). Hiervon sind es die beiden letzteren Stichpunkte,<br />

die mit der Behandlung des Ost-West-Konflikts und der Friedenssicherung, des Nord-Süd-Gegensatzes,<br />

der Weltwirtschaftsordnung und von Entwicklungshilfe einen stärkeren Bezug zu<br />

Forschungsinteressen der Internationalen Beziehungen aufweisen.<br />

Interessant ist in dieser Hinsicht eine Untersuchung von Themenvorgaben in Schulbüchern<br />

für das Fach Politik/Sozialkunde der Sekundarstufe I zur internationalen Politik aus den 1980er<br />

Jahren (Mahncke 1985: 253). Diese geht davon aus, dass in Verbindung mit einer zunehmenden<br />

Informationsflut durch eine Steigerung von Medienangebot und -nutzung die Relevanz einer<br />

differenzierten Behandlung der Strukturen des internationalen Systems im Unterricht auf der<br />

Hand liegt. Davon betroffen sind demnach die wachsende weltweite Verflechtung und Interdependenz,<br />

die gleichermaßen weltweiten Handelsinteressen der an der Nahtstelle des Ost-West-<br />

Konflikts gelegenen Bundesrepublik sowie deren Akteursstatus als Subjekt und Objekt der europäischen<br />

Integration und des Nordatlantischen Bündnisses (NATO). Der Befund der Untersuchung<br />

lautete, dass die vorhandenen Bücher den Zusammenhang von Machtpolitik, d.h. der<br />

Verteidigungsfähigkeit Deutschlands im europäischen bzw. atlantischen Bündnis, und individueller<br />

bzw. politischer Freiheit und Unabhängigkeit seiner Bürger vor dem Hintergrund einer<br />

internationaler Ordnung, institutionalisiert in Form der Vereinten Nationen (VN), nur mangelhaft<br />

abbildeten (Mahncke 985: 406f.). Tatsächlich hätte ein solcher Zusammenhang die oben<br />

erwähnten gegensätzlichen Vorstellungen von „Wehrkunde” und ”Friedenserziehung” im Unterricht<br />

verknüpfen können.<br />

Entwicklungen seit 1990<br />

Unter gänzlich neuen Vorzeichen stellte sich die Situation nach dem Ende des Kalten Krieges<br />

zu Beginn der 1990er Jahre dar. Das Ende der Konfrontation zwischen den Machtblöcken und<br />

der unmittelbaren (atomaren) Bedrohung auch und gerade an der innerdeutschen Grenze versprach<br />

zunächst Frieden unter vereinfachten Bedingungen, eine Vorstellung die sich jedoch<br />

bald mit der politischen Realität nicht mehr vereinbaren ließ (Diemer 1992: 89). Für die Außenund<br />

Sicherheitspolitik im Politikunterricht wurden daher zunächst sowohl in einem ökonomischen<br />

als auch in einem militärischen Zusammenhang strukturelle Defizite beklagt. So musste<br />

einerseits eine Auseinandersetzung mit wirtschaftlichen Verflechtungen von Handel, Verkehr<br />

und Informationen die globalen Ordnungsvorstellungen von Weltbank und Internationalem<br />

Währungsfonds in sehr viel stärkerem Maße berücksichtigen als zuvor (Diemer 1992: 91). 2 Andererseits<br />

erforderte die Frage, wie ein militärisches Engagement für die Sicherheit des vereinigten<br />

deutschen Staates im Rahmen der NATO bzw. Europäischer Union (EU) zukünftig aussehen<br />

sollte, ebenfalls neue Antworten: ”Trotzdem ist klar, dass die Fragen nach dem Sinn und<br />

Zweck der NATO, der Stellung der USA, der Aufbau einer europäischen Verteidigung sich<br />

2<br />

Dies trifft gleichermaßen auf die erst 1994 gegründete Welthandelsorganisation zu.<br />

64


nicht aufschieben lassen. In der Bundesrepublik bekam die Debatte einen neuen Auftrieb durch<br />

den Golfkrieg, den Einsatz der Bundeswehr in der Türkei und illegale Waffenlieferungen an<br />

den Irak.” (Diemer 1992: 96f) Diese Feststellung weist im Übrigen augenfällige Parallelen zu<br />

aktuellen Entwicklungen im Kontext des Syrienkonflikts 2013/2014 auf. Mit Blick auf die Pädagogik<br />

insgesamt wurde seinerzeit jedoch deren mangelnde internationale Perspektive kritisiert<br />

(Seitz 1996: 95). Die Kritik ging ferner mit einem Plädoyer für interkulturelles Lernen mit<br />

Themen wie Länderkunde, Entwicklungshilfe, Machtkonstellationen, politisch-ökonomischer<br />

Nord-Süd-Gegensatz und sozialökologischer Perspektiven einher (Seitz 1996: 105f.). Damit<br />

sind erneut außen- und sicherheitspolitische Gegenstandsbereiche der politischen Bildung angesprochen,<br />

die im wissenschaftlichen Fokus der Internationalen Beziehungen stehen.<br />

Einem fortschreitenden Verständnis dafür, dass sich Frieden und Sicherheit nur in einem<br />

globalen Rahmen organisieren lassen, entspricht auch der Hinweis auf die ”epochaltypischen<br />

Schlüsselprobleme” nach Wolfgang Klafki (Seitz 1996: 108), die im Kontext seiner kritischkonstruktiven<br />

Didaktik allein weder national noch europäisch lösbar sind (Jank/Meyer 2002:<br />

231–234). Daraus resultiert ein problemorientiertes Vorgehen im Unterricht, der internationale<br />

Strukturen und Prozesse zum Gegenstand hat. Doch auch deren Rückwirkung auf innenpolitische<br />

Sachverhalte ist für die politische Bildung von Belang. So mag die klare ablehnende Haltung<br />

des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder zu einer deutschen Beteiligung an der<br />

US-amerikanischen Militäroperation im Irak sich im Bundestagswahlkampf 2002 zu seinen<br />

Gunsten ausgewirkt haben (Juchler 2005b: 94), nachdem gerade in Schröders Regierungszeit<br />

das internationale Engagement der Bundeswehr angesichts zahlreicher neuer Konfliktherde ungewohnte<br />

und unpopuläre Dimensionen erreicht hatte. Hier manifestierte sich ein kontroverser<br />

Zusammenhang zwischen den sicherheitspolitischen Neuerungen nach dem Ende des Ost-<br />

West-Konflikts und den für Deutschland zuvor gültigen normativen Orientierungen der außenpolitischen<br />

und militärischen Zurückhaltung, nunmehr gekennzeichnet durch eine Ausdehnung<br />

von EU und NATO, militärische Einsätze außerhalb des NATO-Bündnisgebietes sowie militärische<br />

Interventionen mit und ohne VN-Mandat (Juchler 2005b: 95f.). Indes sollte dies nicht<br />

darüber hinweg täuschen, dass die Bedeutung sicherheitspolitischer Themen bei Wahlentscheidungen<br />

oder Zustimmungswerten zumindest bei oberflächlicher Betrachtung seither eher marginal<br />

ausfällt. Insofern ist folgender Forderung von Ingo Juchler erst recht zuzustimmen: „Eine<br />

Befähigung von Schülern zur politischen Urteilsbildung als demokratiefunktionale Aufgabe der<br />

politischen Bildung darf sich [...] nicht auf diverse Politikfelder der Innenpolitik beschränken,<br />

sondern muss die Außenpolitik mit einbeziehen.” (Juchler 2005b: 104) Im Unterschied zur Innenpolitik<br />

lässt sich Außenpolitik dabei als Gegensatz von Macht und Recht beschreiben, womit<br />

im Übrigen zwei zentrale Kategorien der Politikdidaktik benannt sind, die in Form von<br />

Schlüsselfragen als Reaktion auf das angesprochene Brückenproblem verstanden werden können<br />

(Juchler 2005a: 91). Ich werde darauf in Kapitel 2 u.a. im Hinblick auf Basiskonzepte zurückkommen.<br />

Die Anbahnung und Übung qualifizierter Urteile von Bürgern in demokratischen<br />

Gesellschaften auch im Kontext internationaler Konflikte ist jedenfalls Ziel der politischen Bildung,<br />

wobei wiederum im Unterschied zur Innenpolitik der normative Maßstab des Völkerrechts<br />

zu berücksichtigen ist, ohne den ”die politische Bildung in Fragen auswärtiger Politik<br />

indifferent in postmoderner Beliebigkeit” verharre (Juchler 2005a: 97).<br />

65


Ähnlich liest sich das bei Wolfgang Sander, der seinerseits Bernhard Sutor zitierend in<br />

politischer Urteilsbildung als kritischer Reflexion politischer Ordnungsversuche im Kontext<br />

internationaler Beziehungen von Staaten die zentrale Aufgabe einer zeitgemäßen Friedenserziehung<br />

erkennt (Sander 2014: 389). Das geht deutlich über die Grundannahmen der "alten"<br />

Friedenserziehung hinaus. So erscheinen zu Beginn des 21. Jahrhunderts militärische Auseinandersetzungen<br />

unter Berücksichtigung asymmetrischer Konflikte (”Neue Kriege”) und humanitärer<br />

Interventionen (”Schutzverantwortung”) in einem anderen – moralischen – Licht<br />

(Sander 2014: 384, 387f.). 3 Als zentrale Aufgabe politischer Bildung folgt daraus für Sander,<br />

vorherrschende moralische Einschätzungen der Schüler analytisch – auch mit bisher vernachlässigten<br />

(militär-)strategischen Problemstellungen – zu hinterfragen (Sander 2014: 390f.). Dies<br />

lenkt den Blick auf die Auseinandersetzung mit der Bundeswehr im Sozialkundeunterricht.<br />

Paradoxerweise hätte zu Zeiten der praktizierten allgemeinen Wehrpflicht für Schüler eine<br />

Lösung des Brückenproblems in der bevorstehenden persönlichen Betroffenheit bestehen können,<br />

die entsprechende politische Entscheidungen in ihrer – unmittelbar auf die Schulzeit folgenden<br />

– Lebenswelt als Wehrpflichtige verursacht hätten. Ein solcher Gedanke mag durch die<br />

nachhaltige Abkehr von allem Militärischen durch „Demokratisierung, Humanisierung und Zivilisierung<br />

der Schule” (Sander 2014: 384) nicht nur in der Politikdidaktik kaum vertretbar<br />

erschienen sein. Ein Verständnis von Wehrpflicht als Aufgabe des politisch mündigen Bürgers<br />

fand sich daher im Sozialkundeunterricht selten bis gar nicht wieder, unabhängig vom Einsatz<br />

von Jugendoffizieren der Bundeswehr an Schulen, von dem durchaus häufig – wenn auch mit<br />

anderen Zielen – Gebrauch gemacht wurde und wird (Jäger 2013: 30–35). Eine solche Chance<br />

besteht nach Aussetzung der Wehrpflicht indes nicht mehr, obschon die Wahrscheinlichkeit<br />

einer zumindest indirekten persönlichen Betroffenheit von Schülern durch die internationalen<br />

Einsätze der Bundeswehr in der jüngeren Zeit zugenommen hat (Jäger 2013: 34). Ein Aufsatz,<br />

der anlässlich der politischen Entscheidung zur Aussetzung in einer politikdidaktischen Zeitschrift<br />

erschienen ist, verweist auf einen positiven Grundgedanken der Wehrpflicht (Pappenberger<br />

2011: 58). Dieser bestehe im Allgemeinen im „Idealbild des freien Bürgers, der seinen<br />

Staat verteidigt” bzw. im besonderen Falle der Bundesrepublik im Staatsbürger in Uniform, der<br />

in einer Armee der Einheit fest in der Demokratie verankert sei. Als Kehrseite der Wehrpflicht<br />

werden völkerrechtliche Bedenken an internationalen Einsätzen der Gegenwart (Pappenberger<br />

2011: 60–63) und eine zuletzt fehlende Wehrgerechtigkeit angemahnt (Pappenberger 2011: 64),<br />

ohne dass diese den positiven Grundgedanken prinzipiell in Frage stellen könnten. Im Ergebnis<br />

bleibt dem Autor neben einer verstärkten außerschulischen politischen Bildung innerhalb der<br />

Bundeswehr nur die Forderung nach einer gesellschaftlichen Debatte über Außenpolitik und<br />

militärische Mittel (Pappenberger 2011: 65f.). Müsste aber gerade diese nicht schon im Sozialkundeunterricht<br />

beginnen?<br />

Bezeichnend ist ferner, dass auch in Verbindung mit dem Hinweis auf die verfassungsrechtliche<br />

Grundlage des Bundesfreiwilligendienstes (Wehrpflicht nach Art. 73 des Grundgesetzes)<br />

in einem aktuellen Aufsatz über denkbare pädagogische Funktionen von Freiwilligendiensten<br />

– politische Bildung, tätigkeitsbezogene Qualifikationen, Persönlichkeitsentwicklung,<br />

sozialer Kompetenzerwerb und v.a. eine gemeinwohlorientierte Dienstleistung – der freiwillige<br />

Wehrdienst keine Erwähnung findet (Klie 2014: 8–10). Denn es ist keineswegs einleuchtend,<br />

3<br />

Zu diesen Termini siehe Münkler 2002 bzw. ICISS 2001.<br />

66


davon auszugehen, dass Letzterer nicht auch und gerade diese Funktionen erfüllt, zumal sie<br />

sich gut zur Begründung und Einrahmung der häufig geforderten „verstärkte[n] Diskussion<br />

über Sicherheitspolitik” (Jäger 2013: 34) im Sozialkundeunterricht eigneten. Wenn „die alten<br />

Begriffe Bedrohung, Abschreckung oder Konfrontation nicht mehr aus[reichen], um Konflikte<br />

im internationalen System hinreichend zu beschreiben” (Reeb 2014: 121), veranschaulicht dies<br />

einmal mehr die Notwendigkeit einer differenzierten Behandlung von Krieg und Frieden einschließlich<br />

der Rolle der Bundeswehr im schulischen Kontext. Dem entsprechen letztlich die<br />

Vorstellungen einer Sicherheitspädagogik, welche die Komplexität des internationalen Systems<br />

der Gegenwart – determiniert etwa durch den sogenannten erweiterten Sicherheitsbegriff und<br />

den Einfluss privater Akteure – im Sozialkundeunterricht strukturell und analytisch aufzugreifen<br />

in der Lage ist (Reeb 2014: 121). Dabei wird von erweiterter Sicherheit gesprochen, wenn<br />

diese nicht nur staatlich und militärisch, sondern auch individuell-menschlich und sozial, ökologisch,<br />

ökonomisch etc. definiert wird. Denkbare Themen im Sozialkundeunterricht sind unter<br />

dieser Voraussetzung neben der militärischen Beteiligung Deutschlands in aktuellen Konflikten<br />

diverse sicherheitspolitische Herausforderungen der Gegenwart wie Terrorismus, Proliferation,<br />

Klimawandel, Migration, Rohstoffknappheit und das diesbezügliche Handeln zentraler Internationaler<br />

Organisationen wie VN, NATO und EU (Bub-Kalb/Kalb 2013: 126). Welche Konsequenzen<br />

aber ergeben sich nach dieser inhaltlichen Konkretisierung nun für Ziele und Methoden<br />

im Sozialkundeunterricht?<br />

Intentionale und methodische Konsequenzen<br />

Urteils-, Konflikt- und Methodenkompetenz<br />

Wie bereits im vorherigen Kapitel angesprochen, geht es intentional vor allen Dingen um die<br />

Qualifizierung der Schüler zur politischen Urteilsbildung in der Auseinandersetzung mit internationalen<br />

Konfliktsituationen. Damit sind im Grunde zwei kompetenzorientierte Lernziele<br />

identifiziert, die sich in verschiedenen Kompetenzmodellen der Politikdidaktik wiederfinden:<br />

die politische Urteilskompetenz und die Konfliktkompetenz als besondere Ausprägung der politischen<br />

Handlungskompetenz (May 2011: 124f., ferner Weißeno 2012, Reinhardt 2009: 19–<br />

29, Detjen 2013, Massing 1997). Aus der einleitenden Feststellung, dass die Fähigkeit zur Lösung<br />

zwischenmenschlicher Konflikte nicht auf die Sphäre der internationalen Politik übertragen<br />

werden kann (Kiewitt 2010: 3), folgt somit zunächst die Vorrangstellung der Urteilskompetenz.<br />

Diese erfordert die Fähigkeit zu einer begründeten Stellungnahme der Schüler zu politischen<br />

Problemen in Form von Sach- und Werturteilen, deren Kriterien in Effektivität bzw.<br />

Legitimität bestehen. Im Kontext der internationalen Politik sind davon also in erster Linie die<br />

Kategorien Macht und Recht betroffen. Dabei geht es schließlich „wie bei anderen politischen<br />

Themen darum, sich ein eigenständiges Urteil bilden zu können.” (Reeb 2014: 124)<br />

Eine solche Urteilsbildung in Fragen von Krieg und Frieden erfordert nun neben der eigenständigen<br />

Auswahl, Analyse und Bewertung von Informationen auch die Fähigkeit zur interkulturellen<br />

Perspektivenübernahme (Seitz 1996: 105f.). Davon ist wiederum die Konfliktkompetenz<br />

insofern betroffen, als die Beurteilung kommunikativer und interaktiver Aushandlungsprozesse<br />

sowie eine diskursive Behandlung gegensätzlicher Werte bzw. Interessen zur Lösung<br />

von Konflikten durch Schüler nachvollzogen werden soll (Heil 1987: 318; Reeb 2014: 122).<br />

67


Eine entsprechende Analyse internationaler Konflikte innerhalb der im vorherigen Kapitel genannten<br />

Gegenstandsbereiche muss dabei letztlich auf sozialwissenschaftlichen Methoden beruhen.<br />

Insofern ist auch die Methodenkompetenz betroffen, die im Verbund mit den beiden<br />

erstgenannten Kompetenzbereichen das einflussreiche Kompetenzmodell der Gesellschaft für<br />

Politikdidaktik und politische Jugend- und Erwachsenenbildung komplettiert (GPJE 2004:<br />

125). 4 Curriculare Vorgaben der meisten Bundesländer für die Sekundarstufe II verlangen in<br />

diesem Sinne die Behandlung von „Frieden und Sicherheit” im Kontext internationaler Beziehungen<br />

in Form einer Problematisierung von Konfliktbewältigung bzw. Konfliktstrategien<br />

(Reeb 2014: 118). 5<br />

Möglichkeiten der Analyse von Konflikten<br />

Unter dieser Voraussetzung schlägt Hans-Joachim Reeb für die Unterrichtspraxis ein induktives<br />

Vorgehen ausgehend von einem aktuellen Konflikt zum Gesamtzusammenhang internationaler<br />

Konfliktbearbeitung vor (Reeb 2014: 123). Dazu befürwortet er die didaktischen Prinzipien<br />

der Problemorientierung und der Kontroversität sowie als Methode eine Fallanalyse. Gemeinsame<br />

Zugänge von Politik- und Geschichtsdidaktik zum Thema "Krieg", die über die Friedenspädagogik<br />

hinausgehen, nennt Elfriede Windischbauer (Windischbauer 2012: 70). Diese<br />

bestehen in strukturellen Bedingungsfaktoren von Konflikten, sozialen Verarbeitungstechniken<br />

und Legitimationsformeln im Hinblick auf Kriegserlebnisse und -erfahrungen sowie in der öffentlichen<br />

bzw. medialen Darstellung und Berichterstattung. Als Methode schlägt Windischbauer<br />

u.a. den Projektunterricht vor, der interdisziplinäres, problemorientiertes und entdeckendes<br />

Lernen zur Entwicklung historischer und politischer Kompetenzen ermögliche (Windischbauer<br />

2012: 77f.). Ein Unterrichtsmodell für die Sekundarstufe I aus den 1980er Jahren plädiert<br />

dafür, die Konfliktfähigkeit von Akteuren auf der Basis von Interaktion und Kommunikation<br />

als Indikatoren des Friedens in den Blick zu nehmen (Heil 1987: 312f.). Dies gelangt zur Anwendung<br />

bei der Analyse internationaler Prozesse, die gleichsam induktiv bearbeitet werden,<br />

wobei als konkrete Beispiele der Abrüstungsprozess im Kalten Krieg (eingeschränkte Konfliktfähigkeit<br />

in puncto NATO-Doppelbeschluss) und die Entwicklung der deutsch-französichen<br />

Beziehungen im 20. Jahrhundert (erfolgreiche Konfliktfähigkeit in der Überwindung der sogenannten<br />

Erbfeindschaft) aufgeführt sind. Ein besonderes Gewicht fällt dabei der Analyse sozialer<br />

Beziehungen auf den Ebenen von Individuen, sozialen Gruppen und politischen Systemen<br />

bzw. Staaten zu (Heil 1987: 317). Darin wird auch eine Chance gesehen, die Lebenswelt der<br />

Schüler (Mikroebene) in den makropolitischen Gegenstand des Unterrichts zu integrieren.<br />

Damit ist eine Vorstellung angesprochen, die sich ebenso in der Konzeption von Basiskonzepten<br />

nach Wolfgang Sander wiederfindet. Auf die intensiv geführte politikdidaktische Diskussion<br />

um Basis- und Fachkonzepte als Strukturdeterminanten des Fachwissens in der politischen<br />

Bildung sei hier nur am Rande verwiesen (Weißeno 2012: 165–169). Sander sieht in den<br />

4<br />

Einflussreich ist dieses Modell auch dahingehend, dass es sich in den Lehrplänen der Bundesländer<br />

für das Fach Sozialkunde wiederfindet (May 2011: 125). Dies ist auch in Thrüringen der Fall (Thüringer<br />

Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur 2012: 9).<br />

5<br />

Der Thüringer Lehrplan (Thüringer Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur 2012: 17f.) thematisiert<br />

für die Sekundarstufe I unter der Überschrift „Wege zum Frieden” ebenfalls Möglichkeiten<br />

der Friedenssicherung und Konfliktlösungen.<br />

68


Basiskonzepten Macht, System, Recht, Öffentlichkeit, Gemeinwohl und Knappheit zum einen<br />

eine Ablösung der kategorialen Politikdidaktik im Sinne Wolfgang Klafkis, zum anderen die<br />

didaktische Funktion einer Weiterentwicklung bestehender Schülervorstellungen zu diesen<br />

Konzepten im Sinne eines sozialwissenschaftlich fundierten Verständnisses (Sander<br />

2010: 36.f.). So gesehen ermöglichen Basiskonzepte ihrerseits eine Antwort auf das Brückenproblem.<br />

Sander nennt dazu ein unterrichtspraktisches Beispiel, passenderweise zur Sicherheitspolitik,<br />

das auf ein Modell der „Zonen des Politischen” zurückgreift (Sander<br />

2010: 38f.; Sander 2009: 11). Das Lernvorhaben zu einer Rede des US-amerikanischen Präsidenten<br />

über atomare Abrüstung beginnt mit den Einschätzungen der Schüler zu dieser Thematik<br />

in Verbindung mit der Lektüre der Rede (Oberflächenzone der alltäglichen Wahrnehmung).<br />

Daran schließt sich eine analytische Phase zu den Rahmenbedingungen weltweiter Sicherheitspolitik<br />

unter Berücksichtigung der historischen Entwicklung des Atomzeitalters und<br />

konkreter Fälle wie Nordkorea und Israel an (Mittlere Zone längerfristiger politischer Probleme).<br />

Am Ende steht eine Diskussion über das Basiskonzept Macht, in der Möglichkeiten und<br />

Grenzen der Friedenssicherung angesichts von Atomwaffen im Kontext von Hegemonien,<br />

Drohpotenzialen und Abschreckung besprochen werden (Kernzone mit Politik als kontinuierlicher<br />

Aufgabe der Menschheit). Aus schon genannten Gründen bieten sich zur Behandlung<br />

sicherheitspolitischer Fragen insbesondere die Basiskonzepte Macht und Recht an.<br />

Damit sind im Übrigen zwei Kategorien genannt, die bereits Hermann Giesecke neben<br />

weiteren zum Gegenstand seiner Konfliktanalyse gemacht hatte (Giesecke 2011: 97f.). Die politische<br />

Analyse eines Konflikts bedeutet für Giesecke, „politische Fragen an ihn zu stellen.”<br />

(Giesecke 2011: 97; Hervorhebungen i.O.) Diese Fragen lassen sich wiederum eigens aus den<br />

Kategorien entwickeln, z.B.: ”Welcher Zwang kann zur Aufrechterhaltung einer Situation und<br />

zur Durchsetzung einer Aktion angewandt werden (Macht)? Welche rechtlichen Möglichkeiten<br />

bestehen bei einer politischen Situation oder Aktion (Recht)?” (Giesecke 2011: 98; Hervorhebungen<br />

i.O.) Der Konflikt selbst gilt in Gieseckes Didaktik als Zentralkategorie, denn Schüler<br />

„begegnen der Politik im Alltag über die Medien fast ausschließlich in der Form von Konflikten”<br />

(Herdegen 2010: 124). Insofern lässt sich auch die Konfliktanalyse als Antwort auf das<br />

Brückenproblem begreifen. Zwar mag Giesecke Konflikte in erster Linie als gesellschaftliche,<br />

d.h. eher innerstaatliche Auseinandersetzungen verstanden haben (Herdegen 2010: 122), deren<br />

Analyse im Sinne seiner Mitbestimmungskonzeption weniger in einen außenpolitischen Kontext<br />

zu passen scheint. Doch ungeachtet dessen, dass die Mehrzahl bewaffneter Konflikte der<br />

Gegenwart ohnehin einen innerstaatlichen Charakter bzw. zumindest einen innerstaatlichen Ursprung<br />

hat, erscheint die Anwendung auf Basis der oben skizzierten lernzielorientierten Feststellungen<br />

auch und gerade in sicherheitspolitischen Fragen sinnvoll (Dietz 2011: 46). Unter<br />

Verwendung der entsprechenden Kategorien Gieseckes hat Sibylle Reinhardt eine methodische<br />

Weiterentwicklung der Konfliktanalyse vorgeschlagen (Reinhard 2009: 86–92;<br />

Dietz 2011: 44f.).<br />

Dabei steht vor der eigentlichen Analyse, in der die Kategorien – Konflikt, Konkretheit,<br />

Macht, Recht, Solidarität, Mitbestimmung, Funktionszusammenhang, Ideologie, Geschichte,<br />

Menschenwürde – wiederum in Fragen umgewandelt werden (Reinhardt 2009: 79–81; ferner<br />

Herdegen 2010: 126f.), die Konfrontation mit einem konkreten Konflikt in Verbindung mit<br />

einem Meinungsbild der Schüler. Nach der Analyse folgt eine ausführliche Stellungnahme, wo<br />

69


die im Zuge der Analyse gewonnen Einsichten dazu beitragen sollen, das vorherige Meinungsbild<br />

zu überprüfen. Anschließend werden die konträren Positionen des Konflikts zum Gegenstand<br />

eines Kontroversverfahrens im Unterricht gemacht. Die bis dato erfolgte Urteilsbildung<br />

wird also durch eine strittige Auseinandersetzung mit verschiedenen Argumenten nochmals<br />

zugespitzt bzw. auf die Probe gestellt. Die letzte Phase der Generalisierung soll am Ende dazu<br />

beitragen, strukturelle Probleme, die im konkreten Konfliktfall exemplarisch zum Ausdruck<br />

gekommen sind, sichtbar zu machen.<br />

Die Methode in dieser Form korrespondiert bei Reinhardt mit dem fachdidaktischen Prinzip<br />

der Konfliktorientierung. Die didaktische Funktion entsprechender Prinzipien im Allgemeinen<br />

besteht gerade darin, dass sie die politische Charakteristik von Lerngegenständen und die<br />

Lernvoraussetzungen von Schülern methodisch sinnvoll miteinander verknüpfen. Mit anderen<br />

Worten: ”sie bauen Brücken, über die die Lernenden gehen können” (Reinhard 2009: 75; Hervorhebung<br />

durch Autor). Politikdidaktische Prinzipien zeichnen sich also dadurch aus, dass<br />

ihnen ein „stimmiges Passungsverhältnis von Themen/Anforderungssituationen, Zielen, Inhalten<br />

und Methoden” innewohnt (May 2011: 183). Folglich stellt der sinnvolle Einsatz dieser<br />

Prinzipien im Prozess der Unterrichtsplanung eine gleichermaßen sinnvolle Reaktion auf die<br />

Antinomien des Sozialkundeunterrichts und damit auch auf das Brückenproblem dar (May<br />

2011: 183). Nach einer strengen Auffassung dieser Systematik müsste auf der Grundlage der<br />

genannten intentionalen Voraussetzungen der politischen Urteilsbildung vordergründig auch<br />

die Urteilsorientierung als Prinzip zu berücksichtigen sein. Ich plädiere indes dafür, die Konfliktanalyse<br />

in der dargelegten Ausprägung als Voraussetzung dafür anzusehen, dass Schüler in<br />

einer außen- und sicherheitspolitischen Urteils- und Entscheidungssituation die notwendigen<br />

Fragen zu stellen selbstständig in der Lage sind. Insofern halte ich das angesprochene Passungsverhältnis<br />

auch dann für gegeben, wenn die Anforderungssituation im Umgang mit einem internationalen<br />

Konflikt (auch als Fall oder Problem begreifbar) besteht und der Unterrichtsinhalt<br />

strukturell dem Komplex "Krieg – Frieden – Sicherheit" zuzuordnen ist, worüber die Schüler<br />

sich unter Verwendung der Konfliktanalyse als Methode jeweils ein eigenständiges und rationales<br />

Urteil bilden können sollen (May 2014: 127).<br />

Unterrichtsbeispiel: Der Afghanistan-Konflikt<br />

Beschreibung der Konfliktanalyse<br />

Mein Vorschlag für die Behandlung eines sicherheitspolitischen Gegenstandes im Kontext der<br />

internationalen Beziehungen bzw. von "Krieg und Frieden" beruht in seinem Ablauf, d.h. makromethodisch,<br />

im Wesentlichen auf der Schrittfolge der Konfliktanalyse nach Sibylle Reinhardt<br />

(Reinhard 2009: 79–81). Es sind dafür zwei Doppelstunden vorgesehen (siehe Verlaufsschema),<br />

was grundsätzlich einen knappen Zeitansatz darstellt und ein Stundenkontingent erfordert,<br />

wie es in der Regel der Sekundarstufe II vorbehalten ist. 6 Ich will hier nicht auf alle<br />

6<br />

In nur leicht veränderter Form habe ich das Unterrichtsbeispiel in einer 10. Jahrgangsstufe praktiziert,<br />

sodass ein Einsatz grundsätzlich auch in der Sekundarstufe I möglich ist, dort allerdings hinsichtlich<br />

des Unterrichtsflusses unter der Einzelstundenproblematik leidet. Ein Vorschlag zum Atomkonflikt<br />

mit dem Iran (Dietz 2011: 46f.), dem ebenfalls die Methode nach Reinhardt zugrunde liegt,<br />

beansprucht etwa sechs Einzelstunden – ohne Festlegung der Sekundarstufe. Eine Konfliktanalyse<br />

70


inhaltlichen Gesichtspunkte in umfänglicher Breite eingehen, sondern nur mir besonders wichtig<br />

erscheinende Überlegungen skizzieren. Im Übrigen sei auf den Verlaufsplan verwiesen. Der<br />

Afghanistan-Konflikt wurde als konkreter Fall ausgewählt, weil dies derjenige Konflikt mit der<br />

bisher längsten und intensivsten Beteiligung der Bundeswehr ist. Nicht zuletzt deshalb war er<br />

in Deutschland Gegenstand kontroverser gesellschaftlicher Debatten und einer Aufarbeitung in<br />

Literatur und Film (Wagner/Biehl 2013: 27f.). 7 Die Öffentlichkeitswirkung des Afghanistankonflikts<br />

ist im Hinblick auf das Brückenproblem von enormer Bedeutung, was gleichermaßen<br />

auf die Initiierung des Unterrichts, in diesem Fall also auf die Konfrontation mit dem Konflikt<br />

zutrifft. Darüber hinaus wird auf diese Weise ein induktives Vorgehen – wie im vorherigen<br />

Kapitel an verschiedenen Stellen empfohlen – praktiziert.<br />

Der Konfrontation mit einer Anforderungssituation wird im Zuge eines horizontalen Lerntransfers<br />

eine außerordentlich kompetenzorientierte Wirkung zugesprochen, weil sie bestenfalls<br />

einen eigendynamischen Bewältigungsprozess in Gang setzt (May 2014: 128). 8 Eine bei den<br />

Schülern evozierte Irritation oder persönliche Betroffenheit führt demnach zu einer strukturierten<br />

Bearbeitung der Anforderungssituation. Der Bericht eines Augenzeugen mit einer anschließenden<br />

Befragung durch die Schüler bietet zum einen eine besonders eindrucksvolle und authentische<br />

Konfrontation mit dem Konflikt, zum anderen werden die Schüler in die Lage versetzt,<br />

ihre lebensweltlichen Vorstellungen und ihr Vorwissen unmittelbar einzubringen (Reeb<br />

2014: 129). Hierbei sollte die Lehrperson zunächst noch zurückhaltend agieren und die Moderation<br />

der Befragung einem Schüler bzw. einer Schülerin übertragen. Als Experte ist im vorliegenden<br />

Beispiel ein deutscher Soldat vorgesehen, weil dieser in der Lage ist, neben der allgemeinen<br />

Situation am Ort des Konflikts insbesondere die Gefahr für Leib und Leben, die mit<br />

einem militärischen Konflikt verbunden ist, auf einer ganz individuellen Ebene sowie aus einer<br />

aktiven und passiven Haltung heraus zu beschreiben. Von diesem letzteren Aspekt abgesehen<br />

wäre natürlich auch ein Entwicklungshelfer oder jede andere Person mit unmittelbaren Erfahrungen<br />

in Afghanistan geeignet.<br />

Der Konfrontation folgt die Analyse des Konflikts in arbeitsteiliger Gruppenarbeit – als<br />

Sozialform in der relevanten Literatur nahezu einhellig empfohlen (Reeb 2014: 130; Reinhardt<br />

2009: 89; Dietz 2011: 46f.) – anhand von Kategorien bzw. Leitfragen. Die Auswahl von Kategorien<br />

richtet sich auch nach Verfügbarkeit und Beschaffenheit der Materialien, deren Komplexität<br />

die Schüler nicht überfordern darf. Aus genannten Gründen sollten die beiden zentralen<br />

Kategorien Macht und Recht in jedem Falle berücksichtigt werden. Im Übrigen wirkt sich der<br />

Umfang der Analyse erheblich auf den Zeitansatz aus, sodass aus diesem Grund gleichermaßen<br />

Reduktionsentscheidungen unerlässlich sind. Inhaltlich verfolgt die Analyse zunächst das Ziel,<br />

gänzlich anderen Zuschnitts zum Syrienkonflikt mit den Phasen Einstieg, Problematisierung, Vertiefung<br />

und Aktion für die Sekundarstufe II wird als Projektveranstaltung empfohlen (Reeb 2014: 128f).<br />

7<br />

Man denke an Ereignisse aus dem Jahr 2009 wie etwa das Tanklasterbombardement bei Kunduz<br />

und seine innenpolitischen Folgen oder an den Ausspruch ”Nichts ist gut in Afghanistan” in einer<br />

Predigt der damaligen Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland, Margot Käßmann.<br />

8<br />

Die Unterscheidung vertikaler/horizontaler Lerntransfer ist angelehnt an den Schulpädagogen Rainer<br />

Lersch, der sich seinerseits auf Franz Weinert beruft und i.Ü. den lateralen und reflexiven Lerntransfer<br />

erwähnt (Lersch 2010: 6). Lersch spricht neben Anforderungs- auch von Performanz- bzw.<br />

Anwendungssituationen (Lersch 2010: 7).<br />

71


Bedingungsfaktoren des Konflikts sichtbar zu machen. Die Besonderheit des afghanischen Falles<br />

besteht darin, dass seine konfliktreiche Geschichte wiederholt durch das Eingreifen (Invasion<br />

bzw. Intervention) anderer Staaten gekennzeichnet war, die dabei primär Partikularinteressen<br />

verfolgten. Als Konsequenz dessen ist die innerstaatliche Ordnung des multiethnisch<br />

geprägten Landes erodiert, was zu einer Vielfalt an sozialen und wirtschaftlichen Problemen<br />

geführt hat. Aus dieser Problemlage ist die gegenwärtige Konfliktpartei der religiös-fundamentalistischen<br />

Taliban erst erwachsen (Rashid 2010: 38). Die Menschenrechtslage war für die Zivilbevölkerung<br />

unter der Taliban-Herrschaft prekär (Rashid 2010: 172), leidet aber auch unter<br />

dem anhaltenden Konflikt und der internationalen Truppenpräsenz der International Security<br />

Assistance Force (ISAF), wo immer diese in Anwendung militärischer Gewalt nicht klar zwischen<br />

Freund und Feind unterscheiden kann. Völkerrechtlich ist deren Einsatz unter Führung<br />

der NATO durch ein VN-Mandat legitimiert. Für die Lehrkraft gilt es darüber hinaus zu beachten,<br />

dass bei der Analyse Aspekte thematisiert werden, die im Rahmen der späteren Generalisierung<br />

wieder aufgegriffen werden können.<br />

Aus der Kombination von Expertenbefragung und Analyse sollen die Schüler anschließend<br />

beurteilen, ob der Einsatz von ISAF sicherheitspolitisch (Sicherheit Deutschlands und seiner<br />

Verbündeten) und aus humanitären Gründen (Menschenrechtslage in Afghanistan) notwendig<br />

und sinnvoll ist oder aber lediglich zur Gewalteskalation beiträgt. Diese Frage wird zunächst<br />

Gegenstand der Hausaufgabe und dient der Vorbereitung der Stellungnahme zu Beginn der<br />

zweiten Doppelstunde. Da diese schließlich aus der Perspektive der einzelnen Arbeitsgruppen<br />

erfolgt, ist es möglich zu zeigen, dass in Abhängigkeit der jeweils fokussierten Analysekategorie<br />

die Urteile variieren können bzw. ein differenziertes Urteil nur bei entsprechender Berücksichtigung<br />

mehrerer Kategorien zustande kommt. Kombiniert mit der ersten Frage wird eine<br />

zweite, nämlich ob überhaupt eine Lösung für den Konflikt denkbar ist. Für beide Fragen ist<br />

eine Abstimmung durchzuführen, damit das zwischenzeitlich in der Klasse bestehende Meinungsbild<br />

nach dem folgenden Kontroversverfahren überprüft werden kann. Idealiter wird eine<br />

Wechselwirkung zwischen beiden Fragen insofern deutlich, als Urteile, die von einer Friedensmission<br />

ausgehen, mit einer positiven Einschätzung zur Lösung des Konflikts korrespondieren<br />

und umgekehrt. Als Ausgangspunkt des Kontroversverfahrens lässt sich auf der Grundlage der<br />

Stellungnahmen gemeinsam die These entwickeln, dass ein Abzug der NATO-Truppen den<br />

Konflikt beenden wird, zumal dies mittlerweile auch der politischen Entscheidung über das<br />

Ende der ISAF-Mission zum 31.12.2014 entspricht. Bis zu diesem Datum sollten die Kampftruppen<br />

der NATO abgezogen sein, unabhängig von der Nachfolgemission Resolute Support<br />

zur Unterstützung der afghanischen Sicherheitskräfte ab 2015, welche auch die Bundeswehr<br />

tangiert (Bundesregierung 2014).<br />

Im anschließenden Pro-Kontra-Streitgespräch sollen sich die Schüler zur angesprochenen<br />

These positionieren. In Verbindung mit einer Perspektivenübernahme sind die unterschiedlichen<br />

Auffassungen zum Sinn des NATO-Einsatzes in Afghanistan kontrovers zu bewerten und<br />

entsprechende Urteile simulativ und sachlich zu vertreten. Auf diese Weise wird nunmehr auch<br />

die Konfliktkompetenz trainiert. Für beide Seiten sind wiederum differenzierte Materialien bereitzustellen.<br />

Gegenüber der Analyse sollten hierbei auch neue Aspekte berücksichtigt werden.<br />

Dazu gehört die überwiegende Ablehnung von ISAF innerhalb der Bevölkerung westlicher<br />

Staaten vor dem Hintergrund ihrer demokratischen Beschaffenheit. Insbesondere schließt es<br />

72


das Ausmaß eigener militärischer Verluste an physisch und psychisch Verwundeten sowie Gefallenen<br />

ein, die hinsichtlich der Bundeswehr bislang nie so hoch waren wie in Afghanistan.<br />

Ob die verfolgten bzw. erreichten Ziele von ISAF solche Verluste wert waren oder sind, muss<br />

dabei ebenfalls beurteilt werden. Eine Kontrollfunktion nimmt im Kontroversverfahren die Beobachtergruppe<br />

wahr. Sie soll feststellen, welche der in den Materialien enthaltenen Argumente<br />

– oder auch zusätzliche – im Streitgespräch vernachlässigt wurden und welche Argumente besonders<br />

überzeugen können. Letzteres sollte sich auf die wiederholte Abstimmung auswirken,<br />

die eine Veränderung des klasseninternen Meinungsbildes veranschaulicht.<br />

Für die Generalisierung ist anschließend zunächst der Vergleich mit einem anderen aktuellen<br />

Konflikt notwendig, damit strukturelle Gemeinsamkeiten bzw. Unterschiede deutlich werden,<br />

welche die internationale Sicherheitspolitik charakterisieren. Die mit der Aktualität verbundene<br />

Medienpräsenz des Falles soll daneben einen schnellen Zugang erleichtern. Der Syrienkonflikt<br />

ist insofern ein gutes Beispiel, als hier trotz einer offensichtlichen katastrophalen<br />

humanitären Situation bisher keine Einigung im VN-Sicherheitsrat als völkerrechtliche Voraussetzung<br />

einer Militärintervention erfolgt ist (Reeb 2014: 125f.). Im Falle Afghanistans war dies<br />

unter ganz anderen Voraussetzungen nie fraglich. In diesem Zusammenhang kann also die Wirkung<br />

einzelstaatlicher Interessen auf Interventionsentscheidungen, wie etwa die seinerzeit als<br />

akute Bedrohung der eigenen Sicherheit wahrgenommene Terrorismusgefahr, verdeutlicht werden.<br />

Charakteristische Gemeinsamkeiten bestehen in der Asymmetrie der Konflikte und der<br />

Tatsache, dass es sich nicht um Konflikte zwischen souveränen Staaten handelt, die einem klassischen<br />

Kriegsbild entsprechen. Die entscheidende Frage der Generalisierung, unter welchen<br />

Voraussetzungen militärische Interventionen generell zulässig oder sinnvoll sind, ist einerseits<br />

wieder Gegenstand der politischen Urteilsbildung, wird jedoch andererseits zum Ende der zweiten<br />

Doppelstunde nicht abschließend zu beantworten sein. Darauf aufbauend kann sie allerdings<br />

eine weiterführende Unterrichtssequenz im Lernfeld der Sicherheitspolitik strukturieren, wobei<br />

sich das Brückenproblem bestenfalls nicht mehr im ursprünglichen Umfang darstellt. Mithin<br />

hätte das vorgestellte Unterrichtsbeispiel seinen Zweck erfüllt.<br />

Verlaufsschema<br />

Erste Doppelstunde<br />

73


Konfrontation Begegnung mit dem Afghanistan-Konflikt:<br />

Erlebnisbericht eines deutschen Offiziers im ISAF-<br />

Einsatz<br />

Expertenbefragung mit der erkenntnisleitenden Fragestellung:<br />

ISAF – Friedensmission oder Kriegseinsatz?<br />

Unterrichtsgespräch<br />

Vortrag/Computerpräsentation<br />

Konflikt-analyse<br />

Hausaufgabe<br />

Erarbeitung anhand Kategorien/Leitfragen:<br />

Konflikt: Wer kämpft gegen wen? (Regierung Karsai/NATO<br />

vs. Taliban)<br />

Konkretheit/Interesse: Worum wird konkret gekämpft/<br />

welche Interessen stehen dahinter? (Herrschaft/Sicherheit<br />

vs. Herrschaft/Glaube)<br />

Macht: Wer hat welche Möglichkeiten sich durchzusetzen?<br />

(Waffengewalt/symmetrisch vs. Untergrund/<br />

asymmetrisch)<br />

Geschichtlichkeit: Welche historischen Aspekte sind<br />

für den Konflikt wichtig? (Stationen der staatlichen<br />

Entwicklung seit 1979: Invasion der UdSSR, Unterstützung<br />

der Mudschaheddin durch USA, Taliban-<br />

Herrschaft, 11.09.2001)<br />

Recht/Menschenwürde: Welche völkerrechtlichen<br />

Rahmenbedingungen existieren/wessen Menschenwürde<br />

wird berührt? (VN-Mandat; Für wen gilt das<br />

Völkerrecht? Unterscheidung Kombattant/Zivilist)<br />

Präsentation:<br />

Die Arbeitsgruppen stellen nacheinander ihre jeweiligen<br />

Arbeitsergebnisse vor.<br />

Vorbereitung der Stellungnahme mit Begründung:<br />

- ISAF: Friedensmission oder Kriegseinsatz?<br />

- Gibt es eine Lösung für den Konflikt?<br />

Gruppenarbeit<br />

Texte aus Hecht/Müller<br />

2008 und Landeszentrale<br />

2009<br />

Infografiken aus Stiftung<br />

2011 (Arbeitsblätter)<br />

Zeitungsartikel (Tagespresse)<br />

Schülervorträge, Unterrichtsgespräch<br />

Projektor/Folien<br />

Schülerunterlagen<br />

Zweite Doppelstunde<br />

74


Stellungnahme<br />

Kontroversverfahren<br />

1 ”Blitzlicht” je Arbeitsgruppe mit Begründung:<br />

- ISAF: Friedensmission oder Kriegseinsatz?<br />

- Gibt es eine Lösung für den Konflikt?<br />

Gemeinsame Entwicklung einer These als Diskussionsgrundlage<br />

mit anschließender Abstimmung (Pro und<br />

Kontra):<br />

Ein vollständiger Abzug der NATO aus Afghanistan wird<br />

den internationalen Konflikt beenden!<br />

Vorbereitung:<br />

Einteilung in Pro-, Kontra- und Beobachtergruppe und<br />

Sammeln der Argumente<br />

Pro: Zunahme ziviler Opfer und militärischer Verluste;<br />

Umgang mit Gefallenen und posttraumatischen Belastungstörungen;<br />

fehlende oder falsche Strategie; finanzieller<br />

Aufwand für Militär höher als für zivile Maßnahmen;<br />

Ablehnende Haltung der Bevölkerung<br />

Kontra: Terrorismusgefahr, Drogenanbau, regionale Stabilität;<br />

erreichte Erfolge durch militärischen Schutz in<br />

puncto Verwaltung, Schulbildung, Rechtstaatlichkeit,<br />

wirtschaftlicher Entwicklung; Schutz für zivile Hilfsmaßnahmen<br />

Streitgespräch:<br />

Festgelegter Ablauf mit Rednern und ”Einflüsterern” auf<br />

beiden Seiten<br />

Beobachter sammeln Argumente beider Seiten (Welche<br />

Argumente sprechen generell für/gegen den Abzug der<br />

NATO?)<br />

Auswertung mit erneuter Abstimmung:<br />

Welche denkbaren Argumente wurden vergessen? (Beobachter)<br />

Was waren jeweils die stärksten Argumente beider Seiten?<br />

(Beobachter)<br />

Sind Veränderungen im Abstimmungsergebnis erkennbar/aus<br />

welchen Gründen?<br />

Schülervorträge<br />

Unterrichtsgespräch<br />

Tafel<br />

Gruppenarbeit<br />

Texte aus Stiftung<br />

2011 (Lehrerhandreichung)<br />

und Jäger<br />

2010<br />

Infografiken aus<br />

Stiftung 2011<br />

(Schülermagazin)<br />

Zeitungsartikel (Tagespresse)<br />

Diskussion<br />

Tafel<br />

Unterrichtsgespräch<br />

75


Generalisierung<br />

Vergleich mit einem anderen aktuellen Konflikt:<br />

Diskussion um mögliche Intervention in Syrien<br />

Welche Unterschiede/Gemeinsamkeiten bestehen zwischen<br />

den Konflikten in Afghanistan (Konflikt erst durch<br />

Intervention) und Syrien (innerstaatlicher Konflikt/Bürgerkrieg)?<br />

(asymmetrische Konflikte, Konsens im Sicherheitsrat,<br />

divergierende Interessen der Einzelstaaten)<br />

Stellt eine militärische Intervention in Syrien eine mögliche<br />

Lösung des Konflikts dar?<br />

Wann sind militärische Interventionen generell zulässig<br />

oder sinnvoll?<br />

Aktuelle Pressemeldungen<br />

Partnerarbeit<br />

Unterrichtsgespräch<br />

Schluss<br />

Die Relevanz sicherheitspolitischer Themen im Sozialkundeunterricht sollte seit den weltpolitischen<br />

Umbrüchen um die Jahrtausendwende nicht mehr umstritten sein. Dafür mögen nicht<br />

zuletzt die jüngsten Ereignisse des Jahres 2014 in der Ukraine, in Israel, in Syrien und im Irak<br />

ein eindrucksvolles Zeugnis ablegen. Gegenüber einer für lange Zeit noch dominierenden Friedenspädagogik<br />

und ihren eher idealistischen und pazifistischen Ansätzen scheint sich mittlerweile<br />

in der politischen Bildung das Modell einer Sicherheitspädagogik etabliert zu haben.<br />

Diese berücksichtigt differenziert Strukturen, Prozesse und Akteure der internationalen Politik<br />

und greift auf Perspektiven der Friedens- und Konfliktforschung bzw. der Internationalen Beziehungen<br />

zurück. Weder wird sich die Bundesrepublik Deutschland aufgrund ihrer internationalen<br />

Verpflichtungen und Interessen aus den weltweiten Konflikten heraushalten können,<br />

noch wird ein eigenes militärisches Engagement dabei ausgeschlossen sein. Vor diesem Hintergrund<br />

muss der politisch mündige Bürger im demokratischen Staat sich entsprechend informieren<br />

und positionieren können, um sich an entsprechenden Debatten zu beteiligen.<br />

Der wesentliche Beitrag, den politische Bildung und Sozialkundeunterricht diesbezüglich<br />

zu leisten haben, besteht mithin darin, Schüler zu einer eigenständigen rationalen Urteilsbildung<br />

zu befähigen. Indem sie erkennen, dass sich die internationalen Verpflichtungen und Interessen<br />

Deutschlands auch auf ihre Lebenswelt auswirken, ist eine Brücke zur makropolitischen Ebene<br />

möglich. Dessen ungeachtet ergibt sich eine Lösung des Brückenproblems aus einer Strukturierung<br />

des Unterrichts, die an das Vorwissen der Schüler anknüpft – und darauf lag der Fokus<br />

der vorliegenden Arbeit. Besondere Berücksichtigung verdienen dabei die Basiskonzepte<br />

Macht und Recht. Die methodischen Vorschläge zur Analyse von Konflikten, die hier erörtert<br />

wurden, ähneln sich insofern, als sie neben einem induktiven Vorgehen anhand konkreter Beispiele<br />

jeweils Phasen der Initiierung (Konfrontation), Problematisierung (Analyse) und Generalisierung<br />

(Kernzone des Politischen) aufweisen. Die beiden zusätzlichen Schritte der Konfliktanalyse<br />

(Stellungnahme und Kontroversverfahren) sind ein wirkungsvolles Bindeglied<br />

zwischen den anderen Phasen und tragen zusätzlich zum Üben der rationalen Urteilsbildung<br />

bei.<br />

Mein eigenes Unterrichtsbeispiel ist im Übrigen durch die besondere Gestaltung der Konfrontationsphase<br />

als Expertenbefragung und im weiteren Verlauf durch die Problematisierung<br />

76


der Militärintervention als Instrument der Sicherheitspolitik gekennzeichnet. Während also einerseits<br />

persönliche Betroffenheit und Authentizität als spezifische Reaktion auf das Brückenproblem<br />

thematisiert werden, ist es andererseits die Erweiterung der Anforderungssituation als<br />

eine politische Entscheidungssituation, die eine Urteilsbildung auf Grundlage der Kriterien Effektivität<br />

(Macht) und Legitimität (Völkerrecht) im Unterricht unausweichlich macht. In Verbindung<br />

mit der Einsicht, dass dabei keine einfachen bzw. eindeutig richtigen Lösungen existieren,<br />

sollte davon die weiterführende Unterrichtsgestaltung im Umgang mit zumindest einer<br />

Antinomie des Lehrerhandelns profitieren können.<br />

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93.<br />

Persönliche Stellungnahme des Autors<br />

Ich hatte im Verlauf meines Studiums der Politikdidaktik festgestellt, dass die Außenund<br />

Sicherheitspolitik - auch und gerade, wenn es um unterrichtspraktische Beispiele<br />

für den Sozialkundeunterricht geht - ein wenig "stiefmütterlich" behandelt wurde. Auf<br />

der anderen Seite waren die Internationalen Beziehungen ein Schwerpunkt meines<br />

fachwissenschaftlichen Studiums, darüber hinaus verdanke ich meiner beruflichen<br />

Vergangenheit als Bundeswehroffizier konkrete und praktische Erfahrungen in diesem<br />

Metier. Insofern habe ich im Zuge der vorliegenden Arbeit gerne die Gelegenheit genutzt<br />

unter der Zielvorgabe des politikdidaktischen Seminars (Antinomie des Brückenproblems)<br />

das von mir identifizierte Defizit in der Politikdidaktik (Vernachlässigung<br />

der Außen- und Sicherheitspolitik im Allgemeinen sowie der Bundeswehr im Besonderen)<br />

mit meinen im Studium gewonnenen Erkenntnissen (IB) und meinen Erfahrungen<br />

als Soldat (u.a. in Afghanistan) zu verknüpfen.<br />

Tatsächlich habe ich keine besondere Methode wie Diskursanalyse o.ä. angewandt,<br />

sondern mich eines gängigen Vorgehens der Politikdidaktik bedient: analytische Erörterung<br />

des didaktischen Dreiecks Ziele-Inhalt-Methoden unter dem Aspekt der Themenstellung,<br />

gefolgt von der Präsentation eines Unterrichtsbeispiels, das sich an den<br />

begründeten Erörterungen messen lässt.<br />

Mehr Außen- und Sicherheitspolitik im Sozialkundeunterricht, mehr Zusammenarbeit<br />

zwischen IB und Politikdidaktik!<br />

80


(Regionale) Innovation und die Bedeutung von Sozialkapital in NUTS-<br />

I-Regionen Europas (Literaturbericht)<br />

Reinhold Melcher<br />

Literaturbericht: Zum Einfluss regionaler Faktoren auf Innovationsprozesse<br />

Einleitung<br />

Der vorliegende Literaturbericht thematisiert folgende Fragstellung: Warum variiert regionale<br />

Innovation? Für Industriegesellschaften sind Innovationsprozesse von besonderer Bedeutung,<br />

um auf den globalen Märkten wettbewerbsfähig zu bleiben. Innovation im Sinne von Prozessund<br />

Produktinnovation kann nicht ausschließlich auf die nationalstaatliche Ebene reduziert<br />

werden. Abhängig von der Region und dem Wissenschaftssektor existieren auf subnationaler<br />

Ebene sehr unterschiedliche Innovationsoutputs (Fritsch/Graf 2011: 348; Rodriguez-Pose/Crescenzi<br />

2008: 63). Der Politik kommt bei der Förderung von Innovation dabei eine bedeutende<br />

Rolle – insbesondere durch Förderung von Forschungsprojekten, Cross-Firm-Interaktionen<br />

und dem Ausbau der regionalen Infrastruktur (Asheim/Coenen 2005: 1186; Fritsch/Franke<br />

2004: 246; Muller/Zenker 2001: 1514) – zu. Aber nur wenn klar ist, welche Faktoren innovative<br />

Prozesse fördern und warum Innovation auf regionaler Ebene variiert, können Aussagen<br />

zur Rolle und Bedeutung von Politik bei der Förderung von Innovation getroffen werden.<br />

Der Literaturbericht reflektiert im ersten Schritt theoretische (Erklärungs-)Ansätze zu Innovationsprozessen<br />

primär aus der Ökonomie und Wirtschaftsgeographie. Im Vordergrund stehen<br />

die kritische Betrachtung der Grundannahmen und die Frage nach deren Eignung zur Erklärung<br />

innovativer Prozesse auf regionaler Ebene. Es wird argumentiert, dass der bisherige<br />

Schwerpunkt der Forschung zu (regionaler) Innovation, der sich in erster Linie auf den Ansatz<br />

der regionalen (RIS) Innovationssysteme konzentrierte, durch den Ansatz der „Learning Regions“<br />

ergänzt werden sollte. Insbesondere die Rolle des sozialen Kapitals bleibt weitgehend<br />

unbedacht und unerforscht. In einem zweiten Schritt werden – anschließend an die jeweiligen<br />

Erklärungsansätze – empirische Befunde der Forschung präsentiert. Im letzten Punkt wird auf<br />

offene Fragen und Ansatzpunkte für weiterführende Forschung eingegangen.<br />

81


Theorien und Ansätze im Zusammenhang mit Innovationsprozessen<br />

Der bisherige Fokus von Innovationsunterschieden: Sektoren und Nationen<br />

Sektorale Innovationssysteme (SIS)<br />

Sektorale Innovationssysteme konzentrieren sich auf Innovationsprozesse in spezifischen<br />

Wirtschafts- und Wissenschaftssektoren (Malerba 2002: 247). All jene Organisationen, Institutionen,<br />

Prozesse und Akteure sind dabei relevant, die entscheidend den Innovationsoutput<br />

des jeweiligen Sektors beeinflussen (Bruland/Mowery 2005: 372). Das können neben Firmen<br />

auch Universitäten, öffentliche Einrichtungen und Individuen etc. sein (Malerba 2002: 250,<br />

2005: 386). Regionale Einflussfaktoren spielen nur dann eine Rolle, wenn der Innovationsoutput<br />

im gleichen Sektor – bspw. in der Biotechnologie (Niosi 2011: 1798) – zwischen Regionen<br />

differiert. Das bedeutet allerdings, dass Unterschiede im regionalen Innovationsoutput nur für<br />

bestimme Sektoren und nur wenige Regionen erklärt werden können. Untersuchungen zum<br />

Einfluss regionaler Faktoren auf den generellen Innovationsoutput einer Region sind mit der<br />

theoretischen Grundlage der SIS nicht möglich. Es gilt hier allerdings anzumerken, dass Regionen<br />

natürlicherweise auf gewisse Sektoren spezialisiert sind (Hilpert 2003: 31) (bspw. Silicon<br />

Valley in den USA auf IT-Technologie), was auch einen erhöhten Innovationsoutput im spezialisierten<br />

Sektor bedingt. Das bedeutet allerdings nicht, dass Regionen auch in anderen Bereichen<br />

innovativ sein können. Vielmehr zeigt sich, dass spezialisierte Regionen auch in anderen<br />

Wissenschaftssektoren als nur im spezialisierten Bereich einen erhöhten Innovationoutput<br />

aufweisen. Daher ist davon auszugehen, dass nicht nur sektorspezifische Faktoren für regionale<br />

Innovationsunterschiede verantwortlich sind.<br />

Unabhängig davon werden Innovationsprozesse im SIS weitgehend losgelöst von politischen<br />

Einflussmöglichkeiten auf innovative Prozesse und unabhängig von der (regionalen) politischen<br />

Ebene (Coenen/López 2010: 1155) betrachtet. Der Fokus des Ansatzes verdeutlicht,<br />

dass das Erklärungspotenzial der sektoralen Innovationssysteme für ebenenspezifische Betrachtungen<br />

(regional, national etc.) nur bedingt und zur Erklärung von (generellen) regionalen<br />

Innovationsunterschieden wenig geeignet ist.<br />

Ein kurzer Exkurs zu nationalen Innovationssystemen (NIS)<br />

Auch wenn der Ansatz der nationalen Innovationssysteme nicht zur Erklärung regionaler Unterschiede<br />

gedacht ist, so soll er aufgrund der Ähnlichkeit zum RIS-Ansatz (siehe nächster<br />

Abschnitt) kurz erläutert werden. Nationale Innovationssysteme sind sektoralen Innovationssystemen<br />

in vielerlei Hinsicht vergleichbar. Ähnlich wie der SIS-Ansatz fokussieren nationale<br />

Innovationssysteme auf diejenigen Akteure, Organisationen, Institutionen und Prozesse, die<br />

den Innovationsoutput beeinflussen (Edquist 2005: 181). Und ebenso wie der SIS-Ansatz spielen<br />

vornehmlich Unternehmen und Forschungseinrichtungen eine wichtige Rolle (Edquist<br />

2005; Freeman 1995: 14). Aber im Unterschied zu sektoralen Innovationssystemen liegt der<br />

Fokus des NIS-Ansatzes auf der nationalen Ebene und ist zudem nicht an einen bestimmten<br />

Wirtschaftssektor gekoppelt (Cooke et al. 1997: 478).<br />

Das Innovationspotenzial der Nationalökonomie hängt dem NIS-Ansatz zufolge von der<br />

wechselseitigen Kooperation von Akteuren des Wissensgenerierungssystems und Akteuren<br />

82


des Wissensanwendungssystems ab. Während das Wissensgenerierungssystem Forschungseinrichtungen<br />

wie Universitäten und Institute des öffentlichen und privaten Sektors umfasst,<br />

beinhaltet das Wissensgenerierungssystem Unternehmen und Firmen aus dem industriellen<br />

Sektor (Cooke et al. 1997: 477-478; Sternberg/Arndt 2001). Die Rolle der (nationalen) Politik<br />

beschränkt sich hierbei vor allem auf die (zumeist finanzielle) Förderung von Forschung und<br />

Entwicklung (F&E) (Edquist 2005).<br />

Erklärungsansätze mit explizit regionalem Fokus auf Innovationsunterschiede<br />

Der (etablierte) Ansatz der regionalen Innovationssysteme (RIS)<br />

Innovation, so lautet die Annahme des RIS-Ansatzes, nimmt vor allem eine regionale Ausprägung<br />

an (Uyarra 2010: 116). So zeigen sich Unterschiede im Innovationsoutput eher zwischen<br />

der regionalen und weniger auf der nationalen Ebene (Asheim et al. 2011: 877-880). Der Regionalpolitik<br />

kommt insofern Bedeutung bei, als dass diese einerseits Kooperationsbeziehungen<br />

zwischen Firmen sowie zwischen Firmen sowie Forschungs- und Entwicklungsinstitutionen<br />

(F&E) fördert (Christopherson/Clark 2007: 1233; Doloreux/Parto 2004: 4) und andererseits<br />

regionale Innovationsakteure aus dem Wissensanwendungs- und Wissensgenerierungssystem<br />

mit globalen Akteuren und globalem Wissen verknüpft (Koschatzky/Sternberg 2000;<br />

Oughton et al. 2002: 98; Power/Malmberg 2008: 241). Der Beitrag von (regionaler) Politik<br />

zum Innovationsoutput einer Region besteht aber auch in der finanziellen Bezuschussung und<br />

Subventionierung von innovierenden und Forschung betreibenden Einrichtungen wie die bereits<br />

erwähnten Hochschulen und Institute (Acs et al. 2002: 1070; Power/Malmberg 2008:<br />

241).<br />

Interregionale Unterschiede im Innovationsoutput beruhen den empirischen Ergebnissen<br />

von Studien zum RIS-Ansatz zufolge auf drei wesentlichen Faktoren. Erstens scheint der Kontakt<br />

von regionalen Akteuren (Wissensanwendung und Wissensgenerierung) mit externen<br />

Netzwerken mit einem erhöhten Innovationsoutput zu korrelieren (Cantwell/Iammarino 2000:<br />

328; Koschatzky/Sternberg 2000: 489-491). Das bedeutet, dass eine starke überregionale Vernetzung<br />

sich positiv auf regionale Innovationsprozesse auswirkt. So scheinen Unterschiede in<br />

der Innovationsleistung (u.a.) auf der unterschiedlich starken Vernetzung von regionalen mit<br />

externen Akteuren zu beruhen. Zweitens legen die empirischen Ergebnisse den Schluss nahe,<br />

dass der sozio-ökonomische Kontext ebenfalls hohen Einfluss auf die Innovationsfähigkeit<br />

einer Region ausübt (Bruijn/Lagendijk 2005: 1170; Cooke et al. 1997: 481). Mit dem sozioökonomischen<br />

Kontext sind drei Elemente gemeint: das Bildungsniveau und die qualifizierte<br />

(produktive) Anstellung des Humankapitals sowie die demographische Struktur einer Region<br />

(Rodriguez-Pose/Crescenzi 2008: 56). Zeichnet sich eine Region durch hohe Leistungswerte<br />

der drei Elemente aus (hohes Bildungsniveau und produktive Anstellung des Humankapitals<br />

und eine junge Bevölkerung), so ist – ceteris paribus – der Innovationsoutput im Vergleich zu<br />

Regionen mit schlechteren Werten höher (Bruijn/Lagendijk 2005: 1170; Rodriguez-Pose/Crescenzi<br />

2008: 63). Der Innovationsoutput einer Region hängt schließlich von der Struktur des<br />

Wissensanwendungs- und Wissensgenerierungssystems ab. Sind in der Region viele F&D-<br />

83


etreibende Unternehmen und Forschungseinrichtungen angesiedelt, so ist auch die Innovationskraft<br />

der Region entsprechend höher als bei einem Fehlen dieser Institutionen (Asheim/Coenen<br />

2005: 1186; Cooke 2003: 376; Prange 2008: 40).<br />

Aber warum variiert regionale Innovationsaktivität, obgleich der sozio-ökonomische Kontext<br />

ähnlich ist und F&E-Einrichtungen und Unternehmen vorhanden sind? Warum wirken<br />

sich eine gute sozio-ökonomische Situation und viele Unternehmen und Forschungseinrichtungen<br />

überhaupt positiv auf den Innovationsoutput aus? An dieser Stelle bietet der RIS-Ansatz<br />

keine tiefgreifenden sozialwissenschaftlichen Erklärungen, da relevante Faktoren unzureichend<br />

theoretisch aufgearbeitet sind. Ein Defizit, das durch den Learning-Region-Ansatz<br />

teilweise kompensiert wird.<br />

Der weniger beachtete (aber elaboriertere) Ansatz der Learning Regions<br />

Vergleichbar zum Ansatz der regionalen Innovationssysteme liegt der Fokus der Betrachtung<br />

beim Learning-Region-Ansatz auf der regionalen Ebene. Im Gegensatz zu den bisher betrachteten<br />

Ansätzen ist der Ansatz der Learning Regions theoretisch ausgereifter, da wichtige Faktoren<br />

nicht nur benannt (wie bei SIS, NIS und RIS), sondern auch theoretisch-konzeptionell<br />

mit Innovationsprozessen verknüpft werden. Unterschiede im Innovationsoutput beruhen demzufolge<br />

nicht mehr auf technologischen Differenzen und Faktoren, da durch Globalisierungsprozesse<br />

Technologie weltweit verfügbar geworden ist. In einer wissensbasierten Gesellschaft<br />

– so die Annahme – beruhen die Unterschiede in der Innovationsentwicklung auf menschlichen<br />

Fähigkeiten mit Wissen als wichtigster Ressource und dem Lernen als wichtigstem Prozess<br />

(Morgan 1997: 493).<br />

Eingebettet in einen organisatorischen Kontext und organisatorische Routinen wandeln<br />

und entwickeln sich die persönlichen Fähigkeiten der Mitarbeiter und deren Wissen in firmenspezifische<br />

Kompetenzen, die als tacit knowledge bezeichnet werden (MacKinnon et al. 2002:<br />

301). Dieses implizite Wissen – so die weitere Annahme – steht in einer wechselseitigen Beziehung<br />

mit codified knowledge, also Wissen, das frei verfügbar und für jeden zugänglich ist<br />

(MacKinnon et al. 2002: 301f.; Powell/Grodal 2005: 74-75). Die Interaktions- und Umwandlungsprozesse<br />

führen zu einer Wissensspirale, die zu einem erhöhten Innovationsoutput führt.<br />

Diese Interaktionsprozesse finden innerhalb von Firmen aber auch zwischen verschiedenen<br />

Firmen statt. Der wechselseitige Austausch von tacit knowledge funktioniert allerdings nicht<br />

auf globaler Ebene im Gegensatz zu codified knowledge, da zum Transfer eine starke Face-To-<br />

Face-Kommunikation erforderlich ist (Powell/Grodal 2005: 75-77.). Aus dieser Annahme leitet<br />

der Ansatz seinen regionalen Bezug ab. Für die Übertragung von implizitem Wissen ist<br />

proximity zwischen Firmen – den Hauptakteuren von Innovation im Sinne von Prozess- und<br />

Produktinnovation – erforderlich (MacKinnon et al. 2002: 301). Die Aufgabe der Politik ist es,<br />

ähnlich deren Bedeutung im RIS-Ansatz, die Kontakte zwischen Firmen und den Wissensaustausch<br />

untereinander zu fördern (Propris 2002: 351).<br />

Empirische Studien im Zusammenhang mit dem Ansatz der Learning Regions führen Unterschiede<br />

im Innovationsoutput im Wesentlichen auf zwei Ursachen zurück. Propris und Benner<br />

kommen jeweils beide zum Ergebnis, dass mangelnde Cross-Firmen-Interaktionen das<br />

84


Innovationspotenzial hemmen können (Benner 2003; Propris 2002: 350). Je weniger die Firmen<br />

in einer Region miteinander interagieren, umso geringer ist deren Innovationsoutput, da<br />

der Austausch und die Umwandlung von tacit knowledge in nur geringem Maße gewährleistet<br />

ist. Ein weiterer Grund für Innovationsunterschiede liegt Morgan zufolge in der unterschiedlichen<br />

Ausprägungsstärke von Sozialkapital (Morgan 1997: 500; Putnam et al. 1993). Sozialkapital<br />

beschreibt dabei die soziale Vernetzung und das soziale Vertrauen von Individuen und<br />

– in deren Aggregation – auch räumliche Einheiten. Ist das Sozialkapital und soziale Vertrauen<br />

einer Region insgesamt schwach ausprägt, so ist die Kooperationsbereitschaft von Firmen eher<br />

gering (Benz/Fürst 2002: 25). Welche konkreten Auswirkungen das regionale Sozialkapital<br />

einer Region auf den Innovationsoutput hat, wurde bisher nur unzureichend empirisch untersucht.<br />

Empirisch gestützte Aussagen zum Einfluss des sozialen Kapitals sind daher kaum möglich,<br />

was ein wesentlicher Ansatzpunkt für weitere Forschung in diesem Bereich ist. Sollten<br />

auch sozialintegrative Faktoren wie das Sozialkapital Einfluss auf Innovationsprozesse haben,<br />

dann ergäben sich neue Möglichkeiten der Politik, Forschung und Entwicklung zu fördern.<br />

Zusammenfassung und Ausblick<br />

Der Literaturbericht reflektierte Ansätze zur Erklärung von Innovationsprozessen und prüfte<br />

deren Eignung zur Beantwortung der Ausgangsfrage. Im Laufe der Betrachtungen konnte der<br />

Ansatz der sektoralen Innovationssysteme ausgeschlossen werden, da dieser auf die regionale<br />

Ebene nur bedingt bezogen werden kann. Die beiden einzigen auf regionale Innovationsunterschiede<br />

konkret anwendbaren Ansätze waren der Ansatz der regionalen Innovationssysteme<br />

und der Ansatz der Learning Regions.<br />

Klassische Faktoren wie Unterschiede in der Unternehmensstruktur und in der Soziodemografie<br />

einer Region – wie sie der RIS-Ansatz beinhaltet – scheinen nur einen Teil von regionalen<br />

Innovationsunterschieden erklären zu können. Eine mögliche Ursache könnten die unterschiedlich<br />

intensiven Cross-Firmen-Interaktionen zwischen Unternehmen innerhalb und außerhalb<br />

einer Region sein. Kooperieren Firmen nicht oder nur wenig miteinander, so findet<br />

auch kein Austausch von tacit knowledge statt, was regionale Innovationsprozesse hemmt.<br />

Auch eine regional differierende Ausprägung von Sozialkapital käme als Erklärung in Frage.<br />

Sind das soziale Vertrauen und die soziale Vernetzung in einer Region nur schwach ausgeprägt,<br />

erschwert das Interfirmenkontakte und Kooperationen zwischen Forschungseinrichtungen und<br />

Unternehmen in einer Region. Die mangelnde Kooperation mindert den Austausch von Wissen<br />

und Know-How, was sich nachteilig auf Innovationsprozesse ausübt. Beide Erklärungsstränge<br />

sind im Learning-Region-Ansatz implementiert, doch bisher existieren nur sehr wenige Studien,<br />

die die Rolle von Sozialkapital und Cross-Firm-Interaktionen auf regionaler Ebene empirisch<br />

untersucht haben.<br />

Für Folgeforschung könnte dies allerdings ein Ansatzpunkt sein, um die Wirkung von Sozialkapital<br />

und Cross-Firmen-Interaktion auf den Innovationsoutput einer Region empirisch zu<br />

testen. Zweckmäßig wäre ein Design, das möglichst viele Faktoren wie die Soziodemografie<br />

konstant hält, um externe Einflüsse auf den Innovationsoutput zu kontrollieren. Sollte ein Einfluss<br />

gegeben sein, so hätte dies zwei Konsequenzen. Einerseits könnte man versuchen, den<br />

RIS-Ansatz und Ansatz der Learning Regions theoretisch-konzeptionell zu verbinden und zu<br />

einer sozialwissenschaftlichen Theorie auszubauen (die Ausführungen zu Erklärungsansätzen<br />

85


mit explizit regionalem Fokus). Anderseits ergäben sich für die Politik möglicherweise Policy-Alternativen,<br />

um Innovationsprozesse zu fördern.<br />

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88


(Regionale) Innovation und die Bedeutung von Sozialkapital in NUTS-<br />

I-Regionen Europas (Forschungsdesign)<br />

Sozialkapitel als Erklärung für Innovationsunterschiede?<br />

Für moderne Staaten und Industriegesellschaften sind Innovationsprozesse sehr bedeutsam, um<br />

auf globaler Ebene anschluss- und wettbewerbsfähig zu sein. Träger von Innovation sind vielfach<br />

nationalstaatlich geförderte Forschungseinrichtungen und Unternehmen. Die Rolle von<br />

Politik zur Förderung von Innovation ist deshalb besonders relevant, da sie für den Ausbau der<br />

grundlegenden Infrastruktur verantwortlich ist und insbesondere auch Forschungsgelder zur<br />

Verfügung stellt. Doch reichen Top-Down-Perspektiven aus, und genügt es, die Nationalstaatsebene<br />

zu betrachten, um Innovationsprozesse zu erklären? Die Forschungen im Bereich der<br />

Wirtschaftsgeographie und der Innovationsforschung weisen in die Richtung, dass Innovationsprozesse<br />

eher auf regionaler Ebene ablaufen (Fritsch/Graf 2011: 348; Rodriguez-Pose/Crescenzi<br />

2008: 63). Da die Stärke des Innovationsoutputs regional abhängig ist, ist es besonders<br />

wichtig, regionale Einflussfaktoren zu identifizieren, die sich förderlich auf Innovationsprozesse<br />

auswirken. In der Forschung zu Innovationsprozessen gelten vor allem infrastrukturelle<br />

und sozioökonomische Faktoren als besonders einflussreich. Trotz theoretisch-konzeptioneller<br />

Plausibilität, werden sozialstrukturelle Variablen bisher eher selten zur Erklärung von (regionalen)<br />

Innovationsprozessen herangezogen. Insbesondere dem Sozialkapital einer Region wird<br />

eine hohe Bedeutung bei der Begünstigung von Innovationsprozessen beigemessen (Fromhold-<br />

Eisebith 2004: 761; Lambooy 2010: 886-887; Lorenzen 2007: 813; Malecki 2012: 1033; Staber<br />

2007: 517). Sozialkapital definiert sich dabei über die Rolle sozialer Beziehung und sozialen<br />

Vertrauens (Putnam et al. 1993; Roßteutscher et al. 2008: 11). Regionen können sich danach<br />

unterscheiden, wie sehr sich die Mitmenschen untereinander vertrauen und wie stark das Netz<br />

sozialer Beziehungen ist. Es wird angenommen, dass sich Sozialkapital förderlich auf die Innovationsprozesse<br />

einer Region auswirkt (Malecki 2012: 1033) (dazu auch die Ausführungen<br />

zu Innovationstheorien und deren sozialstruktureller Erweiterung). Selbst größere Regionaleinheiten<br />

von NUTS-I-Niveau wurden bisher eher selten und mit teils widersprüchlichen Befunden<br />

betrachtet (Adam 2011: 415ff.). Das vorliegende Design versucht die unzureichende Operationalisierung<br />

vorangegangener Studien zu vermeiden (die Ausführungen zur Datenbasis sowie<br />

der Operationalisierung); es wird daher im Folgenden ein Design zu der Frage entwickelt:<br />

Hat Sozialkapital einen positiven Einfluss auf den Innovationsoutput in NUTS-I-Regionen?<br />

Die Relevanz der Untersuchung speist sich aus dem volkswirtschaftlichen und gesamtgesellschaftlichen<br />

Interesse, die Wettbewerbsfähigkeit durch Produkt- oder Prozessinnovationen aufrechtzuerhalten.<br />

Sollte die Untersuchung zum Ergebnis kommen, dass regionale Innovationsprozesse<br />

auch in NUTS-I-Regionen von der Ausprägung des Sozialkapitals abhängig sind, so<br />

sind genauere Aussagen zur Bedeutung von Regionalpolitik bei der Förderung von Innovation<br />

möglich (Asheim/Coenen 2005: 1186; Fritsch/Franke 2004: 246). Unterschiede im regionalen<br />

Innovationsoutput könnten dann auf unterschiedlich stark ausgeprägtes regionales Sozial-kapital<br />

zurückgeführt werden. Daraus ließen sich Konsequenzen zu alternativen Förderungsmöglichkeiten<br />

von Innovationsprozessen durch die Politik ableiten.<br />

89


Die folgenden Ausführungen sind wie folgt gegliedert: Im nächsten Abschnitt wird die<br />

Rolle von Sozialkapital für Innovationsprozesse theoretisch begründet und Sozialkapital konzeptualisiert;<br />

infolgedessen werden Hypothesen generiert, die die Untersuchung strukturieren<br />

sollen. Die Erläuterungen des methodischen Vorgehens werden die letzten Abschnitte einnehmen.<br />

Insbesondere werden dabei die Datenbasis und die Operationalisierung der zentralen Konstrukte<br />

erläutert. Die letzten Abschnitte beschäftigen sich mit der Fallauswahl und der Analyse<br />

der Daten.<br />

Innovationstheorien und deren sozialstrukturelle Erweiterung<br />

Learning Regions und die Bedeutung von tacit knowledge<br />

Laut des Learning-Regions-Ansatzes ist differierender Innovationsoutput nicht lediglich auf<br />

technologischen Unterschiede zurückzuführen. Durch Globalisierungsprozesse sind Technologie<br />

und Wissen weltweit verfügbar geworden (Morgan 1997: 493). Die zentrale Annahme ist<br />

die, dass in einer wissensbasierten Gesellschaft die Unterschiede in der Innovationsentwicklung<br />

auf menschlichen Fähigkeiten denn lediglich auf technologischer Überlegenheit beruhen. Die<br />

wichtigste Ressource von Innovation ist dabei Wissen und der wichtigste Prozess das Lernen<br />

(Morgan 1997: 493). Hauptakteur von Innovationsprozessen sind laut des Ansatzes der Learning<br />

Regions vor allem Unternehmen.<br />

Die Mitarbeiter von Firmen entwickeln spezifische Kompetenzen und Fähigkeiten in dem<br />

für jedem Unternehmen eigenen organisatorischen Kontext, was über einen bestimmten Zeitraum<br />

zu firmenspezifischem Wissen führt, was als tacit knowledge bezeichnet wird (MacKinnon<br />

et al. 2002: 301). Tacit knowledge ist eine besondere Form des Wissens, das nicht ohne<br />

Weiteres auf andere Firmen und Kontexte übertragbar ist, da es sich um Fähigkeiten und Kompetenzen<br />

handelt, die auf der Erfahrung der Firmenmitarbeiter beruhen. Dieses implizite Wissen,<br />

so die weitere Annahme, steht in einer wechselseitigen Beziehung mit codified knowledge,<br />

also Wissen, das frei verfügbar und für jeden zugänglich ist (Fagerberg et al. 2005: 75; MacKinnon<br />

et al. 2002: 301). Das tacit knowledge der Firmenmitarbeiter sorgt für eine bessere<br />

Verarbeitung von codified knowledge, was sich maßgeblich auf den Innovationsprozess eines<br />

Unternehmens auswirkt. Die Interaktions- und Umwandlungsprozesse zwischen den beiden<br />

Wissensarten führen zu einer Aufwärtsspirale, die zu einem erhöhten Innovationsoutput führt.<br />

Diese Interaktionsprozesse finden innerhalb von Firmen aber vor allem auch zwischen verschiedenen<br />

Firmen statt. Wichtig für innovative Prozesse ist dabei, dass ein Austausch von<br />

Wissen zwischen den Firmen stattfindet. Bei codified knowledge mag dies weltweit funktionieren,<br />

da diese Form des Wissens leicht komprimierbar und übertragbar ist. Der wechselseitige<br />

Austausch von tacit knowledge dagegen funktioniert nicht auf globaler Ebene, da zum Transfer<br />

eine starke Face-To-Face-Kommunikation erforderlich ist (Fagerberg et al. 2005: 75-77). Aus<br />

dieser Annahme leitet der Ansatz seinen regionalen Bezug ab. Für die Übertragung von implizitem<br />

Wissen ist proximity zwischen Firmen erforderlich (MacKinnon et al. 2002: 301). Die<br />

Aufgabe der Politik ist es, die Kontakte zwischen Firmen und den Wissensaustausch in einer<br />

Region untereinander zu fördern (Popris 2002: 351).<br />

Um regionale Unterschiede im Innovationsoutput mit dem Learning-Regions-Ansatz zu<br />

erklären, bedarf es der Identifizierung von Faktoren, die Einfluss auf den Austausch von tacit<br />

90


knowledge haben. Im Wesentlichen sind das einerseits Cross-Firmen-Interaktionen. Popris und<br />

Benner kommen jeweils beide zum Ergebnis, dass mangelnde Cross-Firmen-Interaktionen das<br />

Innovationspotenzial hemmen können (Benner 2003; Popris 2002). Je weniger die Firmen in<br />

einer Region miteinander interagieren, umso geringer ist deren Innovationsoutput, da der Austausch<br />

und die Umwandlung von tacit knowledge in nur geringem Maße gewährleistet ist. Andererseits<br />

spielt auch der regionale Fundus an sozialem Kapital eine erhebliche Rolle bei der<br />

Übertragung von Wissen (Morgan 1997; Lambooy 2010). Worum es sich dabei handelt und<br />

wie genau es wirkt, wird in den nächsten Abschnitten thematisiert.<br />

Worum handelt es sich beim Sozialkapital?<br />

Nach Putnam und Roßteutscher kann Sozialkapital in mehrfacher Hinsicht unterschieden werden<br />

(Putnam et al. 1993; Roßteutscher et al. 2008). Zum einen nach der Analyseebene. Geht es<br />

um das Sozialkapital von Individuen, so handelt es sich dabei um Beziehungskapital, das auf<br />

der Mikroebene zu verorten ist (Roßteutscher et al. 2008: 20). Werden stattdessen Makroeinheiten<br />

wie Staaten oder Regionen betrachtet, dann handelt es sich nicht mehr um Beziehungs-,<br />

sondern um Systemkapital (Roßteutscher et al. 2008: 20-21). Neben der Unterscheidung nach<br />

Analyseebenen kann beiderseits zwischen der strukturellen und kulturellen Ebene differenziert<br />

werden. Strukturelles Beziehungskapital beschreibt dabei das Ausmaß an individuellen sozialen<br />

Beziehungen mit anderen Menschen; das kulturelle Beziehungskapital bezeichnet dagegen<br />

den Grad an sozialem Vertrauen in seine Mitmenschen und die individuelle Ausprägung<br />

gemeinschaftsbezogener Werte und Normen (Roßteutscher et al. 2008: 22). In gleicher Weise<br />

beschreibt das strukturelle Systemkapital die ortbezogene Vereinsdichte und vorhandene soziale<br />

Netzwerkstrukturen (Roßteutscher et al. 2008: 22). Das kulturelle Systemkapital<br />

schließlich beinhaltet den ortsbezogenen gesellschaftlichen Fundus an sozialem Vertrauen und<br />

den Grad gesellschaftlicher Diffusion gemeinschaftsbezogener Werte und Normen (Roßteutscher<br />

et al. 2008: 22). In diesem Zusammenhang wird auch vom doppelten Doppelcharakter<br />

des Sozialkapitals gesprochen.<br />

Untersuchungen zur Rolle von Sozialkapital auf Innovationsprozesse können sich sowohl<br />

mit Beziehungskapital als auch mit Systemkapital beschäftigen. Bei ersterem geht es um die<br />

Frage, welche Bedeutung individuelles Sozialkapital für Personen in Forschungseinrichtungen<br />

und Firmen hat. Letzteres ist relevant, wenn es um den regionalen Innovationsoutput und den<br />

moderierenden Einfluss von Sozialkapital geht. Aufgrund der Fragestellung wird im Folgenden<br />

nur das Systemkapital betrachtet.<br />

Der fördernde Einfluss des Sozialkapitals<br />

Welche Rolle spielt nun Sozialkapital im Learning-Region-Ansatz? Sozialkapital, so die Annahme,<br />

wirkt sich insbesondere auf den Austausch von tacit-knowledge innerhalb und zwischen<br />

Firmen positiv aus, da das höhere interpersonelle Vertrauen und die stärker ausgeprägten sozialen<br />

Beziehungen Transaktionskosten reduzieren (Fromhold-Eisebith 2004: 752; Kallio et al.<br />

2010: 305; Tura/Harmaakorpi 2005: 1118). Der interregionale Austausch von codified und v.a.<br />

91


tacit knowledge zwischen Firmen wird erleichtert, was Interaktionsprozesse verstärkt und zu<br />

einem erhöhten Innovationsoutput führt (Lambooy 2010: 886; Lorenzen 2007: 805-807.).<br />

Problematisch an der bisherigen empirischen Forschung zu Sozialkapital sind die z.T. mangelnde<br />

Konzeptualisierung und theoretische Differenzierung sowie die damit einhergehenden<br />

Operationalisierungsdefizite (Adam 2011: 422). Beispielsweise wird Sozialkapital in manchen<br />

Studien synonym mit sozialem Vertrauen verwendet und die soziale Involvierung (strukturelles<br />

Systemkapital) nicht beachtet (Akçomak/Weel 2009). Auch der umgekehrte Fall, der Fokus auf<br />

lediglich Vereinsdichte oder Vereinsmitgliedschaft und die Missachtung von gesellschaftlichem<br />

sozialem Vertrauen (kulturelles Systemkapital), ist vorgekommen (Laursen et al. 2012).<br />

Um den Einfluss von Sozialkapital angemessen überprüfen zu können, ist aber beides zwingend<br />

zu berücksichtigen. Die widersprüchlichen Befunde zum Einfluss von Sozial-kapital sind wahrscheinlich<br />

auf eine unzureichende Konzeptspezifikation und Operationalisierung zurückzuführen.<br />

Während empirische Studien von Akçomak, Dominics und Rutten zum Ergebnis kommen,<br />

dass ein hoher gesellschaftlicher Fundus an sozialem Vertrauen einen positiven Einfluss auf<br />

regionalen Innovationsoutput hat (Akçomak/Weel 2007: 21, 2009: 562; Dominicis et al. 2013:<br />

16-18; Rutten/Gelissen 2010: 936), konnten Untersuchungen von Hauser, Blume u.a. die Ergebnisse<br />

nicht replizieren (Barrutia/Echebarria 2010: 10-11; Beugelsdijk/van Schaik 2005:<br />

320-322; Blume/Sack 2008: 241; Hauser et al. 2007: 83; Kaasa 2009: 228). In gleicher Weise<br />

widersprüchlich sind die Befunde zur Rolle des strukturellen Systemkapitals (Vereinsmitgliedschaften).<br />

Auch hier kommen einige empirische Studien zum Ergebnis, dass Vereinsdichte und<br />

hohe Vereinsmitgliedschaften positiven Einfluss auf den Innovationsoutput einer Region haben<br />

(Beugelsdijk/van Schaik 2005: 320; Hauser et al. 2007: 83f.). Bei Studien von Blume und Rutten<br />

zeigen sich wiederum keine Effekte (Blume/Sack 2008: 241; Rutten/Gelissen 2010: 936).<br />

Damit das Konzept des Sozialkapitals angemessen verwendet wird, werden beide Teilaspekte<br />

des Systemkapitals – kulturelles und strukturelles – Teil der empirischen Überprüfung<br />

sein. Ein Umstand, der bei vorangegangenen Untersuchungen nicht berücksichtigt wurde. Es<br />

wird angenommen, dass das strukturelle Systemkapital einer Region einen positiven Einfluss<br />

auf den Innovationsoutput hat, da Vereinsmitgliedschaften Kontakte zwischen Firmenmitarbeitern<br />

ermöglichen und der Austausch von tacit- und codified knowledge erleichtert wird:<br />

H1: Je stärker die Ausprägung des strukturellen Systemkapitals einer Region, desto größer<br />

ist deren Innovationsoutput.<br />

In gleicher Weise wird angenommen, dass sich auch kulturelles Systemkapital positiv auf<br />

den regionalen Innovationsoutput auswirkt, da durch erhöhtes soziales Vertrauen das interpersonelle<br />

Vertrauen zwischen Firmenmitarbeitern gestärkt und abermals der Austausch von Wissen<br />

zwischen Unternehmen einer Region gefördert wird. Die verringerten Transaktionskosten<br />

bezüglich des Wissenstransfers zwischen Unternehmen sollten in einem erhöhten Innovationsoutput<br />

der Unternehmen in einer Region münden, was sich an einem höheren regionalen Innovationsoutput<br />

im Vergleich zu Regionen mit geringem kulturellem Sozialkapital zeigen sollte:<br />

H2: Je stärker die Ausprägung des kulturellen Systemkapitals einer Region, desto größer<br />

ist deren Innovationsoutput.<br />

92


Datenbasis und Operationalisierung<br />

Die abhängige Variable, der Innovationsoutput einer Region, wird über Patentanmeldungen<br />

operationalisiert. Da sich NUTS-I-Regionen von der Bevölkerungsgröße her unterscheiden,<br />

muss eine relationale Variable zur Operationalisierung verwendet werden, da sonst die Größe<br />

der Region intervenierend auf das (angenommene) Kausalverhältnis wirkt. Zu diesem Zweck<br />

wird der Quotient aus Patentanmeldungen und Bevölkerungsgröße gebildet und mit 1000 multipliziert,<br />

was dem Patentausstoß pro 1000 Einwohner einer Region entspricht.<br />

Zur Messung des strukturellen Systemkapitals werden zwei Indikatoren verwendet. Einerseits<br />

die Vereinsaktivität, die über ALLBUS-Daten 1 aus dem Jahr 2010 mit folgender Frage<br />

operationalisiert wird:<br />

V733-V742: „Sind Sie derzeit Mitglied einer Organisation oder eines Vereins? Gehen Sie<br />

bitte die Liste durch und sagen Sie mir, wo Sie Mitglied sind.“<br />

In der Liste kann aus zehn verschiedenen Vereinstypen gewählt werden, die von Sportvereinen<br />

bis Elternorganisationen reichen. Zusätzlich wird angegeben, ob man aktives oder passives<br />

Mitglied ist. Der Anteil der aktiven Vereinsmitgliedschaften wird für jeden Vereinstyp gebildet<br />

und für alle Regionen aggregiert. Das bedeutet, dass für jede Region zehn aggregierte<br />

Variablenwerte zum Anteil der Vereinsaktivität verfügbar sind. Über alle Regionen wird eine<br />

Hauptkomponentenanalyse durchgeführt, um zu prüfen, ob die aggregierten Vereinsaktivitäten<br />

auf einer Dimension liegen. Sollte dies der Fall sein, dann wird ein Index gebildet, der die<br />

Vereinsaktivität pro Region misst.<br />

Der zweite Indikator misst die Vereinsdichte einer Region. Zu diesem Zweck wird die Anzahl<br />

der Vereine pro Region erhoben. 2 Da es auch hier erforderlich ist, eine relationale Variable<br />

zu bilden (ungleiche Bevölkerungsgrößen), wird die Vereinsanzahl ins Verhältnis zur Bevölkerungsanzahl<br />

der Region gesetzt und mit 1000 multipliziert. Die dadurch gewonnene Variable<br />

erfasst die Vereinsdichte durch die Anzahl der Vereine pro 1000 Einwohner pro Region. Das<br />

kulturelle Systemkapital, der gesellschaftliche Fundus an sozialem Vertrauen, wird ebenfalls<br />

über ein Frageitem des ALLBUS-Datensatzes operationalisiert:<br />

V861: „Ganz allgemein gesehen, was meinen Sie: Kann man den meisten Menschen vertrauen<br />

oder kann man im Umgang mit Menschen nicht vorsichtig genug sein?“<br />

Die Befragten können auf einer Fünfer-Skala bewerten, zu welcher Position sie tendieren.<br />

Der Wert eins bedeutet dabei: „Man kann nicht vorsichtig genug sein.“, und der Wert fünf bedeutet:<br />

„Man kann den meisten Menschen vertrauen.“ Je höher also der Wert, desto stärker das<br />

soziale Vertrauen. Die Aggregation erfolgt über die Bildung von Mittelwerten aller Befragten<br />

1<br />

Die Daten sind unter folgender Webadresse zu beziehen: http://www.gesis.org/allbus/allbus-inhalte/<br />

[Zugegriffen am 23.06.2013].<br />

2<br />

Die Daten sind über das Vereinsregister online beziehbar: https://www.handelsregister.de/ [Zugegriffen<br />

am<br />

23.06.2013].<br />

93


pro Region. Auch hierbei gilt: Je höher der Mittelwert, desto stärker der gesellschaftliche Fundus<br />

an sozialem Vertrauen in der Region.<br />

Da die Regionen hinsichtlich ihrer Wirtschaftsleistung und ihrer Anzahl der Unternehmen<br />

differieren, werden Kontrollvariablen gebildet. Als Kontrollvariable für die Wirtschaftsleistung<br />

wird das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf verwendet. Die Anzahl der Unternehmen pro Region<br />

werden in Relation zur regionalen Bevölkerungsgröße gesetzt und ebenfalls in die Analyse einbezogen.<br />

Ebenfalls relevant für den Innovationsoutput sind Strukturfonds wie beispielsweise der Europäische<br />

Fonds für regionale Entwicklung (EFRE). Um diesen Einfluss zu kontrollieren, wird<br />

die Höhe der jährlich ausgeschütteten Fördergelder pro Region in den Jahren 2005 bis 2010<br />

gemittelt und ebenfalls in die Analyse miteinbezogen. Da die Daten aus unterschiedlichen Quellen<br />

stammen, muss ein eigener Datensatz erstellt werden, der die aggregierten Variablenwerte<br />

für jedes Bundesland beinhaltet.<br />

Zur Verwendung eines MSC-Designs<br />

Um Effekte von externen Faktoren zu reduzieren wird ein Most-Similiar-Case-Design (MSCD)<br />

verwendet. Die Fallauswahl erstreckt sich auf alle Bundesländer der Bundrepublik Deutschland,<br />

die als NUTS-I-Region klassifiziert sind. Das hat den Vorteil, dass Einflussfaktoren des<br />

nationalen politischen Systems größtenteils gleichgehalten werden. Beispielsweise könnte die<br />

Organisationsstruktur des Nationalstaates einen zusätzlichen Einfluss ausüben, je nachdem, ob<br />

die Region föderal verfasst ist oder nicht. Ein weiterer Vorteil des MSCD ist, dass auch ökonomische<br />

Randbedingungen wie juristische Regelungen in Bezug auf Unternehmen (Steuern etc.)<br />

oder die Organisation des Wissenschaftssektors nahezu gleich gehalten werden. Diese Hintergrundvariablen<br />

können daher nicht für die Varianz der abhängigen Variablen, dem Innovationsoutput,<br />

verantwortlich sein.<br />

Die geringe Fallzahl macht es erforderlich, dass die Daten über einer größeren Zeitraum<br />

gepooled werden. Das bedeutet, dass jedes Bundesland zu einem unterschiedlichen Zeitpunkt<br />

als ein Fall in den Datensatz übernommen wird. Die Zeiträume zwischen den Zeitpunkten sollten<br />

möglichst groß gewählt werden, damit in der späteren Datenanalyse die Korrelation der<br />

Residuen (Autokorrelation) möglichst gering gehalten wird. An der Datengrundlage ändert sich<br />

dabei nichts, da die Daten zu den Patentanmeldungen, Vereinen und des ALLBUS- Datensatzes<br />

über mehrere Jahre verfügbar sind.<br />

Auswertung der Daten<br />

Alle Variablen verfügen – ggf. nach ihrer Aggregation – über ein metrisches Skalenniveau. Das<br />

ermöglicht die Durchführung bivariater und multipler Regressionsanalysen. Da es sich bei den<br />

verwendeten Daten um Zeitreihendaten handelt, können die gängigen Schätzverfahren der Regressionsanalyse,<br />

Kleinste-Quadrate-Schätzung und Generalisierte-Kleinste-Quadrate-Schätzung,<br />

zu Fehlern bei der Schätzung der Standardfehler (aufgrund Autokorrelation) und zu verzerrten<br />

Koeffizienten führen. Aus diesem Grund werden zur Berechnung sogenannte „Panel<br />

94


Corrected Standard Errors“ zur Anwendung kommen, bei denen die Standardfehler der Koeffizienten<br />

korrigiert werden. In einem ersten Schritt werden für die zentralen unabhängigen Variablen<br />

bivariate Regressionsmodelle berechnet, um den singulären Einfluss der jeweiligen unabhängigen<br />

Variablen auf den Patentausstoß in den 16 Bundesländern (über verschiedene Zeitpunkte)<br />

zu überprüfen. Die berechneten Effektstärken und die Signifikanz der Variablen geben<br />

Auskunft über die Art und Stärke des Zusammenhangs.<br />

Im letzten Schritt werden alle Variablen inklusive der Kontrollvariablen in ein multivariates<br />

Regressionsmodell eingefügt, um zu überprüfen, wie sich die Variablen zueinander im Modell<br />

verhalten. Sollten trotz der drei Kontrollvariablen die unabhängigen Variablen einen signifikanten<br />

und positiven Einfluss auf den Patentausstoß haben, dann können die Hypothesen als<br />

vorläufig bestätigt gelten.<br />

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96


Roßteutscher, Sigrid/Westle, Bettina/Kunz, Volker (2008): Das Konzept des Sozialkapitals<br />

und Beiträge zentraler Klassiker, in: Bettina Westle (Hrsg.): Sozialkapital. Eine Einführung,<br />

Baden-Baden: 11-40.<br />

Rutten, Roel/Gelissen, John (2010): Social Values and the Economic Development of Regions,<br />

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Staber, Udo (2007): Contextualizing Research on Social Capital in Regional Clusters, in: International<br />

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Tura, Tomi/Harmaakorpi, Vesa (2005): Social Capital in Building Regional Innovative Capability,<br />

in: Regional Studies 39 (8): 1111-1125.<br />

Persönliche Stellungnahme des Autors<br />

(Technologische) Innovationsprozesse sind für Industriegesellschaften und moderne<br />

Staaten von erheblicher volkswirtschaftlicher Bedeutung, um im globalen Wettbewerb<br />

zu bestehen. Ähnliches gilt natürlich auch für die subnationale bzw. regionale Ebene,<br />

die im Forschungsdiskurs zur Erklärung von Varianzen im Innovationsoutput bisher<br />

weniger Beachtung gefunden hat. Ich habe mich deshalb für das Thema entscheiden,<br />

da es einerseits sehr spannend und anderseits, was viel wichtiger ist, sowohl gesellschaftlich<br />

als auch theoretisch von hoher Relevanz ist.<br />

Der Literaturbericht und das Forschungsdesgin bauen aufeinander auf. Im Literaturbericht<br />

soll gezeigt werden, dass man in der Lage ist, den einschlägigen theoretischen<br />

und empirischen Forschungsstand strukturiert aufzuarbeiten, um auf dieser Basis Forschungsdesiderata<br />

zu identifizieren. Aufgrund dessen war für den Literaturbericht eine<br />

systematische Literaturrecherche speziell in internationalen Fachzeitschriften (bspw.<br />

über den SSCI) unabdingbar. Auf Grundlage der Recherche und der Identifikation einer<br />

Forschungslücke konnte ich mir dann ein Design überlegen, das geeignet ist, um<br />

zumindest einen Teil des Desiderates zu bearbeiten und die Forschungsfrage (Warum<br />

variiert regionale Innovation?) für einen bestimmten Fall (Deutschland) zu beantworten.<br />

Weshalb ich mich für bestimmte methodische Verfahren entschieden habe, wird<br />

im Kapitel 3 und 4 des Forschungsdesigns begründet.<br />

Eine wichtige Erkenntnis durch den Literaturbericht war, dass die Erklärung regionaler<br />

Innovation nach wie vor weniger der Fokus der Innovationsforschung ist und dass insbesondere<br />

das (regionale) Sozialkapital als Erklärungsfaktor kaum berücksichtigt und<br />

z.T. methodisch fragwürdig operationalisiert wird. Der wissenschaftliche Erkenntniswert<br />

des Forschungsdesigns ist nur gering, da es den eigentlichen Erkenntnisgewinn<br />

durch den anschließenden Forschungsprozess erst vorbereitet und vorstrukturiert. Die<br />

wichtigste (persönliche) Erkenntnis in diesem Zusammenhang war, dass Forschungsvorhaben<br />

methodisch abgesichert und begründet werden müssen, um einen signifikanten<br />

und nichttrivialen Erkenntnisgewinn zu generieren.<br />

97


Russische Demokratie à la Putin. Hoch lebe der Wille des Volkes?<br />

Simon Döring<br />

Einleitung<br />

Mit dem Amtsantritt des bis dahin relativ unbekannten Wladimir Putins im Jahr 1999/2000 tritt<br />

eine Persönlichkeit an die höchste Stelle der Macht in Russland, welche das russische Volk<br />

über viele Jahre begeistern sollte. Putin steigt in dieser Zeit zur Ikone staatlicher Obrigkeit auf<br />

und führt Russland in eine neue Ära wirtschaftlicher und politischer Stabilität. Vor allem während<br />

seiner ersten Amtszeit tritt er als reformfreudiger und volksnaher Präsident auf. Durch<br />

verschiedene ökonomisch vorteilhafte Entwicklungen zu dieser Zeit erlangt Putin den Rückenwind,<br />

um seine Reformen durchzusetzen. In den Jahren seiner Präsidentschaft führt er Russland<br />

zurück an den Tisch der "global player", er formt es innen- wie außenpolitisch zu einer stabilen<br />

Größe. Aufgrund der schlechten wirtschaftlichen und politischen Ausgangslage zu Beginn seiner<br />

ersten Amtszeit, zollt ihm das russische Volk große Anerkennung für die erreichten Erfolge.<br />

Putin präsentiert sich als Anhänger der Demokratie und orientiert sich bei seinen Reformen<br />

stark an der Verfassung Russlands.<br />

Doch schaut man sich im Jahr 2014 Rankings und Berechnungen zum Demokratiegehalt<br />

des Landes an, fällt Erschreckendes auf. Der Freedom House Index stuft Russland als "nicht<br />

frei" ein. In allen wichtigen Charakterisierungsmerkmalen einer Demokratie schneidet das<br />

Land negativ ab (die Einstufung erfolgt durch eine Platzierung zwischen 1.00 und 7.00. Dabei<br />

steht 1.00 für den besten und 7.00 für den schlechtesten Wert, der vergeben werden kann). So<br />

erreicht Russland im Bereich Freiheit 5.50, im Bereich Bürgerrechte 5.00 und im Bereich politischer<br />

Rechte 6.00 von 7.00 Punkten. Der Prozess der Wahlen wird mit 6.00 bewertet. Die<br />

Unabhängigkeit der Medien erreicht einen Wert von 6.25, die Zivilgesellschaft erhält eine 5.75,<br />

die Unabhängigkeit der Justiz wird mit 6.00 und der Grad der Korruption mit 6.75 bewertet. Es<br />

lässt sich festhalten, dass Russland in allen Bereichen klar im unteren Drittel positioniert wird.<br />

Die Herrschaftsform wird mittlerweile als konsolidiertes autoritäres Regime eingestuft (Freedomhouse<br />

fortlaufend).<br />

Doch was war in der Regierungszeit Putins passiert, dass die demokratisch wirkende Verfassung<br />

von 1993 offensichtlich keine Bedeutung mehr im täglichen politischen Gestaltungsrahmen<br />

Russlands hat? Und warum wählt das russische Volk angesichts dieser Werte Putin zu<br />

jeder Wahl wieder in sein angestrebtes Amt? Warum erzielt er über Jahre hinweg konstant hohe<br />

Werte in der Beliebtheit bei der Bevölkerung? Diese Fragen sollen in der vorliegenden Arbeit<br />

beantwortet werden. Dazu wird der zeitliche Rahmen im Schwerpunkt auf die ersten beiden<br />

Amtszeiten Putins (2000-2008) gelegt.<br />

98


In dieser Zeit sind die schwerwiegendsten Reformen beschlossen und umgesetzt worden.<br />

Im Folgenden werden die wichtigsten Veränderungen durch Putin dargelegt, die die Einstufungen<br />

des Freedom House Index mit Wahrheitsgehalt unterfüttern sollen. Abschließend soll die<br />

Frage nach dem politischen System Russlands - ist es eine Demokratie, eine gelenkte Demokratie<br />

oder doch ein autoritäres Regime - auf Basis der hier beschriebenen Machtakte Putins<br />

erörtert und beantwortet werden.<br />

Die Amtszeiten Wladimir Putins im Jahr 2000 und 2004<br />

Zu Beginn des Jahres 2000 tritt mit Wladimir Putin ein bis dahin weitgehend unbekannter Mann<br />

an die Spitze der Regierung. In seinen letzten Funktionen noch als Chef des Inlandsgeheimdienstes<br />

FSB und Sekretär des Sicherheitsrates tätig, war er über seine kurzfristige Einsetzung<br />

in das Amt des Ministerpräsidenten sehr schnell ein Kandidat für das Amt des Präsidenten geworden.<br />

Wladimir Putin, der weder Anhänger unter den Oligarchen hatte, noch zu einer Macht<br />

im Kreml gehörte, verfügte bis dahin über wenig politisches Gewicht. Er hatte allenfalls Kontakte<br />

im FSB und KGB (Erler/Schulze 2012: 49). Die damalige Regierung unter Jelzin hatte<br />

die rasch steigenden Beliebtheitswerte Putins wahrgenommen und sofort gehandelt. Quasi aus<br />

dem Nichts erreichte Wladimir Putin einen Beliebtheitswert von 40 Prozent. Die anschließende<br />

Wahl der Duma – das russische Parlament – im Jahr 1999 verlief ebenso erfolgreich für das<br />

Jelzin/Putin-Lager:<br />

"Die großmeisterliche Kombination in fünf Zügen auf dem Schachbrett der Macht begann<br />

mit der Diskreditierung und Ausschaltung der ursprünglich aussichtsreichsten<br />

Jelzin-Nachfolger Jewgenij Primakow und Jurij Luschkow. Deren politische Bewegung<br />

[...] wurde nicht nur von kremlnahen Medien unter Feuer genommen, sondern<br />

durch die Bildung von 'Jedinstwo' (Einheit) als der neuen 'Partei der Macht' erfolgreich<br />

herausgefordert. Ohne Programm, ohne personelle Zugpferde, ohne Basis gewann<br />

sie, am Tropf des Kreml hängend, dank des Zuflusses von Geld, Infrastruktur<br />

und Personal sowie durch ein – wie es im Jargon der TV-Kultur heißt – 'offensives<br />

Featuring' derart an Popularität, dass sie bei den Duma-Wahlen im Dezember 1999<br />

sofort mit 23 Prozent das zweitbeste Ergebnis erzielte" (Bingen/Wóycicki 2002: 45).<br />

Nur zwölf Tage nach der Wahl gab Jelzin seinen Rücktritt bekannt und setzte Putin in das<br />

Amt des Präsidenten ein. Aufgrund dieser sehr vielversprechenden Entwicklungen legte man<br />

von Regierungsseite aus die offiziellen Wahlen für das Amt des Präsidenten vor, um die Gunst<br />

der Stunde zu nutzen. Putin erlangte so mehrere Vorteile gegenüber anderen Bewerbern. Er war<br />

nicht nur bereits in dem Amt, in dem ihn die Wählerschaft bestätigten sollte, zusätzlich hatte<br />

die Opposition nur ein sehr kleines Zeitfenster, um eine Kampagne zu organisieren und zu initiieren.<br />

So traten einige potentielle Kandidaten, im Glauben keine Chance zu haben, gar nicht<br />

erst zur Wahl an. Ihre Vermutung sollte sich bewahrheiten. Im März 2000 erreichte Putin bei<br />

der Wahl bereits im ersten Durchgang 52 Prozent der Stimmen und war damit der Kon-kurrenz<br />

mit über 20 Prozent überlegen. Dieser glamouröse Sieg war zu großem Teil aber auch der Manipulation<br />

der Medien geschuldet. Zum einen hatte Putin einige finanziell starke Unterstützer,<br />

die eine aufwendige und intelligente Werbekampagne initiierten, welche den Eindruck vermit-<br />

99


teln sollte, dass Wladimir Putin der einzige wählbare Kandidat sei. Dabei wurde mitunter offensiv<br />

und unbeeindruckt von Fairness vorgegangen. So wurden konsequent alle potentiellen<br />

Gegenkandidaten als "korrupt, unfähig und krank" diskreditiert, während Putin als starker und<br />

gerechter Mann dargestellt wurde (Gorzka/Schulze 2002: 43). Zum anderen konnte Putin durch<br />

seine bereits amtierende Funktion als Präsident die elektronischen Medien vorteilhaft nutzen.<br />

So bekam er ebenso viel Sendezeit wie seine drei wichtigsten Gegenkandidaten zusammen! Die<br />

Medien inszenierten Putin als eine Person, "die sich durch Geradlinigkeit, Nüchternheit, Stärke,<br />

Jugend, Gesundheit, Durchsetzungsfähigkeit und Verantwortungsbewusstsein auszeichnet", als<br />

eine Person die "gegen Korruption und Cliquenwirtschaft vorgehen würde", als "kraftvoller<br />

Judoka " und als "energischer Staatsmann, der sich nicht scheute, gegen tschetschenische Aufrührer<br />

gewaltsam vor zugehen" (Gorzka/Schulze 2002: 41-43). Dass zu dieser Zeit mehrere<br />

Attentate, welche tschetschenischen Kämpfern zugerechnet wurden, stattfanden (darunter auch<br />

in Moskau) kam der Wahlkampfkampagne Putins zu Gute. Sie eröffneten ihm die Möglichkeit,<br />

sein versprochen kompromissloses Vorgehen gegen die Tschetschenen direkt unter Beweis zu<br />

stellen. So zum Beispiel durch die Luftangriffe und den Einmarsch russischer Kräfte. Mit der<br />

Duma-Wahl 2003 konnte sich Putin endgültig etablieren und die zweite Amtszeit einläuten.<br />

Seine sehr hohen Popularitätswerte in der Bevölkerung verhalfen seiner unterstützenden Partei<br />

einer Zweidrittelmehrheit. Damit war der Weg für die zweite Amtszeit als Präsident frei: wenige<br />

Monate nach der Duma-Wahl konnte Putin bei der Präsidentschaftswahl 70 Prozent der<br />

Stimmen erreichen (Fritz 2005: 48).<br />

Ein Überblick über die Reformen<br />

Insbesondere in der ersten Amtszeit werden durch Putin einige Reformen mit politischem Gewicht<br />

durchgesetzt. Im Folgenden sollen die wichtigsten Reformen in der föderalistischen<br />

Struktur des Landes, in der Parteienlandschaft, im Kampf gegen die Oligarchen, in der Medienund<br />

Presselandschaft und im Bereich der Zivilgesellschaft erklärt werden. Das letzte Kapitel<br />

behandelt die Einstellungen der Bevölkerung zu Putin.<br />

Reform des Föderalismus<br />

Am Anfang seiner ersten Amtszeit hat Wladimir Putin die föderale Form des russischen Systems<br />

maßgeblich beeinflusst. Per Erlass durch den Präsidenten wurde das Land, das aus 89<br />

Föderationssubjekten besteht, neu gegliedert. Die Reform ordnete die 89 Subjekte sieben "Föderalen<br />

Distrikten" zu, wobei jedem Distrikt 6 bis 16 Subjekte angehören. Jedem Distrikt steht<br />

ein bevollmächtigter Präsidentenvertreter vor. Auffällig ist, dass diese Bezirke mit den sieben<br />

Militärbezirken identisch sind. Auffällig ist auch deren Besetzung, so sind doch fünf von sieben<br />

Vertretern Angehörige des Militärs, der Polizei oder des Inlandgeheimdienstes (Bingen/Wóycicki<br />

2002: 71; Gorzka/Schulze 2002: 51). So wurde nicht nur die Zahl der bevollmächtigten<br />

Repräsentanten von 89 auf sieben Präsidentenvertreter reduziert, sondern auch deren Macht<br />

deutlich beschnitten (Fritz 2005: 27). Ihre Aufgabe war fortan, die Umsetzung der präsidentiell<br />

angeordneten Politik durchzusetzen und zu kontrollieren, sodass der Einfluss der Zentralregierung<br />

gesichert und gestärkt wird.<br />

100


Neben der Reform über die Regionen, wurde auch der Föderationsrat - die zweite Institution<br />

neben dem Parlament - neu strukturiert. Bisher waren für den Föderationsrat die Vorsitzenden<br />

der regionalen Exekutive und Legislative vorgesehen, sprich Gouverneur und Oberhaupt<br />

des regionalen Parlaments. Nun aber sollten die jeweiligen Endsandten durch die regionale<br />

Exekutive und das regionale Parlament bestimmt werden. Dies bedeutete nicht nur den Verlust<br />

von Einfluss für den Gouverneur und regionalen Regierungschef - schließlich konnten sie nun<br />

nicht am Föderationsrat teilnehmen - sondern auch den Verlust der Immunität, die Föderationsratsangehörige<br />

besitzen. Weiterhin erließ der neue Präsident ein Gesetz, dass es ihm erlaubte,<br />

die neuen Gouverneure sowohl zu ernennen, als auch zu entlassen. Zulässige Gründe für eine<br />

Entlassung können sowohl ein Vertrauensverlust des Präsidenten gegenüber des Gouverneurs,<br />

als auch eine unzureichende Pflichterfüllung des Gouverneurs oder ein erfolgreiches Misstrauensvotums<br />

des regionalen Parlaments oder schließlich Zwangsmaßnahmen des Bundes sein.<br />

Die weiche Formulierung dieser Gründe ergibt einen großen Auslegungsspielraum für den Präsidenten.<br />

Ebenso kann er ab sofort die jeweilige Regionalregierung auflösen, sollten sie der<br />

vorgegeben Politiklinie nicht folgen oder den präsidentiellen Personalvorschlag für das Gouverneursamt<br />

nicht annehmen (Taubert 2009: 259-286). Zusätzlich reformierte Putin die lokale<br />

Selbstverwaltung der Regionen. So war es dem Präsidenten nun möglich, Bürgermeister, Ortsvorsteher<br />

und kommunale Vertretungskörperschaften zu entlassen. Wer sich der Linie der Zentralregierung<br />

entzog, konnte nun einfach entlassen werden. So wurde der Einfluss der Gouverneure<br />

und der Regionen, die bis zum Machtantritt Putins durch die vorangegangene Staatsschwäche<br />

zunehmend an Einfluss und Kontrolle in der russischen Politik gewonnen hatten,<br />

zurückgedrängt. Hatten sie zuvor noch die Möglichkeit ein Veto einzulegen, um Gesetze zu<br />

blockieren oder aufzuschieben, waren sie nun nicht mehr direkt in den Gesetzgebungsprozess<br />

eingebunden. Gleichzeitig wurde die Macht der Zentralregierung gestärkt, denn sie erhielt<br />

enorme Kontrolle über die Kaderpolitik. Somit war der Einfluss des Präsidenten bis in die Tiefe<br />

der Region hinein gestärkt worden. Weiterhin wurde den Regionen Russlands ihr gesunkener<br />

Stellenwert im System Putin durch den neu eingeführten Grundsatz "föderales (Bundes-) Recht<br />

bricht regionales Recht" verdeutlicht (Gorzka/Schulze 2002: 52). Als Ersatz für den Verlust<br />

ihres Einflusses und ihrer Mitentscheidungskompetenz gründete man den Staatsrat. Dieser<br />

sollte als Dialogforum zwischen Präsidenten und Gouverneuren dienen, als eine Art Schnittstelle<br />

für Beratungen. Allerdings besitzt der Staatsrat keine Entscheidungskompetenz und kann<br />

daher nicht als vollwertiger Ersatz angesehen werden (Gorzka/Schulze 2002: 51-52). Zusätzlich<br />

kann er jederzeit auch wieder aufgelöst werden.<br />

Parteien-Reform<br />

Das Parteiensystem in Russland ist vor Amtsantritt Putins ein mehr oder weniger nützliches<br />

Mehrparteiensystem, bestehend aus "administrativen Parteien" und Protoparteien. Die Verfassung<br />

der Föderation gibt Parteien keinen starken rechtlichen Rahmen, sie werden allenfalls genannt<br />

bzw. in ihren Funktionen eingeschränkt.<br />

In seiner ersten Amtszeit als Präsident hat Putin neben den föderalen Reformen auch die<br />

Parteiengesetze verändert. So wurde 2001 ein neues Parteiengesetz erlassen. Das Gesetz weist<br />

einige neue strenge Kriterien zur Parteienbildung auf, die die Gründung und das Überleben<br />

101


einer Partei stark beeinträchtigen können. So muss eine Partei in mehr als 44 Föderationssubjekten<br />

Regionalvertretungen aufweisen können. Die Regionalvertretungen müssen zur Hälfte<br />

mindestens 100 und zur anderen Hälfte mindestens 50 Mitglieder vorweisen. Insgesamt muss<br />

die Partei mindestens 10.000 Mitglieder haben.<br />

Weiterhin muss die Partei ein klares Programm und eine eindeutige Satzung aufweisen<br />

können. Zukünftig ist die Bildung von professionellen Parteien verboten. Das ist eine entscheidende<br />

Änderung im Parteiengesetz. Denn dies bedeutet, dass Parteien mit einseitigem Schwerpunkt,<br />

zum Beispiel "Parteien der Anwälte", nicht mehr existieren dürfen. Auch in der Finanzierung<br />

von Parteien gibt es erheblich Eingriffe. So darf eine Partei finanzielle Mittel nur durch<br />

eigene Tätigkeiten, Spenden und staatliche Zuwendungen generieren. Dabei gibt es klare Regulierungen<br />

für die Annahme von Spenden:<br />

"Nicht zulässig sind Spenden von ausländischen Personen und Organisationen, von<br />

juristischen Personen mit ausländischer Beteiligung sowie von Verwaltungsorganen,<br />

Armee - und Polizeiabteilungen, gemeinnützigen und religiöse Organisationen wie<br />

auch anonyme Spenden. Juristische Personen müssen bereits ein Jahr existiert haben,<br />

bevor sie spenden können; Spenden von Einzelpersonen sind auf 10 Minimallöhne pro<br />

Jahr begrenzt (2001: ca. 150 Euro). Das Gesamtspendenvolumen pro Jahr darf<br />

100.000 Minimallöhne (ca. 1.000.000 Euro) nicht überschreiten" (Gorzka/Schulze<br />

2002: 74)<br />

Die staatlichen Zuwendungen für Parteien orientieren sich am Wahlerfolg der Partei. So<br />

gibt es Zahlungen für das Erreichen von drei Prozent mit der Parteiliste, für die Wahl von mindestens<br />

zwölf Direktkandidaten in die Duma und für das Erreichen von drei Prozent der Stimmen<br />

für den Präsidentschaftskandidaten der Partei.<br />

Insgesamt zielt das Gesetz darauf, möglichen neuen Parteien das Leben zu erschweren bzw.<br />

eine Existenz von vornherein zu verhindern. Vor allem durch die Mitglieder- und Finanzierungsregulierungen<br />

werden die bereits bestehenden Parteien, vor allem die Partei an der Macht,<br />

gestärkt und das Aufkommen neuer Parteien erschwert. Gerade der sehr teure Wahlkampf im<br />

großflächigen Russland ist deutlich kostenintensiver, als die Menge des Kapitals, das die meisten<br />

Parteien durch diese Regulierungen generieren können. Bei Nicht-Einhaltung der vorgegebenen<br />

Gesetze ist es den Gerichten möglich, Parteien zu suspendieren oder auch aufzulösen<br />

(Gorzka/Schulze 2002: 67-75). Hinzu kommt die generell schlechte Verankerung der Parteien<br />

in der Gesellschaft. Schon zu Zeiten der Jelzin-Regierung wurden Parteien meist von staatlicher<br />

Seite missbraucht, in dem "administrative Parteien" gegründet wurden. Sie wurden meist kurz<br />

vor einem Wahlkampf gegründet, um Wählerstimmen für einen Kandidaten zu sammeln, für<br />

den sich diese Partei stark machte oder sie wurden gegründet, um anderen Parteien Wählerstimmen<br />

abzujagen. Diese Parteien werden dann von oben herab – mit der Führung beginnend<br />

hin zur Basis – gegründet. Sie sind aus keiner gesellschaftlichen Entwicklung oder Historie<br />

hervorgegangen. In der Bevölkerung haben die Parteien daher keinen großen Stellenwert. Sie<br />

werden oft als nutzlos und sogar der Regierung gegenüber als hinderlich angesehen. Das liegt<br />

zum einen am Missbrauch der Parteien, zum anderen aber auch an ihrer Einflussstärke in der<br />

Politik. Sie sind nicht an der Bildung der Regierung beteiligt und ihre legislative Rolle ist auch<br />

eingeschränkt (Gorzka/Schulze 2002: 97-101; Gorzka/Schulze 2004: 166).<br />

102


In der zweiten Amtszeit entwickelt die Zentrale Wahlkommission unter dem Einfluss Putins<br />

das Parteiengesetz nochmals weiter. So wird die Fünf-Prozent-Hürde für die Zulassung in<br />

die Duma auf sieben Prozent angehoben. Kooperationszusammenschlüsse von Parteien werden<br />

verboten, es kann nur noch jede Partei für sich an der Wahl teilnehmen. Und die Direktmandatskreise<br />

werden aufgelöst. Die Abgeordneten der Duma werden fortan nach Parteiliste gewählt<br />

(Fritz 2005: 23 - 24). Auch diese Regulierung dient vornehmlich den Parteien an der<br />

Macht und der Kaderpolitik Putins.<br />

Kampf gegen die Oligarchen<br />

Nach der Privatisierungswelle, die sich in der Amtszeit Jelzins vollzog, waren einige wenige<br />

Menschen in Russland zu riesigem Reichtum gekommen. Sie hatten sehr erfolgreiche Monopole<br />

bzw. Imperien aufgebaut. Insbesondere im Bereich der Medien hatten sie Kontrolle über<br />

alle wichtigen Massenmedien. Durch den Zugewinn enormer finanzieller Kapazitäten wuchs<br />

auch der Einfluss auf die Politik dieser sogenannten Oligarchen in den Jahren bis 2000 stetig.<br />

Mit seinem Amtsantritt im Jahr 2000 machte Putin sehr schnell klar, dass er dieser wachsenden<br />

Einflussnahme ein Ende setzen und die Macht wieder auf den engsten Regierungskreis konzentrieren<br />

wollte. Die Linie des Präsidenten war dabei eindeutig. Die Oligarchen sollten ihre<br />

eigenen Interessen in der Politik der politischen Loyalität zu Putin unterordnen. Die Kämpfe<br />

um Einfluss und Stimmen sollten damit beendet werden. Als Gegenleistung sollte der Besitz<br />

der Oligarchen, die ihre Macht und ihr Kapital im vorangegangenen Jahrzehnt nicht nur legal<br />

erworben hatten, unangetastet bleiben. Wie ernst der Präsident dieses inoffizielle Angebot<br />

meinte, wurde mit dem Fall Chodorkowski deutlich (Pleines/Schröder 2010: 75). Michail Chodorkowski<br />

hatte sich die Privatisierungsphase in den 90ern zu Nutze gemacht und mit der Ölfirma<br />

Jukos ein Imperium aufgebaut. Dass die Besitzaneignung in der Jelzin-Ära nicht immer<br />

auf legalem Wege geschah, soll erwähnt sein, aber hier nicht weiter diskutiert werden. Denn<br />

dies war nicht der Hauptgrund, warum er ein Ziel des Kremls wurde. Chodorkowski unterstützte<br />

zunehmend demokratische Parteien in der politischen Landschaft, um ein Gegengewicht<br />

zur Kremlmacht zu etablieren. Dabei wollte er wohl selbst eine führende Rolle spielen. Seine<br />

Firma beteiligte sich in unterschiedlicher Weise an zivilgesellschaftlichen Projekten. Dieses<br />

politische Engagement war dem Kreml vermutlich ein Dorn im Auge, der daher den Sturz des<br />

damalig reichsten Mannes Russlands initiierte. Im Oktober 2003 verhaftete der Inlandsgeheimdienst<br />

FSB Chodorkowski unter dem Vorwand des Betrugs, der Steuerhinterziehung, der Veruntreuung<br />

und Vollstreckungsvereitelung und verurteilte ihn zu neun Jahren Haft. Letztlich<br />

wurde das Imperium zerschlagen und für knapp zehn Milliarden Dollar verkauft. Dabei wird<br />

immer noch heiß diskutiert, ob nicht staatliche Interessen hinter dem Kauf standen<br />

(Gorzka/Schulze 2004: 284-285; Mommsen/Nußberger 2007: 129-142).<br />

Im Zusammenhang mit dem Sturz Chodorkowskis ist das Auftauchen eines Manifests ein<br />

Ereignis, das zu Verschwörungstheorien einlädt. Der Ursprung des Manifests wird auf den "Rat<br />

für Nationale Strategie" zurückgeführt, ein Zusammenschluss von Politikwissenschaftlern. Allerdings<br />

bekannten sich nicht alle Mitglieder des Rates zu dem Manifest, sondern nur zwei.<br />

Alle anderen Mitglieder traten aufgrund des Manifests umgehend aus dem Rat aus. Der Verdacht,<br />

das Manifest wurde gefertigt, um Chodorkowski bereits vor seinem Sturz zu diskreditie-<br />

103


en und das daher Kräfte der Regierung dahinter steckten, ließ sich aber nicht endgültig widerlegen<br />

oder beweisen. Der Inhalt des Manifests aber unterfüttert die Verdächtigungen. So steht<br />

dort, Chodorkowski plane einen oligarchischen Umsturz, um die Herrschaftsform Putins zu<br />

stürzen und ein präsidentiell-parlamentarisches System einzuführen. Dabei wolle Chodorkowski<br />

an der Regierungsspitze stehen. Zusätzlich wird in dem Manifest noch erwähnt, dass<br />

Russlands Schicksal aber in einem "starken, 'effektiven' Staat mit mächtiger Präsidentenvertikale,<br />

klarer 'nationaler Orientierung' und leistungsfähigen militärisch-industriellen Komplex<br />

liege" (Gorzka/Schulze 2004: 187). Angesichts der Ähnlichkeit dieses Vorschlags mit den angestrebten<br />

Zielen Wladimir Putins, ist dieses Manifest in vielerlei Hinsicht mysteriös. Aus welchen<br />

Gründen und mit welchen Mittel auch immer Chodorkowski gestürzt und das Unternehmen<br />

umverteilt wurde, hat es den anderen Oligarchen doch klar gemacht, zu welchen Schritten<br />

Putin bereit ist, falls sich ein Oligarch in die Politik verirren sollte.<br />

Mit diesem Schritt wollte Putin seine Macht unter Beweis stellen und den Oligarchen den<br />

neuen Führungsstil eröffnen, dem sie zu folgen haben. Der Grundsatz war einfach: So lange sie<br />

keinen politischen Einfluss nehmen, haben sie nichts zu befürchten. Mit dieser kompromisslosen<br />

Strategie hatte Putin noch im ersten Amtsjahr Medienimperien zerschlagen und deren Fernsehsender<br />

übernommen und somit die Kontrolle über die größten russischen Fernsehsender<br />

übernommen (Gorzka/Schulze 2002: 52-55). Ein weiterer Effekt dieses Vorgehens, vor allem<br />

die Handhabe im Fall Chodorkowski, war die Unterstützung der Bevölkerung. Mit dem rigorosen<br />

Vorgehen gegen einen Oligarchen konnte Wladimir Putin der Bevölkerung zeigen, dass er<br />

nicht vor diesen zurückschrecken würde und dass nun Ordnung, Stabilität und Gerechtigkeit<br />

zurückkehren würden. Dass Putin sich dieses Effekts allerdings bewusst war und diesen ausnutze,<br />

um die Unterstützung der Bevölkerung für sein weiteres Vorgehen zu bekommen und<br />

keineswegs gegen alle Oligarchen kämpfen wollte (sondern nur jene, welche versuchten politischen<br />

Einfluss auszuüben - also Putin gefährden könnten), wurde in der breiten Bevölkerung<br />

nicht weiter diskutiert.<br />

Übernahme der Medien und Presse<br />

In Russland ist der Fernseher die wichtigste Quelle zur Information der Massen. Im Jahr 2007<br />

gaben 90 Prozent der Bürger an, sich über die nationalen TV-Kanäle zu informieren, die Zeitungen<br />

sind mit 30 Prozent an zweiter Stelle, das Internet liegt abgeschlagen bei 9 Prozent<br />

(Pleines/Schröder 2010: 155). In der Jelzin-Phase wurden vielen Medien privatisiert. So konnten<br />

einige Oligarchen ihre Imperien auf dem Besitz von Massenmedien aufbauen. Mit ein<br />

Grund für ihr damaliges Wachstum an politischem Gewicht. Mit der angesprochenen Zurückdrängung<br />

der Oligarchen aus den Einflusssphären der Politik begann auch die Zerschlagung<br />

einiger Medienkonzerne. In diesem Zuge übernahm Putin die größten Medien und stellte sie<br />

unter staatliche Kontrolle. Bis zum Jahr 2007 stehen die fünf größten Fernsehsender (Kanal 1,<br />

RTR Rossija, TV-Zentr, NTV, Ren TV) unter der Kontrolle Putins oder des Konzerns Gazprom.<br />

Man nimmt an, dass der Staat zusammen mit Gazprom, dessen Leitung durch Putin eingesetzt<br />

wurde, Zweidrittel der russischen Medien direkt oder indirekt kontrolliert.<br />

104


Die Kontrolle über die Medien wird hauptsächlich zur Konsolidierung der Macht Putins<br />

genutzt. So insbesondere in Wahlkampfzeiten. Es zieht sich wie ein roter Faden durch die Regierungszeit<br />

Putins, dass ihm ein überproportionaler Anteil an Sendezeit gewidmet wird, der<br />

ausschließlich positiv darstellend ist. So hat man 2007 gemessen, dass bei Rossija und TV-<br />

Zentr 85 Prozent der politischen Nachrichten dem Präsidenten, seiner Regierung oder der Partei<br />

"Einiges Russland", die den Präsidenten unterstützt, gewidmet waren. Bei Kanal 1 konnte man<br />

mit 93 Prozent einen noch höheren Wert messen. Es findet eine klare Wettbewerbsverzerrung<br />

zu Gunsten Putins statt, die es einer möglichen Opposition quasi verhindert, sich zu Wahlkampfzeiten<br />

dem politischen Zuschauer vor dem Fernseher zu präsentieren (Pleines/Schröder<br />

2010: 154-158).<br />

Um Einflüsse von außerhalb zu verhindern, hat man unter Putin eine weitere Restriktion<br />

erlassen. Sie schreibt vor, dass TV-Sender, die mehr als 50 Prozent der Bevölkerung erreichen<br />

oder in der Mehrheit der Föderationssubjekte ausgestrahlt werden, nicht mehrheitlich in der<br />

Hand von ausländischen Bürgern sein dürfen (die Staatsbürgerschaft ist das zugrundeliegende<br />

Kriterium) (Patze 2011: 204).<br />

Neben der Kontrolle über die Medien, sind auch die Einschränkungen in der Pressefreiheit<br />

unter Putin stark vorangeschritten. So ist es Journalisten zwar grundsätzlich möglich, über alle<br />

Themen zu berichten, mit Ausnahme eines Themengebietes. Hier gilt der gleiche Grundsatz<br />

wie für die Oligarchen: So lange sie keinen Einfluss nehmen, haben sie nichts zu befürchten.<br />

Sollten sie jedoch investigativen Journalismus zu Unrechtmäßigkeiten in der Politik betreiben,<br />

müssen sie mit ernsten Konsequenzen rechnen. In den Amtszeiten Putins gibt es eine hohe Zahl<br />

an Todesfällen unter den Journalisten, zahlreiche Reporter sitzen im Gefängnis. Auch wenn<br />

hier kein direkter Zusammenhang zu den Morden hergestellt werden konnte, sind zumindest<br />

die Arbeits- und Lebensbedingungen in den Amtszeiten Putins nachweislich schlecht. Im Jahr<br />

2007 befindet sich Russland im Ranking zur Pressefreiheit, erstellt durch "Reporter ohne Grenzen",<br />

auf Platz 144 von 169 und befindet sich damit zwischen dem Jemen und Tunesien (Reporter<br />

ohne Grenzen 2007):<br />

"Die Zahl der Strafverfolgungen gegen Journalisten wegen Beamtenbeleidigung oder<br />

Verleumdung [ Anm. d. A.: Die Gesetze sind so verbalisiert, dass praktisch alles als<br />

ein Verstoß gesehen werden kann] in Russland wächst. Jährlich werden inzwischen<br />

etwa 50 solcher Klagen gegen Journalisten eingereicht. Im Unter schied zu den 5.000<br />

bis 8.000 Zivilklagen pro Jahr , die mit einer Geldstrafe geahndet werden, drohen den<br />

Angeklagten in einem Strafprozess reale Haftstrafen"; "Wer etwa beschreibt, wie in<br />

Russland Eigentum gewaltsam umverteilt wird und dabei Ross und Reiter nennt, riskiert<br />

Morddrohungen oder Klagen vor Gericht wegen Verletzung der Ehre und Würde.<br />

Wer allzu kritisch über den Krieg in Tschetschenien berichtet, riskiert einen Besuch<br />

von der Steuerpolizei oder Anrufe vom Geheimdienst" (Patze 2011: 200).<br />

Unter der Führung Putins ist ein repressives System etabliert worden, dass in besonderer<br />

Weise auf Nachforschungen im wirtschaftlichen oder politischen Bereich reagiert, ansonsten<br />

weitestgehend ruht. Die Gängelung von Journalisten reicht dabei von Anrufen, Belästigungen<br />

und Drohungen durch Geheimdienste o.ä. bis hin zu ernstzunehmenden Morddrohungen, Klagen<br />

und Haftstrafen. Zusätzlich greift der Staat auch in den Produktionsbereich innerhalb der<br />

105


Medien ein. So ist es allen Mitarbeiten in den staatlichen Medien - welche den Hauptteil ausmachen<br />

- untersagt, systemkritische Informationen zu veröffentlichen. Die Redakteure erhalten<br />

klare Vorgaben, was gesendet werden darf und was nicht. Eine weitere bedenkliche Restriktion<br />

der Medien betrifft die Wahlen. So ist während der Wahlen bzw. im Vorfeld eine eigene Auslegung<br />

von Fakten untersagt, einzig die Unterrichtung über eine Nachricht ist gestattet: "[...]<br />

shall be always presented in the for m of separate news items, without any comments. Such<br />

news items shall not give preference to any candidate, electoral association [...]" (Patze 2011:<br />

204) Durch die bewusst schwammige Formulierung des Gesetzes hat der Staat wieder einen<br />

großen Interpretationsspielraum, was die Einordnung in "erlaubt/nicht erlaubt" betrifft. Somit<br />

wird ein unsicheres Umfeld für die Journalisten geschaffen, dem sie sich fast nur mit der Selbstzensur<br />

entziehen können. Im Jahr 2007, in der zweiten Amtszeit Putins, werden die Mediengesetze<br />

ein weiteres Mal verschärft. Nun ist es nicht nur verboten, selbst extremistische Inhalte<br />

zu verbreiten, sondern es ist auch verboten, über – als extremistisch gebrandmarkte Organisationen<br />

oder Personen – zu berichten. Da der Staat eine extremistische Aktivität wieder nur vage<br />

formuliert, ergibt sich auch hier ein großer Interpretationsspielraum für den Staat und große<br />

Unsicherheit bei Mitarbeitern der Medien. So ist zum Beispiel schon die öffentliche Verleumdung<br />

eines Staatsangestellten oder die Rechtfertigung von Terrorismus eine extremistische<br />

Handlung:<br />

"Ein Plädoyer für die Unabhängigkeit Tschetscheniens wird leicht zu einer 'auf die<br />

Zerstörung der Einheit der RF [Anm. d. A. RF = Russische Föderation] ', ein Protest<br />

gegen die Verklappung von Giftmüll durch die russische Kriegsmarine leicht zu einer<br />

'auf die Untergrabung der Sicherheit der RF gerichteten Handlung'" (Patze 2011:<br />

207).<br />

Das Gesetz erlaubt bei einem Verstoß zusätzlich, dass ganze Medien oder Redaktionen<br />

geschlossen werden dürfen (Pleines/Schröder 2010: 160).<br />

Die Hebel, die der Staat sich geschaffen hat, sind vielfältig. Über Anklagen in Steuersachen,<br />

über Mietverträge der Gebäude/Büros über Werbekunden oder Kioske, die aufgekauft<br />

oder raus gedrängt werden bis hin zur Unterstellung extremistischer Aktivitäten (Patze 2011:<br />

196 -207). Durch die ehemalige Zuordnung der Medien zu den Oligarchen und die insgesamt<br />

als negativ bewertete Demokratie-Phase unter Jelzin, haben die Medien und die Pressefreiheit<br />

keinen guten Ruf in der Bevölkerung und die Übernahme durch den Staat findet im Volk keine<br />

größere Beachtung.<br />

Die Zivilgesellschaft in Russland<br />

Die Zivilgesellschaft ist in Russland sehr schwach ausgeprägt. Dies liegt zum einen am gesetzlichen<br />

Rahmen, der diese stark einschränkt. Zum anderen aber auch an der Historie der russischen<br />

Nation. Bis zum Ende der Sowjetunion war das Prinzip nichtstaatlicher Organisationen<br />

als Interessensvertretung für die Bevölkerung im Alltag keine Praxis. Erst mit der neuen Verfassung<br />

von 1993 gibt es eine rechtliche Grundlage, die die Versammlungsfreiheit garantiert.<br />

Mit dem Amtsbeginn Putins gibt es auf dem Papier viele Nichtstaatliche Organisationen<br />

(NGO), aber nur wenige sind aktiv. Die meisten der nichtstaatlichen Organisationen sind dabei<br />

auf eine Finanzierung aus dem Ausland angewiesen. Am Anfang seiner Amtszeit spricht sich<br />

106


Putin in öffentlichen Stellungnahmen noch für eine starke Zivilgesellschaft aus, die wortwörtlich<br />

"ein Gegenwicht zur Staatsmacht" bilden sollten. 2001 lud Putin zu einem Treffen mit<br />

NGOs im Rahmen eines "Zivilen Forums", das die Option einer dauerhaften Einrichtung für<br />

solche Treffen durchblicken ließ. Das ist allerdings nie passiert. Erste Anzeichen einer NGOfeindlichen<br />

Regierung sendete Putin erstmals öffentlich im Jahr 2002. Es wird ein Steuergesetz<br />

erlassen, das die bis dahin aktive Trennung zwischen kommerziellen und nicht-kommerziellen<br />

Organisationen aufhebt. Somit werden ab diesem Zeitpunkt die nicht-kommerziellen Organisationen<br />

ebenso hoch besteuert wie die kommerziellen. Für eine gemeinnützige Organisation<br />

ist die Finanzierung und somit die Existenz jetzt erheblich schwerer geworden (Pleines/Schröder<br />

2010: 183).<br />

Später, 2004, bestärkte Putin seine Aussagen zur Notwendigkeit der Zivilgesellschaft weitere<br />

Male. Doch im Lichte seiner anschließenden Handlungen, können diese Aussagen nur als<br />

nicht ernst gemeinte Floskeln oder Beschwichtigungen angesehen werden. Denn noch im gleichen<br />

Jahr wird ein Gesetz erlassen, dass Volksabstimmungen erschwert und das Demonstrationsrecht<br />

erheblich einschränkt (so darf nicht mehr vor dem Sitz des Präsidenten, vor Gerichtsgebäuden,<br />

vor Gefängnissen und in Grenzgebieten demonstriert werden - überall dort, wo die<br />

Gesellschaft den größten Anlass zur Demonstration gegen die aktuelle Politik hätte).<br />

Im Jahr 2006 folgen weitere Regulierungen. Man schafft eine "Gesellschaftskammer", welcher<br />

man Mitwirkungsrechte beim Gesetzgebungsverfahren und eine Funktion als Exekutiv-<br />

Kontrolle zuspricht. Sie sollte als Anlaufstelle für zivilgesellschaftliches Engagement dienen<br />

und war somit nicht nur für NGOs sondern auch für Wissenschaftler, Sportler oder Künstler<br />

gedacht (Mommsen/Nußberger 2007: 44-45). Allerdings hatte die Zielgruppe dieser Kammer<br />

keinen Einfluss darauf, wie sich die Kammer zusammensetzt. Denn ein Drittel wird vom Präsidenten<br />

ernannt, das zweite Drittel wird vom ersten Drittel bestimmt und das letzte Drittel wird<br />

auf sieben Konferenzen gewählt. Dabei gibt es kein klar definiertes Verfahren, wie das letzte<br />

Drittel im Detail zu Stande kommt. Kurz gesagt: Der Staat hat hier eine Scheininstitution geschaffen,<br />

deren Zweck mehr der Kontrolle der teilnehmenden NGOs dient als dem tatsächlichen<br />

Informationsaustausch. Im gleichen Jahr wurde ein weiteres Gesetz, das NGO-Gesetz erlassen.<br />

Es wurde eine neue Behörde geschaffen, welche neben den NGOs auch Parteien und religiöse<br />

Organisationen kontrollieren soll. Mit der Begründung, dass manche NGOs terroristische Organisationen<br />

unterstützen würden (was der Geheimdienst herausgefunden haben wollte), erhielt<br />

die Behörde umfassende Sanktionsmöglichkeiten. Mit den zusätzlichen Einschränkungen in<br />

den Medien haben diese NGOs so kaum noch eine Plattform, auf der sie ihre Botschaft verbreiten<br />

können. So besteht für die NGOs neben den staatlichen Einschränkungen und Repressionen<br />

auch die Gefahr, gar nicht erst wahrgenommen zu werden (Fritz 2005: 195-203).<br />

Einstellung der Bevölkerung<br />

Putin hat von Beginn seiner ersten Amtszeit an einen großen Rückhalt in der Bevölkerung gehabt.<br />

Dies war eine der wichtigsten Voraussetzungen für die angestrebte Umsetzung seiner Reformen.<br />

Die bereits angesprochene Wahlkampfkampagne inszenierte Putin als einen volksnahen,<br />

starken und gerechten Mann, der sich auch für das Wohl der Bevölkerung interessierte.<br />

107


Die enorme Unterstützung von Seiten der Bevölkerung hatte zu Beginn der ersten Amtszeit<br />

mehrere Gründe. Kurz vor der Jahrtausendwende stand es wirtschaftlich sehr schlecht um Russland.<br />

Die Versuche Jelzins, demokratische Strukturen und Marktwirtschaft einzuführen, waren<br />

gescheitert. Die Privatisierung staatlicher Bereiche war weit fortgeschritten, die Bevölkerung<br />

war verarmt. Dazu kam die Wirtschafts- und Finanzkrise 1998, die großen Teilen der Bevölkerung<br />

die wirtschaftliche Existenz nahm bzw. in eine Verschuldung trieb, die sie nicht mehr<br />

zurückzahlen konnten. Die schlechten wirtschaftlichen Zustände wurden von der breiten Masse<br />

der Bevölkerung als Folge der Demokratisierung bzw. der Verwestlichung angesehen. So erhielt<br />

das Prinzip der Demokratie bzw. die dafür notwendigen Strukturen eine sehr negative<br />

Konnotation. Noch schlimmer: man machte sie direkt dafür verantwortlich. Daher war das Volk<br />

empfänglich für eine Veränderung, eine neue Ordnung. Die Inszenierung Putins als geradlinig,<br />

gerecht, selbstbewusst und volksnah im Wahlkampf war nicht zufällig gewählt worden. Die<br />

Bevölkerung sehnte sich nach wirtschaftlicher Stabilität. Nach jemanden, der Ordnung in das<br />

Chaos bringt und auch nicht vor den superreichen Oligarchen zurückschreckt. Eine starke Persönlichkeit,<br />

die das Zepter in die Hand nimmt und das Land anführt. Die Enttäuschung bzw.<br />

der Verlust in der Bevölkerung war so groß, dass man dafür bereit war, Teile des eigenen Mitbestimmungsrechts<br />

abzugeben.<br />

Mit der Übernahme der Kontrolle über die gesendeten Inhalte der Massenmedien konnte<br />

Putin diesen starken Rückhalt weiter ausbauen. Mit Hilfe dieser Massenmedien wurde seine<br />

Popularität so weit gesteigert, dass das politische System in Russland ohne Putin fast undenkbar<br />

erscheint. Er ist der große Stabilitätsgarant, dem die Bevölkerung vertraut und daher auch seine<br />

Entscheidungen mitträgt (Gorzka/Schulze 2002: 57-58). Des Weiteren beruht der starke Rückhalt<br />

auf einer eher zufälligen Entwicklung. Zur Zeit der ersten Amtsperiode Putins erholte sich<br />

die russische Wirtschaft. Man öffnete sich dem asiatischen Absatzmarkt für Energierohstoffe<br />

und insbesondere der Anstieg der Ölpreise und die Abwertung des Rubels kurbelten die Wirtschaft<br />

an und generierten frisches Kapital im Land. Das Wirtschaftswachstum schoss 2000 um<br />

10 Prozent in die Höhe (Erler/Schulze 2012: 56).<br />

Zusammenführung und Ausblick<br />

Alle hier beschriebenen Reformen und Handlungen Putins in seinen Amtszeiten dienen vorrangig<br />

zwei Zielen: Die Wiederherstellung eines stabilen und starken Staates und die dauerhafte<br />

Positionierung und Festigung im Amt des Präsidenten. Dazu projiziert Putin - der als unbekannter,<br />

Partei- und programmloser sowie geheimdienstgeprägter Mann in das Amt gestartet war -<br />

die Elemente seiner politischen Ziele: "starker Staat [...], militärische Sieghaftigkeit und [...]<br />

territoriale wie machtpolitische Größe des Landes" auf sich selbst und schreibt sich so die Eigenschaften<br />

eines starken Anführers, der militärische Erfolge erzielen kann und das Land zurück<br />

an den Tisch der "global player" bringt, zu (De Keghel 2008: 239). Putin selbst führte zwei<br />

Begriffe zur Beschreibung seines Führungsstils ein: "Vertikale der Macht" und "Diktatur des<br />

Gesetzes". Mit Ersterem ist die Konzentration der Macht im Zentrum gemeint. Die Vertikale<br />

der Macht soll von oben nach unten eine Hierarchie vorgeben und gleichzeitig allen, der obersten<br />

Stelle in der Vertikalen untergeordneten, Elemente verdeutlichen, dass sie sich nicht am<br />

politischen Entscheidungsprozess zu beteiligen haben, sondern die Beschlüsse dieses Prozesses<br />

nur umsetzen sollen (Fritz 2005: 30-31). Die "Diktatur des Gesetzes" meint die Durchsetzung<br />

108


der staatlichen Führung gegenüber allen anderen Kräften, aber auch die Kaderpolitik Putins<br />

(der Schwerpunkt des neu rekrutierten Personals stammt aus dem Sicherheitsapparat). Wie die<br />

Reformen gezeigt haben, bedeutet für Putin die "Diktatur des Gesetzes": "An die Stelle des<br />

Rechts tritt das Gesetz und das Gesetz ist jenes der Herrschenden, die weitgehend autonom die<br />

Grenzen des Vertretbaren definieren" (Taubert 2009: 348).<br />

Bereits im Jahr 2001, nur ein Jahr nach seinem Amtsantritt hatte Wladimir Putin seine<br />

Machtposition stark ausgebaut. Mit den föderalen Reformen, dem Zurückdrängen der Oligarchen<br />

aus der politischen Einflussnahme sowie der Übernahme der wichtigsten Fernsehkanäle<br />

hatte er einen großen Schritt in Richtung umfassender Kontrolle getan. Die Gesetze waren mit<br />

dem Ziel ausgebaut worden, dem Präsidenten möglichst viele Vollmachten zu erteilen.<br />

Nach den Reformen zu Anfang des Jahrtausends war der nächste große Schritt zur Konsolidierung<br />

der Macht Putins die Duma-Wahl im Jahr 2003. Die Partei "Einheitliches Russland",<br />

die für Putin einstand (der aber jedoch nicht Mitglied ist), erhielt eine große Mehrheit. Damit<br />

konnte Putin neben dem Föderationsrat, der durch die Reformen auf seine Linie gebracht<br />

wurde, auch die Duma kontrollieren. Denn diese Mehrheit war in die Lage, jegliche Blockade<br />

zu überstimmen.<br />

Die staatliche Kontrolle der wichtigsten TV- und Radiosender sowie der größten Zeitschriften<br />

sind ein wichtiges Instrument Putins für die Sicherung der eigenen Macht geworden.<br />

Dabei spielt nicht nur der überproportional große Anteil an Sendezeit, die der positiven Darstellung<br />

Putins gewidmet ist, eine Rolle, sondern auch die Diskreditierung der Opposition bzw.<br />

die Tatsache, dass diese Opposition gar nicht erst gezeigt wird. So wird die Bevölkerung manipuliert,<br />

indem ihr Informationen vorenthalten werden oder die gezeigten Informationen nicht<br />

im Verhältnis zur Wahrheit stehen. Die Nutzung dieses Instruments zieht sich durch Putins<br />

Amtszeiten wie ein roter Faden, sie sind neben der Vertikalen der Macht das wichtigste Instrument<br />

zur Konsolidierung seiner Macht.<br />

Durch das Instrument der Entlassung und Ernennung mit der gleichzeitigen Individualisierung<br />

der Kaderpolitik erhält der Präsident großen Einfluss auf die jeweilige Besetzung eines<br />

Postens in der Vertikale der Macht. Dieses Werkzeug wird als Druckmittel eingesetzt, um die<br />

politische Loyalität zu erzwingen. Denn eine Angabe von Gründen für die Entlassung ist nicht<br />

notwendig. Er hat Einfluss über die Besetzung der Regierungsämter, über die Besetzung der<br />

regionalen Vertreter, in großen Teilen über die Abgeordneten der Duma, bis hin zur Besetzung<br />

der regionalen Regierungschefs und der Bürgermeister. Somit ist die Vertikale der Macht bis<br />

in die Tiefe der Region vorgedrungen. Schätzungen zufolge war der Präsident 2002 an 75 Prozent<br />

bis 80 Prozent der Ernennungen von Senatoren beteiligt, die in den Föderationsrat entsendet<br />

wurden. Dabei versteht es sich von selbst, dass nur linientreue Personen ernannt werden,<br />

welche gleichzeitig aus verschiedenen Bereichen stammen. So sind sie politisch loyal, stellen<br />

aber zur selben Zeit keine homogene Gruppe dar (die sich ihres Machtpotentials bewusst werden<br />

könnte).<br />

Vor allem die Kaderpolitik Putins, also die Besetzung aller Ämter mit vertrauten Personen<br />

aus seinem früheren beruflichen Werdegang, verhindert die Repräsentation der Interessen der<br />

Region bzw. den Willen des Volkes. Anstatt dessen entsteht eine Verpflichtung der Amtsträger<br />

109


gegenüber dem Präsidenten, der sie ernannt hat und jederzeit entlassen kann. Durch diese Verpflichtung<br />

entsteht eine sich selbst rekrutierende Macht-Elite. So überrascht es nicht, dass im<br />

Zeitraum 2000 bis 2005 kein einziges Reformgesetz Putins abgelehnt wurde oder dass von den<br />

178 Föderationsratsmitgliedern im Jahr 2002 bis zum Jahr 2004 131 von jenen ausgetauscht<br />

wurden (Fritz 2005: 41). Durch die Kaderbesetzung und die Entmachtung aller regionalen politischen<br />

Vertreter und Abgeordneten ist eine solche Blockade sowieso kaum noch möglich. Die<br />

folgenden Beispiele sprechen für sich, zeigen sie doch eine aggressive Kaderpolitik Putins. In<br />

seinen Amtszeiten setzte er in allen wichtigen Führungsebenen des Landes ihm vertraute Leute<br />

ein, vorwiegend Personen aus den Geheimdiensten: In der Präsidialadministration, in der föderativen<br />

Verwaltung, im Militär, in den Parteispitzen, im Vorstand des Industrie- und Handelsverbandes,<br />

in der Steuerpolizei, im Obersten Rechnungshof, in der Leitung von Gazprom, in<br />

der Führungsebene staatlicher Rüstungskonzerne, im Diamantenkartell, im Eisenbahnministerium,<br />

in der staatlichen Ölfirma "Rosneft" und schließlich noch im Direktorium des Staatsfernsehen.<br />

Und diese Auflistung stellt dabei keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Bis 2005 waren<br />

bereits 6000 Angehörige des Militärs oder des Geheimdienstes in die Elite Putins übernommen<br />

worden. In der Präsidialadministration, dem Machtzirkel Putins, waren bis zu 70 Prozent des<br />

Personals Offiziere des Militärs oder des Geheimdienstes (Fritz 2005: 165-166).<br />

Der Föderationsrat hat nach den Reformen Putins keine aktive Rolle mehr im Gesetzgebungsverfahren.<br />

Auch seine Rolle als "Gesetzesfilter" ist erodiert. Denn zum einen ist er besetzt<br />

mit Personen, die Putin gegenüber politisch loyal sind und zum anderen folgt daraus, dass eine<br />

wirkliche Kontrolle im Sinne gesellschaftlicher Interessen dadurch nicht mehr erfolgt. Durch<br />

die simultane Stimmhoheit in der Duma (Zweidrittelmehrheit der Kremlpartei) ist dem Präsidenten<br />

Tür und Tor für seine Vorhaben geöffnet. Denn selbst wenn der Föderationsrat ein Gesetz<br />

blockieren sollte, kann die Zweidrittelmehrheit der Duma diese Entscheidung überstimmen<br />

und das Gesetz verabschieden (Fritz 2005: 35-39). Die Duma und der Föderationsrat stellten<br />

kein politisches Hindernis mehr dar, an dem sich der Präsident hätte orientieren müssen. Er ist<br />

weitestgehend unabhängig in seinem Entscheidungsprozess und muss sich niemandem gegenüber<br />

rechtfertigen:<br />

"[...] er allein bestimmte die Außenpolitik, und der gesamte Sicherheitsapparat - Verteidigungsminister,<br />

Innenminister und die Chefs der Geheimdienste - war ihm direkt<br />

unterstellt. In gewisser Weise war seine Position die eines 'gewählten Monarchen', der<br />

weder vom Parlament noch von der Gesellschaft kontrolliert wurde" (Gorzka/Schulze<br />

2002: 56).<br />

Alle Reformen, die in den Amtszeiten Putins umgesetzt wurden, verfolgten ein Ziel: Die<br />

Festigung der Macht. Dazu wurde kompromisslos vorgegangen und der Rahmen der Verfassung<br />

sehr weit gedehnt, manchmal vermutlich übertreten (allerdings kann hier eine Prüfung der<br />

Verfassung nicht vorgenommen bzw. deren Einhaltung nicht analysiert werden).<br />

Die beiden angesprochen Hauptziele Putins werden durch verschiedene einzelne Schritte<br />

und Reformen erreicht. Diese Schritte werden folgend in drei Zwischenziele aufgegliedert und<br />

erläutert.<br />

Das erste Zwischenziel war Stabilität und Ordnung wieder einzuführen. Dazu zentralisierte<br />

Putin die Macht des Staates wieder auf den Kreis der Regierung, besser gesagt auf ihn. Diese<br />

110


Vertikale der Macht sorgte dafür, dass sowohl Duma als auch Föderationsrat entmachtet bzw.<br />

unter die Kontrolle Putins gestellt wurden. Dafür wurden Reformen umgesetzt, die Putin eine<br />

neue Kaderpolitik ermöglichten. Es wurde soweit in die föderalistische Struktur eingegriffen,<br />

dass vom Bürgermeister bis zum Minister alle Positionen durch den Präsidenten besetzt und<br />

entlassen werden können. Weiterhin wurden die in den 90er Jahren erstarkten regionalen Gouverneure<br />

und deren wachsender Einfluss zurückgedrängt.<br />

Außerdem wurden viele Institutionen, wo der Wille des Volkes sich hätte entfalten können,<br />

soweit entmachtet, dass sie nur noch ein Schatten ihrer selbst sind. Um diese demokratische<br />

Unterhöhlung nicht zu offensichtlich zu machen, wurden diese Institutionen kopiert oder imitiert.<br />

So zum Beispiel der Föderationsrat und der Staatsrat. Der Föderationsrat wurde entmachtet<br />

und als Ersatz bot man einen kompetenzlosen Staatsrat an. Ähnlich ist es mit den politischen<br />

Parteien. Es werden vor der Wahl Parteien gegründet, die einzig und allein für diese Wahl bestehen.<br />

Sie sollen Stimmen konzentrieren oder anderen Parteien Stimmen wegnehmen, sodass<br />

diese gar nicht erst in das Parlament kommen. Um dieses Vorgehen zu untermauen, wurde in<br />

das Parteiengesetz eingegriffen, um die Finanzierung und Etablierung neuer Parteien zu erschweren.<br />

Der Effekt war eine deutliche Abnahme der Anzahl der Parteien. So sank die Zahl<br />

der registrierten Parteien von 42 (2005) auf 15 (2007). In der zweiten Amtszeit Putins gibt es<br />

neben der herrschenden Partei nur drei weitere Parteien. (Pleines/Schröder 2010: 85). Insgesamt<br />

ist das Prinzip der Partei und des Parteienpluralismus in Russland nicht in der Gesellschaft<br />

begründet. Die Bevölkerung hält nicht viel von Parteien und die meisten Parteien sind aus keiner<br />

gesellschaftlichen Bewegung herausgewachsen. Oft sind sie nur Spielball im Wahlprozess<br />

und verlieren danach ihre Bedeutung für die politische Praxis. Was zu Beginn der ersten Amtszeit<br />

geschehen war, die Neubildung einer Putin unterstützenden Partei, wurde auch vor der<br />

Wahl für die zweite Amtszeit wieder erfolgreich praktiziert. Die beiden administrativen Parteien,<br />

die bei der Wahl 1999 noch miteinander konkurrierten, wurden vor der Wahl 2003 zusammengeführt<br />

und unter dem neuen Namen "Einiges Russland" sehr erfolgreich zum Stimmenfang<br />

eingesetzt. Das Ergebnis war eine Partei mit 306 Abgeordneten und einer verfassungsändernden<br />

Mehrheit (Gorzka/Schulze 2004: 194 - 208). Die Idee, über eine Partei am politischen<br />

Prozess zu partizipieren, ist in der Bevölkerung noch nicht ausreichend genug angekommen:<br />

"Die politische Kultur Russlands ist nicht durch eigenständige geistige oder politische<br />

Bewegungen beeinflusst und auch nicht im Austausch mit Ideen anderer Regionen verändert<br />

worden [...]", sie war seit jeher von oben vorgegeben (Fritz 2005:125).<br />

Das zweite Zwischenziel war die Kontrolle über die Massenmedien. Mit der Übernahme<br />

der wichtigsten TV-Kanäle durch die Zerschlagung diverser Medienimperien hatte der Staat<br />

ein Monopol über die Informationsverbreitung erlangt. Dadurch, dass Fernsehen und Radio die<br />

wichtigsten Informationsquellen der russischen Bevölkerung sind, konnte man die Zuhörer<br />

durch eine selektive, regierungsfreundliche und oppositionsfeindliche Darstellung von Informationen<br />

so manipulieren, dass Putin aus Sicht der Bevölkerung aus dem politischen System<br />

nicht mehr wegzudenken ist. Für die mediale Inszenierung Putins arbeitet ein ganzer Stab von<br />

Polit-Technologen, die es verstehen, die Sehnsüchte der Bevölkerung nach Stabilität und Ordnung<br />

in Putin zu konzentrieren. Dazu wird auch der Konflikt mit den Tschetschenen instrumen-<br />

111


talisiert, die durch die Medienkontrolle barbarisiert wurden. Der Konflikt wird genutzt, um Reformen<br />

im Zusammenhang mit den Gouverneuren und dem Wahlrecht der Bevölkerung gegenüber<br />

zu rechtfertigen (Fritz 2005: 72-89).<br />

Durch die repressive und gefährliche Vorgehensweise gegen Journalisten wird – ähnlich<br />

wie bei der Rekrutierung der Machtelite – ein sich selbst reproduzierender Prozess in Gang<br />

gesetzt: Wer öffentlich gegen das System aufbegehrt, wird mit allen Mitteln mundtot gemacht.<br />

Diese Vorgehensweise produziert Angst, welche wiederum zu einer Selbstzensur führt. Wer<br />

nicht unter den staatlichen Gegenmaßnahmen leiden will, schreibt lieber freiwillig über andere<br />

Themen.<br />

Trotz des überwiegenden Desinteresses der Bevölkerung an dem strategischen Einsatz der<br />

Massenmedien durch Putin verwendet man auch hier das Kalkül Schein-Einrichtungen zu erhalten.<br />

So erscheint der Radiosender "Echo Moskwy" als ein unabhängiges Medium. Er soll als<br />

Beweis dienen, dass es eine Pressefreiheit in Russland gibt. Daher duldet der Staat das "streitbare<br />

Talkradio", das als "Leuchtturm des kritischen, ungeschönten, lebendigen Journalismus in<br />

Russland" gilt (Pleines/Schröder 2010: 166). Man könnte sich fast wundern, warum genau dieses<br />

Radio existieren darf. Schaut man jedoch auf die Anzahl der Zuhörer – ungefähr 2,5 Millionen<br />

(das entspricht einem Bevölkerungsanteil von etwa 1,75 Prozent) – versteht man, dass die<br />

Regierung bereit ist, dies als Preis für eine scheinbare Pressefreiheit zu zahlen. Zusätzlich<br />

schwebt jederzeit das Damoklesschwert über dem Sender, denn Gazprom besitzt 66 Prozent<br />

der Aktien des Senders. Der Chefredakteur selbst sagt in einem Interview, dass der Sender als<br />

eine Art Schaufenster fungiere und: "Wir sind ein Ventil, um Dampf abzulassen. Wir sind der<br />

Beweis, dass es Pressefreiheit in Russland gibt. Jedenfalls in den Augen der Regierenden" (Pleines/Schröder<br />

2010: 160-167).<br />

Die Kontrolle über die Massenmedien ist ein zentrales Element der Putin'schen Herrschaft.<br />

Sie erlaubt ihm, durch den hohen Stellenwert des Fernsehens und der Zeitung in der russischen<br />

Bevölkerung, eine gezielt selektive Informationsverbreitung zu seinen Gunsten. Dieses probate<br />

Mittel zur Machtkonsolidierung wird von Putin in allen Bereichen eingesetzt, wo es notwendig<br />

erscheint. So im Wahlkampf zur Diffamierung und Diskreditierung oppositioneller Kandidaten<br />

durch eine schlechte Darstellung oder gar keine Darstellung. Aber auch im "Anti-Terror-<br />

Kampf" gegen die Tschetschenen durch eine einseitige, überhöhte Darstellung der Brutalität<br />

der Terroristen. Und letztlich auch im Kampf gegen andere gesellschaftliche oder politische<br />

Widersacher, die sich anschicken, der vorgegebenen Linie des Präsidenten nicht blind zu folgen.<br />

Das dritte Zwischenziel war die Eliminierung äußerer Einflüsse. So wurde neben anderen<br />

diskriminierenden Gesetzen ein neues Gesetz für Nichtregierungsorganisationen erlassen, das<br />

diese unter Kontrolle einer Behörde stellt. Die Argumentation des Verdachts auf terroristische<br />

Aktivitäten dient hier allerdings nur als Mittel zum Zweck. Der eigentliche Zweck ist die Kontrolle<br />

und Disziplinierung der NGOs. Insbesondere ging es um die ausländischen NGOs, deren<br />

Einfluss man zurückdrängen wollte. So mussten sich alle ausländischen NGOs bis Oktober<br />

2006 neu registrieren lassen. Dies diente nicht nur der allgemeinen Information über die Existenz<br />

der NGOs, sondern gab der Behörde durch die erzwungene Einreichung von Finanz- und<br />

Sachberichten auch tiefere Einblicke in die NGOs (Pleines/Schröder 2010: 184-185). Insgesamt<br />

112


ist die Zivilgesellschaft durch die Fülle an Restriktionen und Kontrollen in großen Teilen demontiert<br />

worden. Politische Partizipation aus der Bevölkerung heraus war noch nie ein großer<br />

Bestandteil der russischen Geschichte. Allerdings unternimmt die Regierung unter Wladimir<br />

Putin alles, dass dieses Interesse weiterhin niedrig bleibt. Neben den NGO-Gesetzen und der<br />

gezielten Manipulierung durch die Medien, kann auch die russische Kirche keinen Beitrag leisten.<br />

Sie ist traditionell eng an den Staat gebunden und strebt vorrangig einen "staatsbildenden"<br />

Status an (Ryklin 2007: 214; Mommsen/Nußberger 2007: 28-31).<br />

Am Ende dieser Schachzüge stehen eine unterwürfige Duma, ein gleichgeschalteter Föderationsrat,<br />

ein Quasi-Einparteiensystem, eine demontierte Zivilgesellschaft und eine fehlinformierte<br />

Bevölkerung, die durch die Massenmedien manipuliert wird. "Es gibt kein unabhängiges<br />

Justizsystem, kein unabhängiges Parlament, keine unabhängigen Medien. Es gibt keine parlamentarische<br />

Kontrolle der Geheimdienste und der Regierungsinstitutionen. Die administrative<br />

Ressource bei Wahlen ist groß" (Fritz 2005: 121). Die Vertikale der Macht ist erfolgreich errichtet<br />

worden. Die einzige demokratische Institution, die weitestgehend unangetastet bleibt,<br />

ist die Wahl an sich. Die Bevölkerung kann frei und gleich wählen. Allerdings ist ein Eingriff<br />

auch nicht nötig, da die Bevölkerung bereits vor der Wahl manipuliert wird und die Repräsentanten,<br />

die das Volk wählt, werden immer für die Richtung Putins stimmen – ansonsten werden<br />

sie entlassen. "Die Situation der schwachen Staatsmacht und der atomisierten Gesellschaft<br />

wurde abgelöst von einer Situation der starken Staatsmacht und einer schwach strukturierten<br />

Gesellschaft" (Fritz 2005: 219). Allerdings kann nicht von fairen Wahlen gesprochen werden.<br />

Die bereits erwähnten Hindernisse in den Medien und im Wahlrecht führen dazu, dass nur die<br />

Parteien, die staatliche Unterstützung erhalten, überhaupt überlebensfähig sind (Patze 2011:<br />

163).<br />

Auffällig ist ebenso, dass es Putin und sein Kreis von Polit-Technologen geschickt zu verstehen<br />

wissen, besondere Ereignisse und Krisen für sich zu nutzen. So folgten mehrmals nach<br />

terroristischen Angriffen durch tschetschenische Rebellen inszenierte Darstellungen Putins als<br />

starker Mann, der auf jede Krise eine Antwort hat. Diese Inszenierung wurde mit neuen Gesetzesvorlagen<br />

untermauert, die aber vorwiegend nicht der Bevölkerung, sondern der Machtfestigung<br />

dienten. Häufig werden auch Elemente aus der Vergangenheit der russischen Nation genommen<br />

(zum Beispiel Siege, nationale Werte oder Elemente der russischen Kultur) und auf<br />

den Präsidenten abgebildet (Patze 2011: 307). Putin kann über beide Amtszeiten hinweg – trotz<br />

Anschlägen in Russland, trotz technischer Krisen, trotz wiederholter blutiger Geiselnahmen –<br />

aufgrund seines konsequent inszeniertes Vorgehens auf einen großen Rückhalt in der Bevölkerung<br />

zurückgreifen (Erler/Schulze 2012: 61; Taubert 2009: 269-270).<br />

Natürlich ist festzuhalten, dass die Reformen Putins dem Land nicht nur geschadet haben.<br />

Immerhin ist Russland heute wieder eine Großmacht, die zu einer Energiegroßmacht aufsteigen<br />

kann. Russland ist heute wieder ein "global player", der versucht, Asien als Absatzmarkt und<br />

Partner zu gewinnen. Auch ist Russland heute deutlich stabiler und berechenbarer als noch in<br />

den 90er Jahren. Angesichts der schweren Eingriffe und Reformen ist die Frage nicht zwingend,<br />

ob es gut oder nötig oder sinnvoll war, zu dieser Zeit mit so einem Vorgehen das Land wieder<br />

auf Kurs zu bringen. Die Frage ist vielmehr: Wo soll es hinführen? Und mit der Antwort auf<br />

diese Frage beantwortet sich auch die Frage nach dem politischen System in Russland. Eine<br />

gelebte Demokratie ist es trotz einer im Ursprung sehr demokratischen - nach französischem<br />

113


und deutschem Vorbild orientierten - Verfassung sicherlich nicht (Mommsen/Nußberger 2007:<br />

19-20). Dazu wurden zu viele demokratische Mechanismen und Institutionen ausgehebelt. Der<br />

Wille des Volkes spielt nur bei der Wahl des Präsidenten eine beschränkte Rolle (die fortgeschrittene<br />

Manipulation der Bevölkerung durch die Medien macht es schwierig, den wirklichen<br />

Willen des Volkes zu erfassen). In allen anderen Phasen regiert Putin nach seinem Verständnis<br />

eines starken Staates: zentralisierte und monopolisierte Macht konzentriert auf eine Person -<br />

Wladimir Putin. Eine gelenkte Demokratie kann es sein, wenn Putin bereit wäre, Teile seiner<br />

Macht dem Volk wieder zurückzugeben. 1 Wenn sein Ziel nur die Stabilisierung des Landes<br />

war, so ist dies erreicht. Und so könnte man später sagen, das kompromisslose Vorgehen war<br />

notwendig, um Russland auf Kurs zu bringen.<br />

Alexander Rahr hat bereits 2005 einen Blick in die russische Zukunft gewagt und drei<br />

mögliche Optionen für Russland beschrieben. Erstaunlich ist dabei die Aktualität der dritten<br />

Option, die sich bis heute in großen Teilen bewahrheitet hat. Insgesamt zeichnen alle drei Optionen<br />

mögliche Handlungsmotive Putins. Daher sollen sie kurz dargelegt werden:<br />

1. "Putin kam 1999 infolge einer politischen Intrige Jelzins a n die Macht. Er sollte<br />

das etablierte Herrschaftssystem der Oligarchen nachhaltig absichern, aber gleichzeitig<br />

Russland auf Reformkurs halten. Putin versuchte zunächst, eine Ordnungspolitik<br />

mit Hilfe der ihm ergebenen Sicherheitsministerien durchzuführen, um Russland nach<br />

marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten zu modernisieren und in die Weltgemeinschaft<br />

zu integrieren. In seiner ersten Amtszeit stärkte er die Machtvertikale und na hm die<br />

Schwächung der demokratischen Institutionen hin. In Wirklichkeit jedoch konnte sich<br />

Putin niemals aus den Abhängigkeiten von den Oligarchen befreien, die seine Reformen<br />

nur teilweise unterstützten. In der zweiten Amtszeit Putins kam es erneut zum Reformstau,<br />

der die Integration Russlands in die Weltgemeinschaft und die demokratische<br />

Wertegemeinschaft verlangsamte. Der Nachfolger Putins wurde wieder im Küchenkabinett<br />

der Oligarchen ermittelt" (Fritz 2005: 171 - 172).<br />

2. "Putin kam 1999 infolge eines Coups der Geheimdienste a n die Macht. Er sollte<br />

der Anarchie und der Korruptionsherrschaft des Jelzin-Regimes ein Ende setzen und<br />

Russland modernisieren. Nach einem erbitterten Kampf gegen die Oligarchen, die<br />

ehemalige sowjetische Bürokratie und kommunistische Widerstände gelang Putin in<br />

seiner zweiten Amtszeit der Durchbruch zur Marktwirtschaft und zu einem funktionierenden<br />

Rechtssystem. Die konservativen Kräfte wurden marginalisiert, die Oligarchen<br />

in einen Zivilisierungsprozess gezwungen. Durch die breite Öffnung des russischen<br />

Marktes gewann Putin die politische und wirtschaftliche Unterstützung des Westens,<br />

der wiederum liberale Kräfte in Russland stärkte. Russland konnte sich in die Weltwirtschaft<br />

integrieren und wurde assoziiertes Mitglied der EU und der NATO. Putin<br />

hinter ließ seinem liberalen Nachfolger ein Land mit gesunder Wirtschaft, aber mit<br />

demokratischen Mangelerscheinungen" (Fritz 2005: 172).<br />

1<br />

Unter einer gelenkten Demokratie wird eine Herrschaftsform verstanden, in welcher "die formalen demokratischen<br />

Prozeduren wie Wahlen zwar nicht außer Kraft gesetzt, die Subsysteme des politischen<br />

System wie da s Parlament, die föderalen Subjekte, die Parteien und die öffentliche Meinung durch<br />

staatliche Finanz- und Medienmacht jedoch so gelenkt, dass der Einfluss unabhängiger Kräfte beschnitten<br />

wird. Oppositionelle haben keine Chance auf Machtpartizipation oder Machtübernahme"<br />

(Bingen/Wóycicki 2002: 46).<br />

114


Und schließlich die dritte Variante, die sich in Folge der Ereignisse nach 2005 bemerkenswert<br />

aktuell präsentiert:<br />

"Putin kam 1999 infolge der Wiedereroberung Tschetscheniens an die Mach t. Seine<br />

Politik war von kühlstem Pragmatismus gekennzeichnet. Durch geschickte Offerten an<br />

den Westen gelang es ihm, die Unterstützung der Industrienationen für seinen Modernisierungskurs<br />

zu bekommen [Anm. d. A.: beispielsweise mit der Unterstützungsbekundung<br />

Russlands an die USA nach dem 11. September 2001]. Getragen von einer<br />

breiten Zustimmung der Bevölkerung gelang ihm der Aufbau eines autoritären Präsidialsystems.<br />

Die demokratischen Einrichtungen der Jelzin-Ära wurden der Idee des<br />

Wiederaufstiegs Russlands zur Großmacht geopfert, separatistische Bewegungen gewaltsam<br />

bekämpft, Versuche unternommen, die GUS-Länder enger an Moskau zu binden.<br />

Die russische Verfassung wurde dementsprechend geändert, dass Putin über<br />

seine zweite Amtszeit hinaus Kremlchef bleiben konnte. Gegen Ende der zweiten Amtszeit<br />

Putins war die Partnerschaft mit dem Westen wieder in Frage gestellt. Noch ist<br />

Putins Zukunft völlig offen" (Fritz 2005: 172).<br />

Im Moment scheint sich eine Herrschaftsform mit Zügen einer gelenkten Demokratie sowie<br />

Zügen eines autoritären Regimes in Russland zu etablieren. Es gibt keine Tyrannei des<br />

Präsidenten, dennoch hat eine echte Opposition keine Überlebenschance. In allen Bereichen<br />

wird die Opposition gesetzlich oder eben einfach per Entscheidung des Präsidenten benachteiligt.<br />

Auch das Justizsystem ist in diese Struktur eingewoben worden, in etwa durch die Besetzung<br />

von Richtern durch den Präsidenten, aber auch direkt gegen die Gesellschaft im Sinne von<br />

Repressalien. Ein russischer Anwalt sieht das "Recht" unter Putin als ein "chirurgisches Skalpell",<br />

das gegen die benutzt wird, "die kritisieren – unbequeme Individuen, unbequeme Politiker<br />

und, besonders, unbequeme Journalisten [...]" (Pleines/Schröder 2010: 160). Wer sich dem<br />

System allerdings nicht entgegenstellt, hat auch nichts zu befürchten. Hinzu kommt, dass es<br />

keine Einrichtung gibt, die die Handlungen des Präsidenten und seiner Regierung noch in irgendeiner<br />

demokratischen Weise kontrollieren. Duma, Föderationsrat, Richter und Medien sind<br />

durch Kaderpolitik und Übernahme gleichgeschaltet (Patze 2011: 195-196). Spätestens mit der<br />

Rochade Medwedew und der Rückkehr Putins in das Amt des Präsidenten 2012 (nach bereits<br />

zwei Amtszeiten), ist nicht klar, ob sich Putin wieder von der Macht lösen können wird. Erschreckend<br />

ist, dass das russische Volk keinen zwingenden Widerstand leistet. Trotz aller staatlichen<br />

Einschränkungen wäre dies möglich. Große Teile der Gesellschaft sind mit Putin, auch<br />

ohne Fälschung der Ergebnisse, zufrieden. Die Manipulation der Medien, aber auch die<br />

schlechten Vorerfahrungen in den 90er Jahren tragen hier Rechnung. Mit zunehmender Verbreitung<br />

des Internets und der damit verbundenen neutraleren Informationsbeschaffung ändert<br />

sich dieses Bild langsam. Die aktuellen Ereignisse um Putin und dessen Entscheidungsfindungsprozess<br />

fördern allerdings die Zweifel, ob der Präsident Russlands überhaupt noch zu<br />

einer Abgabe von Macht in der Lage ist.<br />

Der Faktor Putin ist in diesem demokratisch-autoritären Gefüge trotzdem immer noch ein<br />

ungemein wichtiger Stabilitätsfaktor, der mit seinen Popularitätswerten das System zusammenhält.<br />

Er ist aus dieser Vertikalen der Macht nicht wegzudenken (Mommsen/Nußberger 2007:<br />

190). Mit einer gewissen Ironie kann die Eingangsfrage "Hoch lebe der Wille des Volkes?"<br />

115


ejaht und verneint werden. Der Wille des Volkes wird zwar nicht in den schein-demokratischen<br />

Institutionen repräsentiert, aber er kommt durch die konstant hohe Popularität Putins und<br />

durch seine Wiederwahlen in gewisser Form doch zum Ausdruck.<br />

Aus westlicher Sicht vergisst man allzu gerne, dass Versuche der Demokratie in Russland<br />

erst eine sehr junge Geschichte haben: erst mit den 90er Jahren hat die Idee demokratischer<br />

Strukturen Einzug gefunden. Auch darf man nicht vergessen, dass Putin trotz aller kritikwürdigen<br />

Reformen immer noch regelmäßig vom Volk wiedergewählt wird. Daher ist Geduld mit<br />

dem russischen Volk erforderlich und auch Toleranz dahingehend, dass Russland seinen eigenen<br />

Weg finden wird und muss.<br />

Literaturverzeichnis<br />

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polnische Vorüberlegungen zu einer gemeinsamen Ostpolitik der er weiterten Europäischen<br />

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und Großmachtkontrolle, Frankfurt/New York.<br />

Freedomhouse.org (fortlaufend): Russia, aufgerufen am 20.10.2014.<br />

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Oberhausen.<br />

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im postsowjetischen Raum, in: Osteuropa 81 (9): 3-24.<br />

Gorzka, Gabriele/Schulze, Peter (2002): Russlands Perspektive. Ein starker Staat als Garant<br />

von Stabilität und offener Gesellschaft?, Bremen.<br />

Gorzka, Gabriele/Schulze, Peter (2004): Wohin steuer t Russland unter Putin? Der autoritäre<br />

Weg in die Demokratie, Frankfurt/New York.<br />

Lewada-Zentrum (2012): Demokratiekonzepte, in: Russlandanalysen Nr. 243, S. 11-14.<br />

Lewada-Zentrum (2013): Die russische Medienlandschaft in Umfragen, in Russlandanalysen<br />

Nr. 253, S. 20-23.<br />

Lewada-Zentrum (2013): Dokumentation "Verbreitung von Printmedien in Russland - Zuschauer-<br />

und Hörerzahlen elektronischer Medien", in: Russlandanalysen Nr. 253, S. 14-19.<br />

Mommsen, Margareta/Nußberger, Angelika (2007): Da s System Putin, Bonn.<br />

116


Patze, Peter (2011): Wie demokratisch ist Russland? Ein tiefenorientierter Ansatz zur Messung<br />

demokratischer Standards, Baden-Baden.<br />

Pleines, Heiko/Schröder, Hans-Henning (2010): Länderbericht Russland, Bonn.<br />

Reporter ohne Grenzen (2007): Rangliste der Pressefreiheit, aufgerufen am 20.10.2014.<br />

Russische Akademie der Wissenschaften (2008/2012): Umfrage der "Russian Election Studies"<br />

(RES), "Demokratie oder starker Staat", in: Russlandanalysen Nr. 243, S. 5- 7.<br />

Ryklin, Michail (2007): Mit dem Recht des Stärker en. Russische Kultur in Zeiten der "gelenkten<br />

Demokratie", Bonn.<br />

Taubert, Denis (2009): Machtkonsolidierung unter V.V. Putin. Eine Analyse im Lichte europäischen<br />

und russischen Rechtsstaatdenkens, Norderstedt.<br />

Persönliche Stellungnahme des Autors<br />

Ich habe mich schon während meines Bachelors in Politikwissenschaft für Osteuropa<br />

und Russland interessiert und dazu Seminare besucht. Mit Beginn des M.A. in Jena<br />

und der gleichzeitig deutlich gewachsenen Aktualität des Themas "Russland" habe ich<br />

weitere Seminare zu dieser Thematik besucht. Im Laufe dieser Besuche habe ich mich<br />

immer wieder gefragt, warum die Bevölkerung Russlands all diese Entwicklungen<br />

mitträgt. Aus heutiger, deutscher Sicht war das für mich schwer nachvollziehbar. Daher<br />

wollte ich mich in meiner Hausarbeit mit diesem Thema auseinandersetzen und<br />

für mich (und hoffentlich allen anderen) eine Antwort finden.<br />

Während der Recherche und des Leseprozesses habe ich festgestellt, dass es mehr als<br />

nur ein Faktor ist, der das System Putin begünstigt. Da jeder für sich aber so wichtig<br />

war, dass man ihn nicht ausklammern konnte, wollte ich jeden Aspekt ansprechen und<br />

in angemessener Länge erklären. Daher habe ich mich dazu entschieden, in der Arbeit<br />

die Aspekte kurz anzusprechen und dann ausführlich zusammenzuführen, um das zugrunde<br />

liegende Kalkül Putins herauszuarbeiten.<br />

Die wichtigste Erkenntnis ist für mich, dass es Putin geschafft hat, durch umfassende<br />

Kontrolle und Manipulation ein System zu schaffen, das ohne ihn als Person wohl<br />

nicht funktionieren würde. Die ganze Macht des Staates ist auf ihn konzentriert. Es<br />

gibt keine Instanz mehr, vor der sich Putin ernsthaft rechtfertigen müsste.<br />

117


Die Wahlrechtsreform von 2013. Problem des negativen Stimmgewichts<br />

behoben oder nur verschoben?<br />

Philipp Saxer<br />

Einleitung<br />

Die zahlreichen Befürchtungen einer Aufblähung des Bundestages sind bei der letzten Bundestagswahl<br />

vorerst ausgeblieben. Jedoch kann noch nicht davon gesprochen werden, das neue<br />

Wahlsystem habe den Härtetest Bundestagswahl mit Bravur bestanden. Eine nähere Betrachtung<br />

offenbart neue Schwächen.<br />

Das negative Stimmgewicht, das von Wissenschaft und Rechtsprechung in zahlreichen<br />

Aufsätzen und Urteilen behandelt und kritisiert worden ist, folgt dem deutschen Wahlrecht wie<br />

ein Schatten durch jede Reform. In dieser Seminararbeit möchte ich untersuchen ob das Problem<br />

schließlich behoben werden konnte. Zur Aufarbeitung der verschiedenen Ausprägungen<br />

des Effekts in alten und neuen Wahlgesetzen, muss zunächst theoretisch geklärt werden, worin<br />

die Problematik des negativen Stimmgewichts grundsätzlich liegt und welche Rolle es im bis<br />

einschließlich 2009 angewandten Wahlgesetz hatte. Denn dieses hatte das Bundesverfassungsgericht<br />

in seinem Urteil vom 3. Juli 2008 für verfassungswidrig erklärt und eine Überarbeitung<br />

desselben gefordert. Das Gericht hat dabei nicht nur das Phänomen des negativen Stimmgewichts<br />

als solches für nicht mit dem Grundgesetz vereinbar befunden, sondern auch angemerkt,<br />

dass die Existenz von Überhangmandaten sein Auftreten begünstigen (BVerfG 2008: Abs. 40).<br />

Die Kausalität, die Überhangmandate und das negative Stimmgewicht zueinander haben, wird<br />

ebenfalls im zweiten Kapitel erörtert. Dem Gesuch einer erneuten Überarbeitung ist der Gesetzgeber<br />

nach zähen Diskussionen nachgekommen und hat sich in der jüngsten Reform des<br />

Bundeswahlgesetzes, die am 21. Februar 2013 im Bundestag mit breiter Mehrheit (nur die<br />

Linke stimmte dagegen) verabschiedet wurde (22. Gesetz zur Änderung des BWahlG), für eine<br />

Kompensation der Überhangmandate entschieden, um dem negativen Stimmgewicht Herr zu<br />

werden. Im dritten Kapitel der Arbeit wird die Funktionsweise dieses neuen Ausgleichs erläutert<br />

werden, um dann die neu auftretenden Probleme des Ausgleichsmechanismus zu besprechen.<br />

Damit soll sodann die Frage beantwortet werden, ob das Problem des negativen Stimmgewichts,<br />

eine dessen Beseitigung die Reform beabsichtigte, abschließend behoben wurde oder<br />

auf eine andere, vielleicht weniger sichtbare Stufe verschoben wurde.<br />

Problem des negativen Stimmgewichts im alten Wahlgesetz<br />

In diesem Kapitel soll das vor der Reform aufgetretene Phänomen des negativen Stimmgewichts<br />

in Verbindung mit Überhangmandaten eingehender erläutert und an Beispielen verdeutlicht<br />

werden. Ich beziehe mich hier auf das vor der neusten Reform gültige Wahlgesetz, das<br />

118


2008 für verfassungswidrig erklärt wurde, aber noch bei der Bundestagswahl 2009 Anwendung<br />

fand.<br />

Im Allgemeinen spricht man von einem negativen Stimmgewicht, wenn weniger Zweitstimmen<br />

zu einer höheren Mandatszahl führen oder mehr Zweitstimmen zu einem Mandatsverlust.<br />

Anders ausgedrückt bedeutete das beim alten Wahlsystem, dass „ein besseres Wahlergebnis<br />

V1 für eine Partei zu einer schlechteren Sitzverteilung S1 (mit weniger Sitzen für diese<br />

Partei) führt bzw. ein schlechteres Wahlergebnis V2 mit weniger Stimmen zu einer besseren<br />

Sitzverteilung S2“ (Behnke 2010: 7).<br />

Speziell erstgenannte Konstellation wird als sehr problematisch eingestuft, weil damit die<br />

Stimmabgabe für eine Partei zu einem Sitzverlust dieser Partei führen kann. Das widerspricht<br />

nicht nur dem Willen der Wählerschaft, sondern auch den Grundsätzen der Gleichheit und Unmittelbarkeit<br />

der Wahl, die in Art. 38 Abs. 1 des Grundgesetzes verankert sind (BVerfG 2008:<br />

Leitsatz), weil damit die gebotene Erfolgswertgleichheit der Stimmen nicht mehr gegeben ist.<br />

Der Erfolgswert ergibt sich aus dem Quotienten von Mandatszahl und Stimmenzahl (der relative<br />

Erfolgswert aus Mandatsanteil geteilt durch Stimmenanteil). Er sollte nach Möglichkeit für<br />

alle Parteien den gleichen Wert annehmen, also jede Partei sollte für ein Mandat die annähernd<br />

gleiche Zahl an Zweitstimmen benötigen (Strohmeier 2013: 636). Deshalb wird in der Literatur<br />

von einigen Autoren (u.a. Dehmel 2012: 153) statt des negativen Stimmgewichts der Ausdruck<br />

inverser Erfolgswert synonym verwendet und teilweise bevorzugt. Damit kommt zum Ausdruck,<br />

dass bei auftretendem Phänomen der Erfolgswert von Wählerstimmen zu Ungunsten der<br />

Wähler der verlierenden Parteien verzerrt werden kann. 1<br />

Überhangmandate können zwar für sich genommen nicht allein die Ursache für ein negatives<br />

Stimmgewicht sein und sind isoliert betrachtet auch verfassungskonform; sie können aber<br />

in einer gewissen Situation sein Auftreten mittelbar bewirken und die Wahrscheinlichkeit seines<br />

Auftretens maßgeblich erhöhen (Zivier 2009: 43). Im Folgenden können also Überhangmandate<br />

und das negative Stimmgewicht durch ihre Kausalbeziehung nicht getrennt betrachtet<br />

und Überhangmandate durch ihre Ansteckungsgefahr nicht als harmlos bezeichnet werden,<br />

wenn es das negative Stimmgewicht auch nicht ist (Behnke 2011: 18).<br />

Zur Verdeutlichung, welches Grundpotenzial Überhangmandate in Bezug auf Erfolgswertverzerrungen<br />

entfalten können, sei folgendes Szenario erläutert: Erhält eine Partei in einem<br />

Land nach dem tatsächlichen Wahlergebnis ein Überhangmandat und bekommt diese Partei in<br />

einem alternativen Szenario mehr Zweitstimmen und somit ein weiteres Listenmandat,<br />

wodurch alle Direktmandate durch Listenmandate gedeckt werden, existiert das Überhangmandat<br />

von vorher nicht mehr. Die Mandatszahl der Landesliste bleibt gleich, obwohl der Zweitstimmenanteil<br />

in diesem Land gestiegen ist. Im Bundestag verliert die Partei sogar ein Mandat,<br />

weil es keinen Überhang mehr gibt und somit die Zahl der bundesweiten Mandate um Eins<br />

abnimmt (Dehmel 2012: 154). Analog dazu ist auch die umgekehrte Richtung möglich: Dass<br />

also eine Partei für ein geringeres Zweitstimmenergebnis einen zusätzlichen Sitz bekommt,<br />

wenn durch die geringere Stimmenzahl die Direktmandate nicht ausreichend abgedeckt sind<br />

und ein Überhangmandat entsteht.<br />

1<br />

Im Folgenden werde ich die Formulierung negatives Stimmgewicht, wie auch das BVerfG, verwenden.<br />

119


Soweit dieser widersprüchliche Stimmenverlust oder -gewinn nur innerhalb eines Landes<br />

vonstattengeht, kann aber nicht ohne weiteres von einem negativen Stimmgewicht gesprochen<br />

werden. Auf den ersten Blick wirken sich die zusätzlichen Zweitstimmen aus dem ersten Beispiel<br />

zu Ungunsten der gewählten Partei aus. Tatsächlich handelt es sich aber um eine Art Richtigstellung<br />

innerhalb des Systems, indem der Vorteil des zusätzlichen Mandats, das vom Zweitstimmenproporz<br />

ausgehend unverdient war, wieder rückgängig gemacht wird (Behnke 2011:<br />

11). Das ist „die logische Konsequenz aus dem Umstand, dass man diese Unterdeckung zulässt“<br />

(Behnke 2012: 12), also dass man überschüssige, nicht durch Zweitstimmen gedeckte Direktmandate<br />

bei der Sitzverteilung berücksichtigt.<br />

Erst im Zusammenwirken der Überhangmandate mit dem System der verbundenen Landeslisten<br />

entfaltet das Phänomen des negativen Stimmgewichts seine volle Sprengkraft. Da in<br />

der Unterverteilung des alten Wahlrechts die Sitzzahlen, die eine Partei in der Oberverteilung<br />

erreicht hat, entsprechend der erreichten Zweitstimmen auf die Landeslisten verteilt werden,<br />

stehen die Landeslisten einer Partei prinzipiell in Konkurrenz zueinander, sind aber nicht vollständig<br />

voneinander getrennt: In Verbindung mit dem Auftreten von Überhangmandaten kann<br />

es schon bei geringen Änderungen dazu kommen, das ein zusätzliches Listenmandat in der<br />

einen zulasten einer anderen Landesliste geht (Zivier 2009: 42-43).<br />

Wenn in einem Land A eine Partei gerade so viele Zweitstimmen verliert, dass ein Überhangmandat<br />

entsteht, aber nicht so viele, dass die Oberverteilung beeinflusst wird (also die Zahl<br />

zu verteilender Proporzmandate gleich bleibt), kann eine Landesliste B von einem zusätzlichen<br />

Mandat profitieren. Die Mandatszahl des Landes A bleibt konstant, weil der Verlust des Listenmandats<br />

durch den Überhang aufgefangen wird. Landesliste B erhält ein weiteres Mandat,<br />

weil der letzte zu verteilende Sitz des Kontingents aus der Oberverteilung durch die veränderten<br />

Zweitstimmenzahlen nicht mehr an Land A sondern an Land B gehen. Man spricht von einem<br />

negativen Stimmgewicht, weil eine größere Anzahl Zweitstimmen für die Partei, also die<br />

Stimmabgabe für diese Partei, zu einem Sitzverlust im Bundestag führen kann. Außerdem beeinflussen<br />

die Wähler von Land A dadurch die Mandatszahl von Land B. Auch hier ist festzustellen,<br />

dass die Listenkonkurrenz bei der Unterverteilung für sich genommen unproblematisch<br />

und vom Wahlsystem gewollt ist. Wenn auf ein Land weniger Zweitstimmen entfallen, dann<br />

bekommt ein zweites Land absolut und relativ gesehen mehr Mandate. Negative Stimmgewichte<br />

entstehen also bei einer ungünstigen Kombination aus Überhangmandaten und den verbundenen<br />

Landeslisten (Zivier 2009: 42). Mit einer steigenden Zahl von Überhangmandaten<br />

steigt auch die Wahrscheinlichkeit, dass solche Verzerrungen entstehen.<br />

Offensichtlich wurde das unter anderem bei der Bundestagswahl 1998. Hätte die SPD in<br />

Hamburg nur rund 20.000 Zweitstimmen mehr bekommen, wären durch ein zusätzliches Proporzmandat<br />

alle Direktmandate in Hamburg gedeckt gewesen und das Überhangmandat entfallen.<br />

War die Oberverteilung bei diesem Stimmenzuwachs noch unberührt, wäre der SPD in der<br />

Unterverteilung in Rheinland-Pfalz ein Sitz verloren gegangen und in Hamburg einer hinzugekommen.<br />

Wegen des untergegangenen Überhangs hätte die SPD also insgesamt ein Bundestagsmandat<br />

weniger gehabt (Fehndrich 1999: 70f.). Folglich hätte die Abgabe mehrerer tausend<br />

SPD-Stimmen einen konträren Effekt zur Folge gehabt.<br />

120


Bei diesen Berechnungen betrachtet man zwar hypothetische Szenerien, die nicht eingetreten<br />

sind, sondern nur potenziell hätten eintreten können, und diese alternativen Szenerien sind<br />

in sich unproblematisch, ebenso wie das tatsächliche Wahlergebnis für sich genommen unproblematisch<br />

ist. Die Brisanz liegt aber darin, dass sich bei leicht unterschiedlichem Wahlverhalten<br />

die Zahl der Überhangmandate verändern kann, auch wenn sich weder die Anzahl der Direktnoch<br />

die der Proporzmandate einer Partei verändert, dass also mehr Bundestagsmandate durch<br />

weniger Zweitstimmen entstehen (oder entsprechend umgekehrt) (Behnke 2011: 18).<br />

Dass diese Gefahr nicht nur abstrakt, sondern direkt beobachtbar sein und sogar instrumentalisiert<br />

werden kann, wurde bei der Bundestagswahl 2005 deutlich, als der Wahlkreis Dresden<br />

I (Wahlkreis 160) nachgewählt werden musste. Die Kenntnis des bundesdeutschen Ergebnisses<br />

bei der Stimmabgabe hob die Möglichkeiten der strategischen Wahl auf eine bis dahin nicht<br />

gekannte Ebene. Der Effekt des negativen Stimmgewichts brachte die CDU in die ungewöhnliche<br />

Situation, in der ein schlechtes Zweitstimmenergebnis einen zusätzlichen Sitz für die CDU<br />

im Bundestag bedeutet hätte. Auch hier war die besondere Kombination aus der Unterverteilung<br />

der Mandate auf die Landeslisten und dem Auftreten von Überhangmandaten entscheidend.<br />

Hätte die CDU in Dresden I eine gewisse Anzahl an Zweitstimmen unterschritten,<br />

wodurch die Landesliste der CDU in Sachsen nur wenige Zweitstimmen mehr bekommen hätte,<br />

wäre bei der Stimmenverteilung das letzte Mandat nicht an Sachsen, sondern an das Saarland<br />

gegangen.<br />

Da die Direktmandate in Sachsen sowieso nicht ausreichend durch Proporzmandate gedeckt<br />

waren, bedeutete dies keinen Verlust der sächsischen, wohl aber einen Mandatsgewinn<br />

der saarländischen CDU (Behnke 2008: 698ff.). Wenn die CDU das Direktmandat von Dresden<br />

I gewonnen hätte, dann wäre es ihr sicher als Überhangmandat zugutegekommen. So hätte die<br />

CDU durch Dresden I insgesamt vierzehn Mandate in Sachsen bekommen – unabhängig vom<br />

Zweitstimmenergebnis – und ein weiteres Proporzmandat im Saarland, dass bei einer höheren<br />

Anzahl sächsischer Zweitstimmen bei der Sitzverteilung in Sachsen „untergegangen“ wäre, da<br />

hier ohnehin nur die Zahl der Direktmandate entscheidend war. Eine geringere Zweitstimmenanzahl<br />

hätte also zu mehr Mandaten geführt. Umgekehrt wäre der CDU ein Bundestagsmandat<br />

verloren gegangen, wenn diese gewisse Stimmenanzahl überschritten worden wäre, weil dann<br />

ein zusätzliches Listenmandat in Sachsen entstanden wäre, das für Sachsen zwar bedeutungslos<br />

geblieben wäre, das aber im Saarland gefehlt hätte.<br />

In einer Regressionsanalyse prüfte Joachim Behnke, inwiefern das tatsächliche Wahlergebnis<br />

der Nachwahl von dem unter normalen Umständen erwarteten abwich. Er verglich dabei die<br />

errechneten Werte des Wahlkreises Dresden I, die er mit Hilfe der Ergebnisse von 2002 und<br />

den durchschnittlichen Veränderungen in anderen Wahlkreisen hochrechnete, mit dem tatsächlichen<br />

Wahlergebnis. Es ergab sich eine signifikante Abweichung der Wahlergebnisse von der<br />

Erwartung. Weil zufälliges Schwanken nicht eine so deutliche Abweichung hätten hervorrufen<br />

können, sind die sonderbaren Umstände der Nachwahl die einzig logische Erklärung für das<br />

veränderte Wahlverhalten (für die detaillierte Erläuterung der Berechnungen (Behnke 2008:<br />

704). Das bedeutet, dass die Kenntnis über die Auswirkungen des negativen Stimmgewichts,<br />

durch das sich eine Stimmabgabe für die CDU negativ für sie ausgewirkt hätte, sowohl die<br />

Wählerschaft als auch das tatsächliche Wahlergebnis beeinflusst haben. Glücklicherweise war<br />

121


dieses zusätzliche Mandat trotz des knappen Wahlausgangs nicht mehrheitsentscheidend. Dennoch<br />

führte es Wählerschaft und Wissenschaft gleichermaßen vor Augen, was bislang verschleiert<br />

geblieben ist. Denn diese Form des negativen Stimmgewichts besteht potenziell immer.<br />

Mit dem entscheidenden Unterschied, dass es für den Wähler in der Regel „kaum vorherzusehen<br />

ist, ob seine Stimme einen positiven, keinen oder sogar einen negativen Effekt ausübt.“<br />

(Behnke 2008: 702) Dementsprechend forderte das Bundesverfassungsgericht eine Korrektur<br />

des Wahlrechts insoweit, als dass es wahltaktisch nicht mehr nutzbar sein dürfe.<br />

Wahlrechtsreform 2013 – Die Funktionsweise der neuen Sitzverteilung<br />

Der nach langen parteipolitischen und rechtlichen Abwägungen Anfang 2013 entstandene<br />

Kompromiss des neuen Wahlrechts folgt der Logik der historischen Pfadabhängigkeit: Der<br />

Grundsatz der personalisierten Verhältniswahl mit seinen zwei Stimmen, einer Sperrklausel,<br />

Ober- und Unterverteilung, sowie der Grundmandatszahl von 598 Bundestagssitzen wurde beibehalten<br />

(Grotz 2014: 127). Es wurden lediglich so viele Stellschrauben am Gesamtgefüge verändert,<br />

dass die Mindestanforderungen des Bundesverfassungsgerichts erfüllt werden konnten,<br />

aber noch kein parteiübergreifender Dissens durch grundlegende Änderungen entstanden wäre.<br />

Die einzelnen Schritte der Sitzverteilung des neuen Bundeswahlgesetzes (BWahlG), wie sie bei<br />

der Bundestagswahl 2013 erstmals zur Anwendung kam, soll im Folgenden verständlich gemacht<br />

werden.<br />

In einem ersten Schritt, der bereits vor der Wahl stattfinden kann, werden die 598 Bundestagssitze<br />

auf die Bundesländer verteilt. In dieser Grundverteilung wird jedem Bundesland anhand<br />

seines Bevölkerungsanteils an der deutschen Gesamtbevölkerung ein Mindestanspruch an<br />

Sitzen zugeordnet, ein sogenanntes Landessitzkontingent (§ 6 Abs. 2 S. 1 BWahlG). Nach diesem<br />

Schlüssel stehen Thüringen mit seinen knapp 2,2 Millionen Einwohnern 17 Sitze zu, Nordrhein-Westfalen<br />

mit fast 16 Millionen Einwohnern bekommt 128 der 598 Bundestagssitze<br />

(Bundeswahlleiter 2013a). Die so auf die Länder verteilten Sitze werden nun innerhalb der jeweiligen<br />

Länder den Landeslisten derjenigen Parteien zugeordnet, die nicht an der bundesweiten<br />

Sperrklausel von fünf Prozent oder der Grundmandatsklausel gescheitert sind. Diese erste<br />

Verteilung erfolgt entsprechend der Zweitstimmenanteile, die die Parteien in den Ländern erhalten<br />

haben (§ 6 Abs. 2 S. 1 in Verbindung mit § 6 Abs. 3 BWahlG).<br />

Neben den Proporzmandaten wird auch die Anzahl der gewonnen Wahlkreise berücksichtigt.<br />

Die jeweils größere Zahl ist für die Bestimmung des Sitzkontingents entscheidend. Erringt<br />

eine Partei in einem Bundesland mehr Direkt- als Proporzmandate, so bleiben diese auch im<br />

neuen Wahlgesetz zumindest auf dieser ersten Verteilungsebene als Überhangmandate erhalten<br />

(§ 6 Abs. 4 BWahlG). Bei der Bundestagswahl 2013 bekam die CDU als einzige Partei Überhangmandate<br />

(je eines in Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Thüringen und dem Saarland). Die<br />

Mindestsitzansprüche, die die Parteien bei der endgültigen Verteilung haben, entsprechen der<br />

Summe ihrer jeweiligen Sitzansprüche in den Bundesländern. Nach dieser ersten Verteilung hat<br />

der Bundestag also mindestens 602 Sitze (Bundeswahlleiter 2013b). Diese Zahl hat aber noch<br />

keinen Absolutheitsanspruch, es handelt sich lediglich um die Summe der garantierten Mindestsitzansprüche<br />

jeder Partei.<br />

122


Die nun folgende dritte Stufe ist das Kernstück des neuen Bundeswahlgesetzes, denn hier<br />

werden Überhangmandate und andere Überrepräsentationen von Parteien auszugleichen versucht.<br />

Die Verteilung der Bundestagssitze an die Parteien soll dem Verhältnis der bundesweiten<br />

Zweitstimmenanteile angepasst werden. Das geschieht, indem die Zahl der Bundestagssitze so<br />

lange erhöht wird, bis jede Partei unter Berücksichtigung ihrer Gesamtsitzansprüche aus der<br />

ersten Verteilung den ihr zustehenden Zweitstimmenanteil hat (§ 6 Abs. 5 BWahlG). Würden<br />

nur die 602 Sitze proportional gemäß der erreichten Zweitstimmen verteilt, so würden die Mindestsitzzahlen<br />

nicht erreicht werden. Es wird also vom Maßstab der am stärksten überrepräsentierten<br />

Partei ausgehend die Mandatszahl der übrigen Parteien so lange erhöht, bis der Zweitstimmenproporz<br />

wieder hergestellt werden kann. Die nach der Bundestagswahl 2013 auf dieser<br />

Grundlage am stärksten überrepräsentierte Partei ist die CSU. Sie erhält aus der ersten Verteilung<br />

einen Sitzanspruch von 56 Sitzen, was einem Anteil von knapp 9,3 Prozent entspricht<br />

(Behnke 2014: 22). Nach ihrem Zweitstimmenergebnis stehen ihr aber nur 7,4 Prozent der Sitze<br />

zu. Die 56 garantierten Bundestagssitze stünden der CSU bei einer proportionalen Verteilung<br />

der Zweitstimmen erst dann zu, wenn die Sitzzahl auf 631 erhöht wird (Behnke 2014: 23).<br />

Daher ergibt sich für die folgende Verteilung der Mandate eine Vergrößerung des Bundestages<br />

um 29 auf jetzt 631 Sitze. Ausgehend von der neuen Hausgröße werden die Stimmen in der<br />

Ober- und Unterverteilung größtenteils wie schon im alten Wahlgesetz verteilt. Zunächst werden<br />

die 631 Sitze bundesweit proportional nach der Summe ihrer Zweitstimmen auf die Parteien<br />

verteilt (§ 6 Abs. 6 S. 1 BWahlG) und in der dann folgenden Unterverteilung wird das Sitzkontingent<br />

der Parteien wiederum entsprechend dem Anteil der Zweitstimmen auf ihre Landeslisten<br />

verteilt (§ 6 Abs. 6 S. 2 BWahlG). Auch hier bekommt eine Partei alle Direktmandate eines<br />

Landes, selbst wenn diese Anzahl höher ist als die ihr zustehende Zahl an Listenmandaten<br />

(§ 6 Abs 6 S. 6 BWahlG). Durch den Ausgleich nach Zweitstimmenproporz können die Parteien<br />

solche Überschüsse aber ohnehin nicht mehr als zusätzliche Mandate verbuchen. Auf allen<br />

Berechnungsebenen wird mit dem Divisorverfahren von Sainte-Laguë/Schepers gearbeitet.<br />

Die Probleme des neuen Ausgleichs<br />

Vergrößerung des Bundestages<br />

Ein vielfach kritisierter Nachteil des neuen Wahlrechts ist die durch den Ausgleich mögliche –<br />

je nach Modellrechnung erhebliche – Aufblähung des Bundestages. Dieser Nebeneffekt wurde<br />

zwar sehenden Auges in Kauf genommen, um eine proportionale Sitzverteilung zu erreichen;<br />

je nach Wahlergebnis kann er aber sehr große Dimensionen annehmen. Logischerweise liegt<br />

der erste Grund für eine Vergrößerung in der Kompensation der Überhangmandate aus der ersten<br />

Verteilung, sofern diese eine Überrepräsentation nach sich ziehen. Es lässt sich als Faustregel<br />

zusammenfassen, dass je schwächer die Parteien, die Überhangmandate bekommen, nach<br />

Zweitstimmenproporz abschneiden, desto größer ist die Anzahl an Ausgleichsmandaten, die sie<br />

bewirken und folglich die Vergrößerung des Bundestages (Grotz 2014: 131).<br />

„Jedes zusätzliche Überhangmandat einer Fünf-Prozent-Partei bedeutet eine Vergrößerung<br />

des Bundestages um rund 20 Sitze. [...] Wenn eine Partei mit 30 Prozent der<br />

Zweitstimmen fast alle Wahlkreise (in ihrem Wahlgebiet) gewinnt, bedeutet dies eine<br />

Vergrößerung des Bundestages um 50 Prozent oder 300 Sitze.“ (Fehndrich 2013: 208)<br />

123


Wenngleich diese Szenerien sehr unwahrscheinlich und überspitzt formuliert sind, gilt dieser<br />

Grundsatz auch für schwächelnde Volksparteien. Und ein schwaches Zweitstimmenergebnis<br />

von CDU und SPD bei nahezu gleichbleibender Zahl an gewonnen Wahlkreisen, was eine<br />

große Zahl an Überhängen und Ausgleichsmandaten nach sich zöge, ist nicht unrealistisch. Man<br />

bedenke, dass mit leichten Dämpfern die Zahl der Überhangmandate analog zum Rückgang der<br />

Zweitstimmenanteile der Volksparteien kontinuierlich gestiegen ist. Nach der Bundestagswahl<br />

2009 waren es immerhin 24 Stück (Schmidt 2011: 145) (Die Bundestagswahlen 2002 und 2013<br />

bilden eine Ausnahme von diesem Trend).<br />

Es ist aber nicht nur der Ausgleich der Überhangmandate, der eine übermäßige Vergrößerung<br />

bewirken kann, wie bei der jüngsten Wahl zu sehen war: Um die vier Überhangmandate<br />

der CDU auszugleichen bedürfte es keiner 29 zusätzlichen Mandate – für diese Zahl war wie<br />

zu Anfang erwähnt die Überrepräsentation der CSU verantwortlich. Aber wie kann eine solche<br />

ohne Überhangmandate zu Stande kommen?<br />

Hauptursache sind die unterschiedlichen Berechnungsgrößen für die Verteilung der Mandate.<br />

Weil die erste Verteilung der Grundmandatszahl auf die Bundesländer nach Bevölkerungsstärke<br />

geschieht und nicht nach Zweitstimmenergebnis (so wie die endgültige und entscheidende<br />

Verteilung) hat Bayern einen nicht gerechtfertigten Sitzanspruch. Nach Zweitstimmenanteil<br />

stünden Bayern eigentlich nur 87 der 598 Sitze zu; durch die Verteilung nach Bevölkerungsstärke<br />

bekommt Bayern aber mindestens 92 Sitze (Behnke 2014: 19). Das bedeutet alle<br />

bayerischen Landeslisten sind überrepräsentiert und die Listen anderer Bundesländer bedürfen<br />

eines Ausgleichs in Form von zusätzlichen Mandaten.<br />

Prinzipiell kann man drei Kriterien ausmachen, bei deren Erfüllung eine Partei besonders<br />

viele Ausgleichsmandate hervorrufen kann: Erstens durch eine große Diskrepanz zwischen dem<br />

Sitzanspruch aus der ersten Verteilung und dem tatsächlich zustehenden Sitzanteil durch Zweitstimmen.<br />

Ein solcher Mandatsbonus kann entweder wegen einer geringen Wahlbeteiligung o-<br />

der eines hohen Anteils an durch die Sperrklausel nicht gewerteten Stimmen bestehen (oder<br />

beides zugleich). Geringe Wahlbeteiligungen bedeuten nämlich „eine geringe Anzahl an [für<br />

den Gewinn eines Mandats benötigten] Zweitstimmen“ (Dehmel/Jesse 2013: 206). Zweitens<br />

durch eine starke Konzentration der Zweitstimmen einer Partei auf diejenigen Länder, in denen<br />

der erwähnte Mandatsbonus aus der ersten Verteilung besonders groß ist. Denn andernfalls<br />

könnte die gesamte Überrepräsentation einer Partei durch weniger stark verzerrte Landeslisten<br />

abgemildert werden. Und drittens durch einen geringen Zweitstimmenanteil an der Gesamtanzahl<br />

der abgegebenen Stimmen. Denn in diesem Fall entfalten Disproportionalitäten beim Ausgleich<br />

eine größere Hebelwirkung (Grotz 2014: 132).<br />

Im Fall der CSU in Bayern treffen alle drei Kriterien zu. Die bayerischen Spezifika des<br />

großen Unterschieds zwischen gewerteter Zweitstimmenzahl und Bevölkerung schlagen voll<br />

bei der CSU zu Buche. Der Anteil an Stimmen, die an der Sperrklausel gescheitert sind, beträgt<br />

in Bayern etwa 18,6 Prozent (bundesweit „nur“ gut 15,7 Prozent) und die etwas niedrigere<br />

Wahlbeteiligung (etwa 1,5 Prozentpunkte unter dem Bundesschnitt und die schlechteste der<br />

westdeutschen Flächenstaaten) (Bundeswahlleiter 2013c) trägt ebenfalls zur großen Differenz<br />

zwischen Bevölkerungsgröße und Zahl der gültigen Zweitstimmen bei. Des Weiteren ergibt<br />

sich eine „starke Konzentration auf diese Landesliste“ bei der CSU, weil die bayerische die<br />

124


einzige ist, die die CSU hat. Und das dritte Kriterium liegt ebenso logisch vor, weil der Anteil<br />

einer einzigen Landesliste realistischer Weise nur einen einstelligen Prozentsatz an der gesamten<br />

Stimmenzahl zur Folge haben kann. Je niedriger also der Anteil der gültigen Zweitstimmen<br />

an der Bevölkerungsgröße ist, desto größer ist die Überrepräsentation dieses Landessitzkontingentes.<br />

Im Sonderfall Bayern kommt noch hinzu, dass hier die CSU linear zu Bayern überrepräsentiert<br />

ist und als kleinste Bundestagspartei bei einer Überrepräsentation den größten Ausgleich<br />

nach sich zieht.<br />

Das Problem der deutlichen Vergrößerung des Bundestages unabhängig von Überhangmandaten<br />

ist also hausgemacht. Die Entscheidung, für die erste und die finale Sitzzuteilung<br />

zwei unterschiedliche Berechnungsformen zu nehmen, gründet auf der Vorgabe des zweiten<br />

Urteils des Bundesverfassungsgerichts zur verabschiedeten Novelle 2011, wonach die Anteile<br />

der Länder nicht auf einer variablen Größe beruhen dürfen, sondern nach Bevölkerungsgröße<br />

(respektive Zahl der Wahlberechtigten) zu geschehen habe. Dieser Verteilungsmaßstab ergab<br />

im Entwurf von CDU/CSU und FDP Sinn, weil damit das negative Stimmgewicht beseitigt<br />

wurde ohne die Überhangmandate an sich in Frage zu stellen. Im neuen Wahlgesetz wird aber<br />

ohnehin jedes Überhangmandat ausgeglichen und der vollständige Zweitstimmenproporz hergestellt,<br />

wodurch das Gebot der bevölkerungs-basierten Sitzzuteilung nicht mehr erfüllt werden<br />

müsste (Grotz 2014: 128).<br />

Benachteiligung von Landeslisten<br />

Wie bereits erwähnt findet die zweistufige Verteilung der Zweitstimmen nach zwei verschiedenen<br />

Kriterien statt: In der Grundverteilung nach Bevölkerungsgröße und in der Endverteilung<br />

nach dem eigentlich entscheidenden Kriterium des Zweitstimmenanteils. Dies kann auch zur<br />

Folge haben, dass manche Landeslisten in der Endverteilung einen Sitz weniger erhalten, als<br />

ihnen nach strengem Zweitstimmenproporz zustehen würde. Zwar können veränderte Wahlergebnisse<br />

nicht mehr zu einer Veränderung zwischen den Sitzanteilen der Parteien führen, aber<br />

immer noch zu Veränderungen zwischen den Landeslisten einer Partei (Behnke 2013: 9).<br />

Ursache für diesen neuerlichen inversen Effekt im Rahmen des Ausgleichs sind erneut die<br />

Überhangmandate aus der ersten Verteilung. Durch die Garantie, dass gewonnene Direktmandate<br />

bei der Verteilung berücksichtigt werden (§ 6 Abs. 6 S. 2 BWahlG), auch wenn deren Anzahl<br />

in einem Land die Zahl der Listenmandate übersteigt, kann es innerhalb der Parteien nach<br />

wie vor zu Überhangmandaten kommen. Die garantierten Sitzansprüche beziehen sich nämlich<br />

nur auf die Parteien, und nicht auf deren einzelnen Landeslisten. Erhält eine Partei beispielsweise<br />

in drei Bundesländern je ein Direktmandat mehr als Proporzmandate, so bleiben diese<br />

der Partei erhalten.<br />

Zur Wahrung der Proportionalität müssen diese drei zusätzlichen Mandate aber durch den<br />

Wegfall von Listenmandaten kompensiert werden. So geschehen bei der letzten Bundestagswahl<br />

innerhalb der Landeslisten der CDU. Auch nach Verteilung der 13 zusätzlichen „Ausgleichsmandate“<br />

gewann die CDU in Sachsen-Anhalt, Thüringen und Brandenburg jeweils einen<br />

Wahlkreis mehr als ihr Listenmandate zustanden. Gemäß Wahlrecht durften diese Wahlkreisgewinner<br />

auch in den Bundestag einziehen – den Preis dafür mussten allerdings die Lan-<br />

125


deslisten von Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen zahlen. Sie verloren ein, respektive<br />

zwei Listenmandate, weil diese beiden die letzten Listenmandate waren, die bei der Unterverteilung<br />

der 255 Mandate auf die Landeslisten der CDU entfielen (Behnke 2014: 24). Der<br />

Zweitstimmenanteil der CDU im Bundestag wurde genau wegen dieses Schrittes gewahrt, ihr<br />

stehen exakt die 255 Mandate zu, die sie bekam. Durch die Beibehaltung von Überhangmandaten<br />

wurden aber Mandate innerhalb der CDU so umverteilt, dass eine interne Benachteiligung<br />

von Landeslisten ohne Überhänge besteht. Die beiden Landeslisten erhalten wegen des Ausgleichs<br />

zwar nicht weniger Mandate als ihr nach der ersten Verteilung garantiert wurden; wohl<br />

aber weniger als ihr nach strengem Zweitstimmenanteil zugestanden hätten.<br />

Die eigentliche Intention des Ausgleichsverfahrens sollte ja sein, Proportionalität herzustellen<br />

durch die Vergabe zusätzlicher Mandate an die benachteiligten Parteien. Im vorliegenden<br />

Fall mussten aber einige Landeslisten auf Mandate ihres Zweitstimmenanteils verzichten.<br />

Die Zweitstimmenproportionalität ist zwar im Bundestag gewahrt, weil die Parteien als Ganzes<br />

exakt den ihnen entsprechend Zweitstimmen zustehenden Anteil an Sitzen bekommen haben.<br />

Die einzelnen Landeslisten können aber nicht auf einen proportionalen Anteil zählen.<br />

Ein neues negatives Stimmgewicht<br />

In der Weise wie das negative Stimmgewicht im alten Wahlrecht auftreten konnte, ist es in der<br />

aktuellen Fassung tatsächlich nicht mehr zu finden. Erfolgswertgleichheit und Zweitstimmenproporz<br />

wurden fast vollständig hergestellt und den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts<br />

zumindest Genüge getan. Mit der Art des Ausgleichs schuf man aber neue Probleme.<br />

„Die Geister des Ausgleichsmechanismus, die man rief, wird man nicht so leicht los“ (Behnke<br />

2014: 22). Neben der oben erwähnten Benachteiligung von Landeslisten durch Überhangmandate,<br />

kann auch der Ausgleich als solches zu ungewollten Effekten führen.<br />

In den meisten Fällen war der Effekt des negativen Stimmgewichts nur vorhanden, wenn<br />

man alternative Szenerien mit mehr oder weniger abgegebenen Zweitstimmen für eine Partei<br />

mit dem tatsächlichen Ergebnis verglich. Von solchen Berechnungen ausgehend kann auch mit<br />

dem neuen Wahlrecht eine Problematik des negativen Stimmgewichts beobachtet werden.<br />

Zwar wurden Überhangmandate als Auslöser entfernt, dennoch können nur wenige Stimmen<br />

mehr oder weniger je nach Partei und Bundesland zu negativen Veränderungen der Sitzverteilungen<br />

im Bundestag führen, nämlich im Rahmen des Ausgleichs.<br />

Um mögliche negative Stimmgewichte im neuen Wahlrecht diskutieren zu können, muss<br />

man zunächst die Unterscheidung zwischen relativem und absolutem negativen Stimmgewicht<br />

klären. Ein absolutes negatives Stimmgewicht liegt vor, wenn eine höhere Anzahl Zweitstimmen<br />

für eine Partei zu weniger Mandaten führen (oder umgekehrt), aber Veränderungen der<br />

Sitzverteilungen der anderen Parteien sich dabei ebenso ergeben können. Von einem relativen<br />

negativen Stimmgewicht spricht man, wenn Sitzzahl und -verteilung der übrigen Parteien konstant<br />

bleiben und sich dadurch bei Mandatszuwächsen oder Mandatsverlusten nicht nur die<br />

Sitzzahl, sondern auch der Sitzanteil einer Partei ändern. Beim negativen Stimmgewicht durch<br />

Überhangmandate, wie es das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil 2008 kritisierte, handelte<br />

es sich mithin um ein relatives Stimmgewicht, weil zusätzliche Überhangmandate nicht<br />

126


nur absolut die Mandatszahl der Partei, sondern auch die Mandatsanteile der Parteien zueinander<br />

beeinflussten (Behnke 2014: 29).<br />

Das neue negative Stimmgewicht, dass im Zuge des Ausgleichs im neuen Wahlrecht beobachtbar<br />

ist, kann zwar in „annähernd derselben Größenordnung“ (Behnke 2014: 29) wie früher<br />

auftreten, jedoch handelt es sich um ein absolutes und kein relatives negatives Stimmgewicht.<br />

Der Effekt entsteht in denjenigen Bundesländern „in denen die Partei, an der sich der<br />

Ausgleich orientiert, besonders stark überrepräsentiert ist“ (Behnke 2014: 28), weil anhand<br />

dieser Überrepräsentation die Anzahl der Ausgleichsmandate festgelegt wird. Bei der Bundestagswahl<br />

2013 war das die CSU in Bayern. Gewinnt eine der übrigen Parteien eine gewisse<br />

Anzahl Zweitstimmen dazu, und entfällt so bei der ersten Unterverteilung ein Sitz weniger auf<br />

die überrepräsentierte Partei so nimmt ihre Überrepräsentation ab. In der Folge muss der Bundestag<br />

zum Ausgleich in geringerem Maße vergrößert werden. Die Verteilung der Ausgleichsmandate<br />

wird neu berechnet.<br />

Gewinnt eine der übrigen Parteien in Bayern, zum Beispiel die SPD, eine gewisse Zweitstimmenanzahl<br />

dazu (ab 60.000 Stimmen), so werden die 92 Bundestagssitze, die Bayern aus<br />

der Grundverteilung zustehen, anders verteilt. Die SPD erhält einen Sitz mehr, die CSU einen<br />

Sitz weniger. Folglich wäre die CSU weniger überrepräsentiert und der Bundestag müsste zum<br />

Ausgleich dieser geringeren Überrepräsentation auch in geringerem Maße vergrößert werden.<br />

Es bedürfte nur noch einer Erhöhung der Mandatszahl um 19 auf 621 Sitze um den Zweitstimmenproporz<br />

unter Wahrung der Landessitzkontingente herzustellen. Insgesamt entstehen<br />

also weniger Ausgleichsmandate, wodurch auch die SPD weniger Ausgleiche bekäme. Ihr<br />

stünden vier Ausgleichsmandate weniger zu; nach Einrechnung des zusätzlichen Mandats aus<br />

der Verteilung des bayerischen Kontingents hat sie daher drei Bundestagsmandate weniger<br />

(Behnke 2014: 28). Mit zunehmender Erhöhung der Zweitstimmen für die SPD ergeben sich<br />

umso weniger Bundestagsmandate. Unterm Strich könnte die SPD also bei deutlichem Stimmenzuwachs<br />

weniger Abgeordnete entsenden, was dem absoluten negativen Stimmgewicht<br />

entspricht. Der Zweitstimmenproporz im Bundestag ist zwar nach wie vor gewahrt, die Sozialdemokraten<br />

der letzten Listenplätze der bayerischen Landesliste haben ihr Mandat aber nur<br />

wegen des schlechteren Ergebnisses. Analog dazu hätte die SPD nach der gleichen Logik weitere<br />

Bundestagsmandate erhalten, wenn ihr eine gewisse Zahl an Zweitstimmen verloren gegangen<br />

wäre. Da es sich um Probleme im Zuge der Bestimmung des Ausgleichs handelt, kann<br />

das negative Stimmgewicht also nur in dem Land auftreten, das für den Ausgleich durch seine<br />

Überrepräsentation verantwortlich ist, in dieser Legislatur also Bayern.<br />

Fazit<br />

Ein für alle Zeiten stabiles Wahlsystem wird es wohl nicht geben können. Zum einen können<br />

sich durch verändertes Wählerverhalten neue Probleme ergeben oder alte Probleme lösen oder<br />

verschieben. Zum anderen sind Wahlrechtsfragen Machtfragen, wodurch eine neue Bundestagsmehrheit<br />

den für sich aussichtsreichsten Kompromiss verabschieden kann, zumal die Hürde<br />

einer einfachen Mehrheit gering ist (Schmidt 2011: 52-53).<br />

Der angestrebte Spagat der etablierten Parteien war klar: Eine verfassungskonforme Behebung<br />

negativer Stimmeffekte zu erreichen, ohne die Überhangmandate als solches anzugreifen.<br />

127


Wie in den Plenardebatten Ende 2012 von Regierungsvertretern mehrfach erwähnt wurde, hatte<br />

der fraktionsübergreifende Gesetzentwurf auch gar nicht den Anspruch, das negative Stimmgewicht<br />

vollständig zu beseitigen und an der Wurzel zu packen. So sagte Dr. Günter Krings<br />

(Fraktion von CDU/CSU), dass das negative Stimmgewicht im neuen Gesetzentwurf nur „weitestgehend,<br />

[...] wie das Verfassungsgericht es verlangt“ beseitigt wird und daher nur „eine<br />

Beseitigung der Überhangmandate in ihrer Wirkung“, nicht aber in ihrem Auftreten stattzufinden<br />

habe (Deutscher Bundestag 2012).<br />

Allerdings lässt sich feststellen, dass das negative Stimmgewicht in seiner üblichen Form,<br />

nämlich relative Verschiebungen von Stimmenanteilen bewirkend, beseitigt werden konnte.<br />

Überhangmandate existieren zwar auch im neusten Wahlrecht, die ungünstigen Verzerrungen,<br />

die sie zur Folge haben konnten, wurden aber ausgeglichen und sowohl Zweitstimmenproporz<br />

als auch die nie vollständig erreichbare Erfolgswertgleichheit wurden hergestellt.<br />

Das absolute negative Stimmgewicht, wie es im Rahmen des Ausgleichs noch vorkommen<br />

kann, hat zwar keine Auswirkungen auf die Mandatsanteile der Parteien und stellt somit nicht<br />

die Legitimation der Volksvertretung in Frage. Jedoch ist die Ursache dafür, nämlich die verschiedenen<br />

Berechnungsebenen, hausgemacht und ein Erbe der bisher getätigten Reformen.<br />

Man kann also zusammenfassen, dass, unabhängig von den Nebenwirkungen, das negative<br />

Stimmgewicht, wie es das Verfassungsgericht bemängelt hat, im neusten Wahlgesetz behoben<br />

wurde. Eine minimierte Form lebt auch im heutigen Gesetz noch weiter und wurde auf den<br />

Ausgleichsmechanismus verschoben.<br />

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1082.<br />

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Wiesbaden, aufgerufen am 09.08.2014.<br />

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Bundesverfassungsgericht (2008): Bundesverfassungsgerichturteil vom 3. Juli, 2 BvG 1/07,<br />

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Dehmel, Nils/Jesse, Eckhard (2013): Das neue Wahlgesetz zur Bundestagswahl 2013. Eine<br />

Reform der Reform der Reform ist unvermeidlich, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen<br />

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Deutscher Bundestag (2012): Plenarprotokoll 17/215 vom 14. Dezember, Berlin: 26.517.<br />

Fehndrich, Martin (1999): Paradoxien des Bundestags-Wahlsystems, in: Spektrum der Wissenschaft<br />

2/1999: 70-73.<br />

Grotz, Florian (2014): Happy End oder endloses Drama? Die Reform des Bundeswahlgesetzes,<br />

in: Jesse, Eckhard/Sturm, Roland (Hrsg.): Bilanz der Bundestagswahl 2013. Voraussetzungen,<br />

Ergebnisse, Folgen, Baden-Baden: 113-140.<br />

Schmidt, Manfred G. (2011): Das politische System Deutschlands, 2. überarb., akt. und erw.<br />

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Strohmeier, Gerd (2013): Kann man sich auf Karlsruhe verlassen? Eine kritische Bestandsaufnahme<br />

am Beispiel des Wahlrechts, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 44 (3): 629-644.<br />

Zivier, Ernst R. (2009): Risiken und Nebenwirkungen. Zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts<br />

vom 3. Juli 2008, in: Recht und Politik 45 (1): 41-48.<br />

129


Persönliche Stellungnahme des Autors<br />

Da ich Rechtswissenschaft im Nebenfach studiere, bin ich in vielen Punkten an der<br />

Schnittstelle zwischen Rechts- und Politikwissenschaft interessiert. Die Diskussionen<br />

um das Wahlrecht sind allerdings sehr politische und weniger juristische, weil es sich<br />

um Machtfragen handelt und davon im Endeffekt der Erfolg von Parteien abhängt.<br />

Deswegen ist die Auseinandersetzung in der Politikwissenschaft die erkenntnisreichere<br />

und hat mich dazu veranlasst entsprechend darüber zu schreiben.<br />

Bei diesem Thema bot sich eine hermeneutische Herangehensweise an. Also der Analyse<br />

der entsprechenden Wahlgesetze bzw. Gesetzesentwürfe auf der einen Seite und<br />

der zugehörigen Fachliteratur aus Rechts- und Politikwissenschaft auf der anderen<br />

Seite, um die Implikationen, die Überhangmandate und die Versuche, diese auszugleichen,<br />

auf die Zusammensetzung des Parlaments haben, zu erklären.<br />

Die zentrale Erkenntnis meiner Arbeit ist zum einen, dass es, wenn man alle möglichen<br />

Szenarien durchspielt, wohl nicht möglich sein wird, ein Wahlrecht zu formulieren,<br />

das gleichzeitig möglichst gerecht bzw. proportional und trotzdem einfach und für die<br />

Mehrheit verständlich ist. Zum anderen – wie jede als Verbesserung geplante Veränderung<br />

– bspw. der neue Ausgleich zu vorher nicht bedachten negativen Konsequenzen<br />

führen kann, wie der Aufblähung des Bundestages.<br />

130


Das Team der <strong>SFP</strong><br />

Herausgeber:<br />

Steve Biedermann, B.A.,<br />

5. Semester,<br />

M.A. Politikwissenschaft<br />

Florian Neugebauer, B.A.,<br />

4. Semester,<br />

M.A. Politikwissenschaft<br />

Joscha Oelgemöller,<br />

8. Semester,<br />

B.A. Politikwissenschaft<br />

Wissenschaftlicher Beirat<br />

der <strong>SFP</strong>:<br />

Jonas Ebel, M. A., wissenschaftlicher<br />

Mitarbeiter am Lehrstuhl für<br />

Internationale Beziehungen<br />

* Anordnung der Bilder von links nach rechts<br />

Wir bedanken uns herzlich bei allen,<br />

die bei der Verwirklichung der<br />

<strong>SFP</strong> mitwirken! Hierzu zählen besonders<br />

die Gutachterinnen und Gutachter,<br />

die Mitarbeiter des Instituts für<br />

Politikwissenschaft und natürlich<br />

auch Ihr, liebe Leserinnen und Leser.<br />

Wir hoffen, Ihr hattet eine anregende<br />

Lektüre. Falls Ihr Anmerkungen und/<br />

oder Kritik habt, nehmen wir diese<br />

gern jederzeit entgegen.<br />

Freundlichste Grüße<br />

Das Team der <strong>SFP</strong><br />

Kontakt<br />

E-mail: sfp.uni.jena@gmail.com<br />

Homepage: sfp-jena.de<br />

Facebook: facebook.com/<strong>SFP</strong>Jena<br />

© FSP Jena

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