Ein sonniger Morgen in Rom, Claudia Roth hat nicht gut geschlafen, sie hat lange an ihrem Statement gearbeitet, und dann ist sie noch einmal aufgewacht und hat noch einmal etwas verändert. Die vergangenen Monate waren hart. Sie sagt, dies sei politisch ihre schlimmste Zeit bisher.

Nun geht Roth durch die Gänge der Ardeatinischen Höhlen in Rom. Vor 80 Jahren wurden genau hier 335 Menschen von der SS erschossen. Zivilisten, Antifaschisten, Partisanen, Juden. Roth wird begleitet vom italienischen Kulturminister, einem Rechten, einem ehemaligen Mitglied einer neofaschistischen Jugendbewegung. Roth hatte zuvor überlegt, ob sie in ihrer Rede gleich die Antifaschisten explizit erwähnen sollte – wenn nicht, wäre das ein Akt gegen ihre eigene Überzeugung, gegen ihre Anhängerschaft, wenn doch, könnte sich der italienische Minister provoziert fühlen. So wirkt Roth im Augenblick oft, als fürchte sie ihre eigenen Worte. Sie entscheidet sich, die Antifaschisten zu nennen. Und es geschieht nichts.

Ein paar Tage zuvor bei der Eröffnung der Buchmesse im Leipziger Gewandhaus: Der Kanzler will mit seiner Rede beginnen und wird sogleich von propalästinensischen Aktivisten unterbrochen, eine Frau schreit vom Rang: "Es ist ein Genozid! Das Blut der Kinder in Gaza ist an Ihren Händen!" Darauf ruft noch jemand etwas, und noch jemand. Eine Zeit lang sieht es so aus, als würde Scholz gar nicht sprechen können. Das Ende jedes Dialogs. Die Störer werden hinausgeführt. Und Claudia Roth sitzt in der ersten Reihe. Sie sieht zu. Wie so oft.

Später beim Empfang wird Roth sagen, sie habe fast so etwas wie ein Déjà-vu gehabt. Wird man sie wieder fragen: Wieso ist sie nicht aufgestanden? Hat sie geklatscht und für wen und wie lange? So war es nach der Preisverleihung auf der Berlinale, wo sie in der ersten Reihe applaudierte, als einseitig Israel kritisiert wurde.

Aber diesmal steht Claudia Roth nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit. Im Gegenteil. Keiner der Redner hat sie, die Kulturstaatsministerin, begrüßt, weder der Kanzler noch der niederländische Ministerpräsident, nicht einmal der Leipziger Bürgermeister oder die Chefin des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels. Als gebe es die Kulturstaatsministerin nicht. Es wirkt, als sei es im Moment besser, sich nicht mit Claudia Roth in Verbindung zu bringen.

Eröffnung der Leipziger Buchmesse: Keiner der Redner begrüßt sie, die Kulturstaatsministerin

Was ist eigentlich los, wenn jemand wie sie – 68 Jahre alt, jahrzehntelanger Einsatz für Menschenrechte und Diversität, Parteivorsitz der Grünen, Bundestagsvizepräsidentin – in den Verdacht gerät, antisemitisch zu sein? Drei Ereignisse verfolgen Roth: eine Bundestagsresolution 2019 gegen die Israel-Boykottbewegung BDS, bei der sie nicht abgestimmt und eine Erklärung dagegen mitunterstützt hat. Dann die Documenta fifteen, auf der antisemitische Kunstwerke ausgestellt wurden. Und jetzt die Berlinale-Preisverleihung. Es sieht aus, als finde sie gerade nicht die richtigen Worte, treffe nicht den richtigen Ton.

Ein Dienstagabend Anfang März: Roth hat zu einem Treffen mit Künstlern ins Kanzleramt eingeladen. Viele der Gäste umarmt sie lang und innig. Wolfgang Schmidt, der Chef des Kanzleramts, hält eine Rede, die eigentlich Olaf Scholz halten sollte, über die Freiheit der Kunst. Danach gibt es eine Podiumsdiskussion. Dabei sprechen die Künstler auf der Bühne vor allem über die Unsichtbarkeit von Minderheiten. Das Gespräch wirkt wie aus der Zeit gefallen, die Kulturstaatsministerin steht unter Druck, und diese Veranstaltung hätte so auch auch vor dem 7. Oktober stattfinden können.