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Mein Kind – zwischen Entmutigung und Ermutigung

Mein Kind – zwischen Entmutigung und Ermutigung

Mein Kind – zwischen Entmutigung und Ermutigung

Ein veröffentlichter Beitrag ging der Frage nach, wann Eltern eine Erziehungsberatung aufsuchen und wie sie von diesen Angeboten profitieren. Das Ziel eines solchen Angebots ist einerseits, die Situation des Kindes zu verstehen und sein Verhalten einzuordnen. Im nächsten Schritt erarbeiten individualpsychologische Berater:innen und Eltern, gegebenenfalls mit dem Kind gemeinsam Lösungswege.

Heute wollen wir ganz konkret darüber sprechen, wie Erwachsene lernen, kindliches Verhalten zu verstehen. Dafür fragen wir uns, wie sich kindliches Verhalten formt und welche Ziele der Nachwuchs damit verfolgt. Denn Alfred Adler geht davon aus, dass jedes menschliche Verhalten ein Ziel hat. Wer das Ziel erkennt, kann das gezeigte Verhalten besser einordnen und in eine positive Richtung lenken.

Welche Ziele haben Kinder?

Kinder brauchen günstige Entwicklungsbedingungen. Die Grundlagen dafür lesen Sie hier:

Ich gehöre dazu.

Wie jeder Mensch braucht ein Kind das Gefühl der Verbundenheit und Zugehörigkeit, um sich wohl zu fühlen und weiterzuentwickeln. Die Kleinen suchen vor allem die Bindung zur Familie, zur Klassengemeinschaft und zu Gleichaltrigen in ihrer Umgebung.

Ich bin wichtig.

Dazu zählt auch, dass es in der jeweiligen Gruppe einen sicheren Platz hat, gebraucht wird und für die anderen Mitglieder wichtig ist. Um wichtig zu sein, muss es etwas zum Wohl der Gemeinschaft beitragen können.

Ich kann etwas erreichen.

Es kann sein, dass sich ein junger Mensch mit seiner Position innerhalb einer Gruppe nicht wohlfühlt und versucht, seine Situation zu verbessern.

Ich bin mutig und stark.

Um diese Ziele zu erreichen braucht das Kind Mut. Dieser Mut entsteht unter anderem durch Ermutigung aus seinem Umfeld. Das Kind darf erfahren, dass ihm die anderen zutrauen, einen wertvollen Beitrag zu leisten.

Welche Ziele haben Kinder?

Ziele nicht erreichbar? – mögliche Reaktionen des Kindes

Erreichen Kinder diese Ziele, die mit ihren Grundbedürfnissen und Fähigkeiten zusammenhängen nicht, sind folgende Reaktionen festzustellen:

  1. Mangel an Verbundenheit: Das Kind isoliert sich, wirkt gleichgültig, nimmt nicht an der Gemeinschaft teil. „Es ist egal, ob ich da bin oder nicht.“
  2. Mangel an Selbstwirksamkeit: Das Kind demonstriert Unfähigkeit, es stellt sich ungeschickt an. „Warum sollte ich mich anstrengen, es reicht sowieso nicht.“
  3. Mangel an Wichtigkeit, Möglichkeiten beizutragen: Das Kind fühlt sich überflüssig. „Ich bin unwichtig, niemand bemerkt, was ich tue.“
  4. Mangel an Mut: Das Kind traut sich nicht, seinen Beitrag zu leisten, fühlt sich minderwertig. „Ich bin wertlos, kann nicht genug beitragen.“

Ein weiterer, zentraler Aspekt: Kinder, die sich nicht zugehörig fühlen, fühlen sich meist auch nicht geliebt, sie fühlen ihren Platz nicht – sie sind entmutigt.

Aus dieser Entmutigung heraus versuchen sie, das Verlorene einzufordern. Dafür nutzen sie die sogenannten Nahziele. Diese Nahziele gelten als Indikator für das Ausmass der Entmutigung.

Entmutigung spiegelt sich im Verhalten

Theo Schoenaker und John Platt beschreiben in ihrem Buch Mit Kindern in Frieden leben einen bewährten und leicht verständlichen Ansatz. Sie stellen den unterschiedlichen Nahzielen vier Entmutigungsstufen gegenüber. Anhand dieser Übersicht können Sie, liebe Leserin, lieber Leser, den Grad der Entmutigung ablesen.

Entmutigungsstufe I: Besondere Aufmerksamkeit – ich muss beachtet werden.

Das Kind glaubt, dass es nur dann genug geliebt wird und dazu gehört, wenn es Aufmerksamkeit erhält. Kinder auf dieser Stufe versuchen, dieses Ziel durch folgende Strategien zu erreichen:

  • Sie treiben Unfug oder spielen den Clown.
  • Sie unterbrechen Gespräche und stellen sich in den Mittelpunkt.
  • Sie streben nach übermässigem Beifall.

Kurz gesagt: Sie nerven oder stören.

Für das Kind spielt es keine Rolle, ob der Erwachsene ihm geduldig Fragen beantwortet oder sich über das störende Verhalten beschwert. Der Nachwuchs hat sein Ziel erreicht und ist zufrieden.

Ein Beispiel: Geschwister ärgern

Anna weiss, dass ihre Tante, bei der sie und ihre Schwester Lilli viel Zeit verbringen, keine lauten Auseinandersetzungen ertragen kann. Sobald die Geschwister einen lauteren Ton anschlagen, versucht sie, die beiden zu beruhigen. Anna kennt die „roten Knöpfe“ ihrer Schwester. Sie muss Lilli nur wegen ihrer Sommersprossen hänseln, und schon ist ein Streit vom Zaun gebrochen. Die Tante eilt herbei, tröstet Lilli und erklärt Anna ausführlich, dass ihre Hänselei Lilli verletzt. Zur Beruhigung essen alle drei ein Stück Schokolade. – Aus Annas Perspektive führt ihr Verhalten stets zum Erfolg. Sie erhält Aufmerksamkeit und darüber hinaus noch Süssigkeiten.

Tipp für Eltern

Zeigen Sie Ihre negativen Gefühle nicht und schenken Sie dem Nachwuchs keine besondere Aufmerksamkeit, wenn sie eingefordert wird. Bevor Ihnen der sprichwörtliche Kragen platzt, verlassen Sie den Raum.

Gleichzeitig ist es wichtig zu wissen, dass sich Ihr Kind in einer inneren Notlage befindet. Schenken Sie ihm aktiv die nötige Aufmerksamkeit – in einem Moment, in dem Ihr Kind dies nicht erwartet. Sie können sich zum Beispiel zu ihm auf den Boden setzen, während es spielt oder sich für eine Zeichnung interessieren, an der es gerade arbeitet.

Erhält das Kind trotz seiner Versuche keine Aufmerksamkeit, fällt es auf die Entmutigungsstufe II.

Entmutigungsstufe II: Machtkampf – ich will gewinnen

Auf dieser Ebene der Entmutigung agiert das Kind nach dem Glauben: Ich fühle mich nur zugehörig und wichtig, wenn ich gewinne und tue was ich möchte. Der Nachwuchs sucht den Machtkampf, um seine Überlegenheit und Stärke zu beweisen.

Sie können diese Stufe an folgenden Verhaltensweisen erkennen:

  • Provokation
  • Trotz
  • Wutausbrüche
  • Rechthaberei
  • Trödelei
  • Chaos verursachen

Erfahrungsgemäss nehmen Eltern die Herausforderung an und steigen in den Machtkampf ein. Sie verbieten, drohen, befehlen – und fühlen sich dennoch in den meisten Fällen als Verlierer. Der Grund: Der oder die Kleine hat das Ziel in dem Moment erreicht, in dem die Erwachsenen die Fassung verlieren. Das Bedürfnis, sich bedeutsam und stark zu fühlen ist erfüllt.

Ein Beispiel:

Vater Leon möchte, dass seine Kinder sich freundlich verhalten und pflichtbewusst zeigen. Seine Tochter Sophie ignoriert diese Wünsche geflissentlich. Nachdem weder strenge Ansagen noch die Aussicht auf eine Belohnung fruchteten, gab Leon entnervt auf und erteilte Sophie Zimmerarrest. Und Sophie? Sie war zufrieden, denn ihr Vater schaffte es nicht, seine Erwartungen durchzusetzen.

Tipp für die Eltern:

Steigen Sie nicht in den Kampf ein, sondern erlauben Sie sich bei Bedarf eine Auszeit, um Ihre Gefühle zu beruhigen. Rufen Sie sich ins Gedächtnis, dass Ihr Kind aus einer Not heraus provoziert.

Wie könnte sich die Situation weiterentwickeln? Nach Ablauf des Zimmerarrests verstreichen einige Tage und der Konflikt entzündet sich an herumliegenden Schuhen und Schulsachen im Hauseingang. Leon verbietet seiner Tochter nun die bereits vereinbarte Übernachtung bei ihrer Freundin. Sophie reagiert frustriert. An Aufräumen ist nicht zu denken.

Das Kind hatte zuvor ihr Nahziel erreicht. Aufgrund der Sanktionen des Vaters, sieht sie sich jedoch immer weniger in der Lage, ihr wirkliches Ziel, die Zugehörigkeit, zu erreichen. Sie rutscht in die Entmutigungsstufe III.

Entmutigungsstufe III: Rache – ich will verletzen

Auf der Stufe III möchte das Kind Rache üben. Es folgt dem Gedanken: Ich wurde von dir, von euch verletzt und kann mich nur noch zugehörig fühlen, wenn ich euch ebenso verletze.

Diese Verhaltensweisen können daraus folgen:

  • absichtliche Blamage der Eltern
  • Zerstören von Gegenständen
  • Alle Aktionen, welche die besonderen Empfindsamkeiten der Eltern / des Elternteiles treffen wie Diebstahl, Lügen, Fluchen, Hausaufgaben nicht machen usw.

Verständlicherweise reagieren Eltern mit Wut und Fassungslosigkeit, sie möchten den Nachwuchs bestrafen – Schlagen, Schimpfen und Ablehnung sind häufige Folgen. Die negative Dynamik setzt sich fort. Das Kind erlebt Zugehörigkeit über die Rolle des Rächers.

Tipp für die Eltern

Reagieren Sie unerwartet: Statt die Kränkung zu offenbaren, zeigen Sie Ihrem Nachwuchs, dass er geliebt wird. Trotz allem. Es gibt einen Unterschied zwischen der Person und seinem Verhalten. Sie müssen die Handlungen nicht dulden, erklären jedoch dem Menschen dahinter, dass er liebenswert ist. Schliesslich handelt das Kind aus einer Not heraus.

Entmutigungsstufe IV: Rückzug und Resignation – ich gebe auf

Das Kind scheint zu denken: Ich habe keine Chance auf Zugehörigkeit. Seine Hoffnungslosigkeit drückt sich unter anderem so aus:

  • Lustlosigkeit
  • Desinteresse
  • Passivität
  • Rückzug
  • Selbstaufgabe

Eltern stellt dieses Verhalten vor eine grosse Herausforderung, es löst Hilflosigkeit und ihrerseits Entmutigung aus. „Ich weiss nicht mehr, was ich mit dir noch tun soll.“

Das Kind fühlt sich in seiner Wahrnehmung bestätigt. Es kapselt sich ein und fühlt sich zutiefst entmutigt.

Tipp für Eltern

Holen Sie sich Hilfe in einer psychosozialen Beratung. Zusammen mit ihrem Kind. Zeigen Sie ihm, dass sie es nicht aufgegeben haben.

Vielleicht hilft Ihnen dieser Gedanke: Als Eltern können Sie in jeder Situation dazu beitragen, dass sich Ihr Kind zu einer gesunden und starken Persönlichkeit entwickelt. Es kann den Weg aus der tiefen Entmutigung herausfinden. Schritt für Schritt. Darauf dürfen Sie vertrauen.

Starke Kinder: Werden Sie Ermutiger:in

Starke Kinder: Werden Sie Ermutiger:in

Die drei Ebenen der Ermutigung nach Alfred Adler zeigen unserer Erfahrung nach einen hilfreichen und wirksamen Weg aus der Entmutigung.

Ebene 1: Ermutigung durch Erfolg und Leistung

Aufrichtiges Lob – als Anerkennung einer Leistung, einer Fähigkeit, einer Handlung – macht Mut. Das Lob drückt aus, dass die Leistung wahrgenommen wurde, es hebt die Person, die sie vollbracht hat, hervor.

Mögliche Nebenwirkungen:

  • Rebellion gegen das Lob, wenn dahinter (zu) hohe Erwartungen der Eltern stecken.
  • Das Kind fühlt sich nur dann wertvoll, wenn seine Leistungen auch bemerkt werden.
  • Die Anerkennung durch andere wird zum Masstab – anstatt eines gesunden Selbstwerts.

Die drei Ebenen der Ermutigung nach Alfred Adler

Ebene 2: Ermutigung für das Bemühen und den Fortschritt

Ist ein Ziel noch nicht erreicht, aber das Kind bemüht sich um Erfolg, können die Eltern mit ermutigenden Worten darauf reagieren. Ein Beispiel: „Du bist schon fast alleine mit dem Fahrrad gefahren. Du kannst das Gleichgewicht immer besser halten.“

Die folgenden Beispielen möchten den Unterschied zwischen Lob (Erfolg und Leistung) und Ermutigung klarer darstellen.

→ Lob: Du hast ein wundervolles Bild gemalt.“

→ Ermutigung: Du hast Talent bei der Auswahl der Farben.“

→ Lob: „Du bist eine sehr gute Volleyballspielerin.“

→ Ermutigung: „Ich bin beeindruckt von deinem Ballgefühl bei der Angabe.“

Ebene 3: Existentielle Ermutigung

Existenzielle Ermutigungen signalisieren:

  • Ich glaube an dich.
  • Ich nehme dich an.
  • Du bist wertvoll, so wie du bist.

Meist drücken Menschen diese Ermutigung durch Gesten, Blicke oder Verhaltensweisen wie aufmerksames Zuhören aus.

Das Wichtigste: Ermutigen Sie Kinder und andere Menschen – unabhängig vom Alter. Jeder Mensch möchte seinen Anteil leisten, dazu gehören und sich wichtig und mutig fühlen. Kritik vergiftet das Miteinander, sie stört das Zugehörigkeitsgefühl und die Spirale der Entmutigung setzt ein.

Eine schöne Idee zum Schluss:

Gestalten Sie eine Ermutigungskarte für Ihren Nachwuchs und legen Sie diese an einen Ort, wo Ihr Kind sie findet. Damit setzten in ihm Energie frei, die Fortschritte ermöglicht. Schritte, die vorher nicht möglich waren. Alles Gute für Sie!

Sie möchten diese Beratungskompetenzen anwenden?

Sie möchten diese Beratungskompetenzen anwenden?

In der eigenen Familie? In der Ermutigung Ihrer Kinder? Sie wollen dabei Hilfestellung? Dann suchen Sie sich eine/n psychosozialen Berater:in auf der Basis der Individualpsychologie in Ihrer Nähe.

Oder Sie möchten dies selbst beruflich tun? In der 3-jährigen Ausbildung zum/zur Individualpsychologischen Berater:in lernen Sie u.a. das oben beschriebene Beratungssetting anwenden.

Wie entwickelt sich Beratungskompetenz? Beratungskompetenz entwickelt sich während der Ausbildung durch das Anwenden des Gelernten in 1:1 Gesprächen und Übungen. Die regelmässig durchgeführte Beratungswerkstatt zeigt Ihnen zudem wie ein Live-Beratungsgespräch geführt wird. Diese Beratungswerkstatt wird von Ruth Bärtschi oder der Ausbildungsgruppenleiterin durchgeführt, mit reellen Klienten zu deren persönlichen Fragestellungen. Im Anschluss wird das Beratungsgespräch in der Ausbildungsgruppe reflektiert. Ab dem 4. Semester haben Studierende sich so viel Beratungskompetenz, Fachwissen und Selbstreflektion angeeignet, dass erste Beratungsgespräche mit eigenen Klienten möglich sind. Die Akademie empfiehlt, wenn sie diesen Schritt wagen, regelmässige Gruppen-Supervisions-Stunden, so dass die eigenen Beratungsschritte reflektiert werden können durch professionelle Unterstützung. In dieser Phase entwickeln die Studierenden ihre eigene Beratungskompetenz durch Anwendung in der Praxis.

 

 

Autorin: Ruth Bärtschi, mehr als 25 Jahre Erfahrung in der individualpsychologischen Beratung und 15 Jahre Erfahrung in der Ausbildung. Als Ausbildungsleiterin bürge ich für eine fachlich fundierte und spannende Ausbildung in individualpsychologischer Beratung. Als Supervisorin begleite ich Sie gerne in Ihrem Beratungstraining.

Literaturhinweise:

Die Kunst, als Familie zu leben. Ein Erziehungsratgeber nach Rudolf Dreikurs

Autoren: Schoenaker Theo und Julitta / Platt John,

Die Kunst, als Familie zu leben.

Ein Erziehungsratgeber nach Rudolf Dreikurs

Eltern & Lehrer für eine erfolgreiche Schulzeit Ermutigung, Klassenrat, Hausaufgaben

Autoren: Schoenaker/Müller/Platt

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Kinder fordern uns heraus Der Klassiker der individualpsychologischen Erziehung

Autor: Rudolf Dreikurs

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